Zeugen beseitigt
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
Spät am Sonntag abend verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer: Die israelische Armee hat Anas Al-Scharif, einen Mitarbeiter des katarischen Senders Al-Dschasira, getötet. Mit ihm starben sein Kollege Mohammed Kreika, die Kameramänner Ibrahim Saher und Mohammed Nufal sowie Mohammed Al-Khalidi, ein freischaffender Bildberichterstatter, der mit ihnen im Zelt vor dem Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt schlief. Der Hintergrund ist klar: Israels Regierung versucht mit allen Mitteln, freie Presseberichterstattung aus dem Gazastreifen zu verhindern. Kein internationaler Journalist darf nach Gaza einreisen.
Für palästinensische Journalisten, allen voran Mitarbeiter des Satellitensenders Al-Dschasira, ist die Situation noch deutlich dramatischer – sie werden systematisch umgebracht. Der Bericht des Watson-Institutes an der US-amerikanischen Brown University vom April 2025 gibt die Lage in nüchternen Zahlen wieder: Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 26. März 2025 – das ist die Periode, die der Bericht abdeckt – wurden in Gaza 232 Journalisten getötet, monatlich im Durchschnitt 13. Im Bericht wird diese erschreckende Bilanz international verglichen: Vom Bürgerkrieg in den USA im 19. Jahrhundert über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, den Korea- und den Vietnamkrieg, die Kriege in und um Jugoslawien bis zu Afghanistan wurden insgesamt weniger Journalisten getötet als in den Monaten seit Oktober 2023 in Gaza.
Israel geht seit spätestens vergangenem Jahr hart gegen Al-Dschasira vor. Im April 2024 verabschiedete die israelische Knesset ein Gesetz zum Verbot ausländischer Medien, die als schädlich für die Sicherheit Israels angesehen werden. Netanjahu nannte Al-Dschasira damals einen »terroristischen Kanal«, dem Sender wurde die Erlaubnis entzogen, aus Israel zu senden.
Auch am Tag nach dem Mord an den Al-Dschasira-Journalisten bleibt die israelische Armee bei ihrer Version: Der getötete Journalist Al-Scharif wurde als »Hamas-Terrorist« verleumdet. Der katarische Sender hat Vorwürfe, seine Mitarbeiter seien Aktivisten der Hamas, von Anfang an kategorisch als erfunden zurückgewiesen. Auch Irene Khan, Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit im Amt des Hohen UN-Kommissars für Menschenrechte, betonte, dass es keine Beweise für entsprechende Vorwürfe gegen Anas Al-Scharif gebe.
Scharif wurde 1996 im Flüchtlingslager Dschabalija im Norden Gazas, inzwischen vollständig dem Erdboden gleichgemacht, geboren. Er studierte Journalismus an der Azhar-Universität in Gaza, die eng mit der palästinensischen Fatah-Regierung in Ramallah assoziiert war. Ehe er zu Al-Dschasira stieß, arbeitete er bei Reuters. Anas ist nicht der erste Al-Dschasira-Journalist, der in Palästina getötet wurde. In Gaza wurde die Familie des altgedienten Al-Dschasira-Korrespondenten Wael Al-Dahduh gezielt attackiert: Sowohl seine Frau Amina als auch sein 15jähriger Sohn Mahmud und die siebenjährige Tochter Scham wurden getötet. Danach griff die Luftwaffe Al-Dahduh direkt an. Er wurde verletzt, sein Kameramann Samer Abu Dakka starb. Schließlich wurde sein ältester Sohn Hamsa mit seinem Kameramann gezielt getötet, sprich: ermordet.
Anas Al-Scharif hatte schon vor seinem Tod sein Vermächtnis aufgezeichnet: »Diese Worte erreichen euch erst, nachdem Israel mich getötet und meine Stimme ausgelöscht hat. Es war immer mein Ziel, die Wahrheit klar und deutlich und ohne jegliche Verfälschung weiterzugeben. Ich habe alles getan, um die Stimme meines Volkes zu sein …«
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