Aufarbeitung mit Kalkül
Von Bernard Schmid
Heutzutage gilt schon ein Aussprechen einfacher Wahrheiten als nahezu revolutionär. In einem Brief an seinen Amtskollegen in Yaoundé, Paul Biya, den französische Medien am Dienstag publizierten, hat Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron die brutale koloniale Gewalt seines Landes in Kamerun in Ansätzen anerkannt. Er sprach davon, Frankreich habe »verschiedene Formen repressiver Gewalt ausgeübt«, und einen »Krieg« vor und nach der Unabhängigkeit Kameruns (1960) geführt. »Es kommt mir heute zu, die Rolle und die Verantwortung Frankreichs bei diesen Ereignissen anzuerkennen«, schrieb Macron.
Der Präsident der ehemaligen Kolonialmacht hatte bereits 2017 und 2021 versucht, Teile der historischen Wahrheit betreffend die französische Verantwortung im Algerienkrieg sowie beim Genozid in Ruanda im Jahr 1994 anzuerkennen, um die Kritik am französischen Post- und Neokolonialismus zu entschärfen. Bei seiner jüngsten Stellungnahme stützte Macron sich auf die Arbeit einer französisch-kamerunischen Historikerkommission, die im Januar eingesetzt worden war und einen über 1.000seitigen Bericht abgeliefert hat. Darin ist – deutlicher als bei Macron – von »Einsatz der Folter, Massenfestnahmen, präventiven Verhaftungen, Razzien, Zwangsumsiedlungen« die Rede. Und selbst diese Worte sind noch schwach im Vergleich zu dem, was im Zeitraum von 1956 bis noch 1971 geschah – also auch lange, nachdem Frankreich Kamerun offiziell in die Unabhängigkeit entlassen hatte. Der Kolonialstaat bekämpfte dabei die Union der Völker Kameruns (UPC). Die in der Bevölkerung gut verankerte Unabhängigkeitsbewegung wurde unter anderem mit Napalmbombardierungen und der Ermordung der führenden Köpfe selbst in Paris und Genf niedergerungen. 1971 war sie aufgerieben. Die Opferbilanz: bis zu 300.000 Menschenleben.
Doch in den Augen der konservativen und reaktionären französischen Leitmedien waren selbst Macrons dürre Worte noch zuviel. So fragt der Journalist Mickael Dorian bei dem französischen Hörfunksender Europe 1: »Brief von Emmanuel Macron an Kamerun: Ist Frankreich wieder einmal reumütig?« Dorian wählte dabei mit dem Wort »contrition« ein Synonym für die Vokabel »repentance«, mit der die Regierungsrechte unter dem damaligen Innenminister und späteren Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy vor nunmehr zwanzig Jahren eine heftige Kampagne gegen »nationalen Masochismus« und gegen jegliche Anerkennung von Kolonialverbrechen betrieben hatte. Das Gesetz vom 23. Februar 2005, das Lehrkräfte zum Unterrichten der »positiven Aspekte der Kolonisierung« verpflichten sollte, das aber infolge von heftigen Protesten auf den französischen Antillen beträchtlich entschärft werden musste, war eine Folge davon.
Eine völlig andere Kritik trug Thomas Deltombe vor. Der 45jährige ist Koautor zweier bahnbrechender Bücher über den französischen Kolonialkrieg in Kamerun von 2011 und 2016, verfasst zusammen mit Manuel Domergue und Jacob Tatsitsa. Am Freitag nahm Deltombe in Le Monde zu Macrons Äußerungen Stellung. »Emmanuel Macron bleibt hinter dem zurück, was man erwarten konnte«, fasst die Überschrift seine Position zusammen. Der Autor kritisiert nicht nur, dass Macrons Wortwahl das Ausmaß der Massaker nur annähernd erahnen lässt, sondern auch den Adressaten des Briefs: »Der französische Staat lässt mitten im Sommerloch einen Brief durchsickern, den Macron persönlich an Paul Biya richtete – den Erben genau derer, (…) die Komplizen bei der Zerschlagung der demokratischen Nationalbewegung in Kamerun waren.«
Die Republik Kamerun hat seit ihrer formalen Unabhängigkeit im Jahr 1960 erst insgesamt zwei Staatspräsidenten erlebt: Ahmadou Ahidjo (bis 1982) und im Anschluss dessen vormaligen Generalsekretär im Präsidentenpalast und Nachfolger, Paul Biya. Er ist seit 43 Jahren – bis heute – an der Macht. Beide gehörten zur Koalition jener durch Frankreich unterstützten Kräfte – darunter Grundbesitzer und der katholische Klerus –, die die UPC auf Grundlage eines primitiven Antikommunismus bekämpften.
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