Aus Leserbriefen an die Redaktion

Nicht gewusst, aber geahnt
Zu jW vom 11.8.: »Aus Leserbriefen an die Redaktion«
Herzlichen Dank für die Leserbriefe von Claus Reis aus Schwabach und Roland Winkler aus Aue, die mir aus dem Herzen sprechen. Die Aufregung darüber, dass »alles teurer« wird, ist berechtigterweise groß. Ja, aber, Leute! Das ist er doch, der Kapitalismus, den 1990 ein Großteil der DDR-Bürger gewollt, gewählt und auch bekommen hat! Nun blicken viele entgeistert um sich: Nein, so haben sie es sich nicht gedacht. Sie hatten gehofft, in einer »sozialen Marktwirtschaft« leben zu können, schon klar.
Ich (fast 76) halte mir zugute, es zwar nicht gewusst, aber immerhin geahnt zu haben, was nach zwanzig oder dreißig Jahren Alleinherrschaft des Kapitalismus (d. h. ohne Systemkonkurrenz, die ihn mehr oder weniger im Zaume hielt) passieren würde. Daher hielt sich bei mir der Wiedervereinigungsjubel von 1990 in Grenzen. Und nun haben wir ihn, den Kapitalismus in Reinkultur, der »den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen« (Zitat: Jean Jaurès).
Als der Ostblock zusammenbrach und der NATO der Feind abhanden gekommen war: Wen hat die Möglichkeit eines dauerhaft drohenden Friedens am meisten erschreckt? Die Rüstungsindustrie!
Ja, der Westen hat gesiegt. Mir alten Frau sei es gestattet zu sagen: leider! Erinnern möchte ich aber an folgendes Zitat: »Ein langanhaltender Triumpf kann zur Trübung des kritischen Bewusstseins der Sieger führen. Genau das ist in der Geschichte des Westens geschehen« (Domenico Losurdo, 1941–2018, italienischer Professor der Philosophie und Publizist).
Schlimm, dass diese Bewusstseinsübung der Herrschenden immer wieder die Völker, d. h. die einfachen Menschen, ausbaden müssen. Nur leider sind diejenigen, die auch gerne ausbaden wollen (»Wir müssen die Bundeswehr stärken, unser Vaterland verteidigen!«), schon wieder in der Überzahl! Was sonst soll ich von der Nachricht halten, dass Pistorius der beliebteste Politiker sei?
Margitta Mattner, per E-Mail
»Unsere« Demokratie
Zu jW vom 14.8.: »Demokratie als Fessel«
Der Staatsumbau vollzieht sich langsam, aber stetig. Und konkret. Heinrich Hannover hat 1965 das Menetekel eines möglichen Horrorstaates in vielen Facetten ausgemalt. Damals hatte er, bezogen auf die Notstandsgesetze, davor gewarnt, dass »riesige, zum Teil erst zu schaffende Behörden und halbmilitärische Verbände mit praktisch unbegrenzten Vollmachten zur Inanspruchnahme des Staatsbürgers zu beleihen« sind. Wieder ist Hamburg an der Seite Bayerns mit der geplanten Regelanfrage aller Behördenbediensteten zum Vorreiter in Sachen Verlagerung von Legislative auf Exekutive geworden. Nachdem auch hier jeder Polizeibüttel unliebsame Demonstrant:innen in Gewahrsam nehmen kann, sollen nun Verfassungsschutzbeamte entscheiden, ob jemand dem Staate dienen darf oder nicht. Staatsumbau heißt in klaren Worten Machtverschiebung vom Parlament hinüber zur Staatsbürokratie. Galten seinerzeit schon die Zivilschutzgesetze als Folge der Notstandsvorsorge als Dosenöffner für Zwangsarbeit in »bedrohlichen Fällen« (Angriffskrieg einer ausländischen Macht), sollen nun die bürgerlichen Rechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt werden. Fazit: Wolfgang Abendroth sieht dadurch die »Freiheit der demokratischen Willensbildung des Bundesvolkes in Frage« gestellt (Abendroth, »Der totale Notstandsstaat«, S. 15). Wenn »alle diese halbmilitärischen Behördenhierarchien erst funktionieren und den Bürger vielfältig ergreifen (…), geht ein Stück Freiheitlichkeit und Demokratie verloren« (ebd.). Das muss mit allen Mitteln verhindert werden!
Heinrich Heine – als Kenner hamburgischer Geschichte und Politik – kann man im nachhinein dankbar sein, dass er diese Schwätzer »mit dem weiten Magen und dem großen Maule und mit dem Korporalstock, den er erst in Weihwasser taucht, ehe er damit zuschlägt«, entlarvt hat! Er beschwört darin Respekt, »unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion oder Lebensweise«. Das Recht und der Respekt einer eigenen politischen Meinung fehlt in Tschentschers Ansprache, oder es wurde »vergessen«, wie so vieles in Hamburg zu seiner und Scholzens Zeiten als Finanzverantwortlicher im Senat.
Manfred Pohlmann, Hamburg
Freundliche Jugend
Zu jW vom 13.8.: »›Diese Kontrolle gibt es für kein anderes Fach‹«
Ich bin Rentner und über 70. Es fiel mir anfangs schwer, Freundlichkeiten junger Menschen zu akzeptieren. Ich wollte nicht alt sein und bin es auch nicht – in meinen Augen. Im Zug bieten mir häufig junge Menschen einen Platz an, und »Danke!« sagen meine NachhilfeschülerInnen mehr als deutlich. Sie können das, und ihren Eltern ist es wichtig, dass sie das tun. Unter den täglichen Höflichkeiten sind Menschen mit Migrationshintergrund deutlich überrepräsentiert. Dabei bin ich mir bewusst, dass das Merkmal »Migrationshintergrund« nicht wissenschaftlich ist. Vor zwei Monaten waren vier Personen sehr freundlich zu uns: »Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten?« sagte eine junge Frau zu meiner Frau. Der junge Mann neben mir: »Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten?« Eine andere junge Frau neben ihm: »Wenn Ihre Frau mit mir tauscht, können Sie nebeneinander sitzen.« Akzeptiert! Zögerlich nahmen wir die Angebote eins bis drei an. Vierter und letzter Akt der Freundlichkeit. Ein junger Mann bietet mir an: »Darf ich Ihren Koffer ins Gepäcknetz heben?« Das war zuviel für mich. Nummer vier bekam einen Korb, und das halbe Abteil lachte. Wir dankten allen vieren. Bei drei dieser vier Personen sah ich Merkmale, die auf einen Migrationshintergrund hindeuteten. Die – ich bin hier so undeutlich wie CDU-Kultusminister Armin Schwarz mit dem »Wir« – brauchen keinen Werteunterricht. Aber Herrn Schwarz lege ich ein Antirassismustraining nahe. Das Phänomen »Rassismus« ist schon lange in Deutschland heimisch; es brauchte nicht importiert zu werden.
Herbert Kasper, Dieblich
Galten seinerzeit die Zivilschutzgesetze als Dosenöffner für Zwangsarbeit in »bedrohlichen Fällen«, sollen nun die bürgerlichen Rechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden.
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