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Falsche Konjunkturdaten

Zu Lust und Risiken des Kapitalverkehrs
Von Lucas Zeise
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Das Statistische Bundesamt teilte am 30. Juli mit: »Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im zweiten Quartal 2025 gegenüber dem 1. Quartal 2025 – preis-, saison- und kalenderbereinigt – um 0,1 Prozent gesunken.« Das zunächst auf plus 0,4 Prozent geschätzte Wachstum des ersten Quartals – auch gegenüber dem Vorquartal – wurde auf nur noch plus 0,3 Prozent revidiert. Müssen einen derartige Details über die konjunkturelle Entwicklung des Landes interessieren? Eigentlich nicht. Zumal beide Zahlen zum gewöhnlichen Bild der wirtschaftlichen Lage passen: Stagnation seit mindestens drei Jahren. Seit dem Ende der Ampelregierung hatte man sich auch angewöhnt, für die Vergangenheit das Wort Rezession in den Mund zu nehmen. Das Bundesamt hatte für das Jahr 2023 eine Schrumpfung des BIP von 0,3 Prozent und für 2024 von 0,2 Prozent berechnet.

Die Pressemitteilung der offiziellen Statistiker von Ende Juli aber hatte noch mehr zu sagen als nur harmlose Quartalszahlen: Sie hatten die Berechnungen des BIP der vergangenen Jahre und damit auch die jährlichen Wachstumsraten zum Teil erheblich revidiert. Aus der Stagnation der beiden vergangenen Jahre 2023 und 2024 von lediglich minus 0,3 und minus 0,2 Prozent wurde eine einschneidende Rezession von minus 0,9 und minus 0,5 Prozent. Nur einmal zuvor hatte es in der Geschichte der Bundesrepublik Rezessionen von zwei Jahren negativer BIP-Entwicklung gegeben. Das war 2002/03, als das gemessene BIP um 0,2 und 0,7 Prozent geschrumpft war (und die damalige rot-grüne Regierung zu ihrer verheerenden Lohnkürzungs-»Agenda 2010« veranlasste).

Die krasse Veränderung der eigenen Daten wurde von der Statistikbehörde nicht weiter kommentiert, geschweige denn erklärt. Schlimmer noch, Fernsehen und Presse berichteten spärlich. Die Wirtschaftsforschungsinstitute, mit wenigen Ausnahmen vom Kapital und der Regierung finanziert, nahmen die drastisch veränderte Datenlage einfach hin. Nur Heiner Flassbeck, unter Oskar Lafontaine sechs Monate lang Staatssekretär im Finanzministerium, danach Chefvolkswirt bei der UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) und davor der Konjunkturfachmann beim DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung), fragte öffentlich nach den Gründen für die umfangreiche Korrektur. Er vermutet, dass das Amt drei Jahre lang vermeiden wollte, zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem BIP-Wachstum zu präsentieren. Denn zwei Schrumpfquartale in Folge kann oder soll man nach einer überlieferten Regel als »Rezession« bezeichnen. Mit anderen Worten, es handele sich – aus welchen Motiven auch immer – um Schönfärberei.

Flassbecks Empörung ist berechtigt. Ohne halbwegs zuverlässige Daten ist eine halbwegs vernünftige Wirtschaftspolitik, selbst wenn man sie wollte, nicht möglich. An diesem Willen aber ist zu zweifeln. Selbst wenn die Öffentlichkeit und die Ampelregierung im Frühjahr 2023 reelle Daten über den Ende 2022 beginnenden Abschwung erhalten hätten, wäre weder ein Konjunkturprogramm noch gar ein Ende des verrückten, preistreibenden Gas- und Ölboykotts erfolgt. Sollte das Statistische Bundesamt sich ab jetzt bequemen, eine Fortsetzung der Rezession zu konstatieren, kann man leider auch sicher sein, dass die seit 100 Tagen amtierende Regierung keinen Anlass sieht, die reichlichen Mittel, die sie sich genehmigt hat, für ein schnell wirkendes Konjunkturprogramm einzusetzen.

Unser Autor ist Finanzjournalist und Publizist. Er lebt in Aachen.

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