Die Epoche als Künstlerleben
Von Hanns-Werner Heister
Irrationalistische künstlerische und ideologische Strömungen seit dem Wilhelminischen Reich kritisiert Thomas Mann in seinem Roman »Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde«. Seine aufgefächerte Kritik gilt dem politisch reaktionären Ästhetizismus des Typs Stefan George und der vordergründig unpolitischen Avantgarde des Typs Schönberg, die, obwohl technisch avanciert, irrationalistische Hintergründe hat; eher am Rand dem Typ italienischer Futurismus mit offener Verbindung zum Faschismus.
Einschläferung der Vernunft
Mann schrieb den Roman zwischen dem 23. Mai 1943 und dem 29. Januar 1947 im US-Exil, in Pacific Palisades bei Hollywood. Damit begonnen hatte er bald nach der Vollendung seines umfangreichen Romans »Joseph und seine Brüder« (1933/1943), im Kern eine ins Mythisch-Biblische projizierte Feier des bürgerlich-demokratischen »New Deal« in den USA. Mit »Lotte in Weimar« (1939) hatte er Goethe – wie er ein Repräsentant des Besten der deutschen Kultur – mit ins antinazistische Spiel gebracht und damit implizit auch die Faust-Thematik. Manns Kritik schließt Selbstkritik ein. Mit seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« von 1918, noch vor Kriegsende erschienen, reaktivierte er nochmals verspätet Gegensätze wie den von deutscher Kultur versus westlicher, vor allem französisch-britischer »Zivilisation«. Bei diesem »Gedankendienst mit der Waffe« verstieg er sich zu heute wieder unangenehm gegenwärtigen Phrasen wie der vom Krieg als dem »großen Mittel gegen die rationalistische Zersetzung der Nationalkultur«; die »humanitäre«, pazifistische »Humanität« sollte verwandelt werden in eine scheinbar tiefere, die Kriegsbereitschaft und -tüchtigkeit bejahende »Menschlichkeit«. Danach jedoch kam seine Wende, und er bejahte die bürgerliche Demokratie der Weimarer Republik. Im Roman »Der Zauberberg« (1924) diskutierte er konservative und progressive, irrationalistische und rationalistische Positionen, bei aller immer noch spürbaren Ambivalenz doch mit einer Neigung zum (bürgerlichen) Humanismus.
Es gab also einiges aufzuarbeiten. Mann nannte den »Faustus« sogar seine »Lebensbeichte« und meinte, es werde sein »Parsifal«, also sein letztes größeres Werk. Tatsächlich folgten, abgesehen von Vorträgen und Essays, nur mehr der skurrile und – für Mannsche Dimensionen – kurze, auf eine feudal-christliche Legende bezogene »Der Erwählte« (1951). Der öfter zur Wiederaufnahme vorgesehene Roman »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« (1922/1937/1954) blieb Fragment. Die List der antimilitaristischen Vernunft, mit der sich Krull dem Kriegsdienst entzieht, könnte demnächst eine lehrreiche Lektüre werden.
Manns »Faustus« ist von der Motivation her und im Kern eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus, vor allem mit dessen ideologischen und künstlerischen Wegbereitern. Mann gestaltet für diesen Zweck eine überwältigende Fülle von Material über den Gegensatz, aber auch die Verschränkung von Rationalem und Irrationalem, von Vernünftigem und Wahnhaftem zu einer multidimensionalen und multiperspektivischen Einheit von Verschiedenem. Seine umfassende, weit ausgreifende Lektüre von antiken Autoren bis zu aktuellen Tageszeitungsartikeln dient einer gründlichen, fundierten Welterkenntnis samt komischen, satirischen, grotesken Elementen, die einen gewissen Kontrapunkt zur Tragik der finsteren Haupthandlung bieten, dem, so Thomas Mann, »Roman meiner Epoche, verkleidet in die Geschichte eines hochprekären und sündigen Künstlerlebens«.
Eine Radierung von Goya illustriert etwas von dieser Dialektik. Der Titel »El sueño de la razón produce monstruos« ist sprachlich doppeldeutig, aber sachlich eindeutig, wie Goyas politische Grundhaltung und sein Werk belegen: Sueño kann »Traum« oder »Schlaf« bedeuten. Der Aufklärer Goya meint, dass die Unaufmerksamkeit oder Inaktivität der Vernunft alptraumhafte Ungeheuer erzeuge. Irrationalistische modernistische und postmodernistische Deutungen verdrehen das dahingehend, dass Ungeheuer der Traum der Vernunft seien. Die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno – der Mann beim »Faustus« zuarbeitete – geht auch in diese Richtung. Schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte habe mit der Naturbeherrschung eine »instrumentelle Vernunft« zur Menschenbeherrschung geführt – »Lebensphilosophie« statt dialektischer Materialismus. Denn obwohl nicht explizit ausgesprochen, läuft es doch darauf hinaus, dass letztlich die Aufklärung für den Faschismus verantwortlich war.
Thomas Mann war entschieden anderer Ansicht und wandte sich auch mit der Metapher vom faustischen »Teufelspakt« zwischen Leverkühn und der kalten oder hitzigen Avantgardekunst, zwischen Deutschland und dem Nazismus, gegen die Widervernunft und den realen wie ideologischen Antihumanismus. Zum 25. August 1940, anlässlich der Beerdigung von Adrian Leverkühn, lässt er den von ihm als Erzähler der Lebensgeschichte eingebauten Serenus Zeitblom schreiben: »Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelte dazumal auf der Höhe wüster Triumphe, im Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des einen Vertrages, den es zu halten gesonnen war, und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte.« Derzeit ist die Bundesrepublik Deutschland von jenen »wüsten Triumphen« noch um einiges entfernt, auch wenn Herrschende und Regierende sie bereits erhoffen und vorzubereiten beginnen.
Der Humanist Zeitblom, Jugendfreund Leverkühns, diente Mann zur Distanzierung vom Schrecken und zur »Durchheiterung« desselben sowie zur Verstärkung der »Polyphonie« (Thomas Mann), der Mehrstimmigkeit und vermehrten Perspektiven des Werks. Und er brachte damit eine Selbstironie mit hinein, die wiederum seine eigene Ähnlichkeit mit dem problematischen Modernisten mildert: »Zeitblom ist eine Parodie meiner selbst. In Adrians Lebensstimmung ist mehr von meiner eigenen, als man glauben sollte – und glauben soll.«
Suche nach den Wurzeln
Als Faschismustheorie wäre der »Faustus« etwas dürftig, da Thomas Mann eben vor allem die kulturhistorischen und geistesgeschichtlichen Wurzeln des Nazismus aufdeckt. Zur romanhaften Recherche nach den Wurzeln des »bösen« Deutschland geht Thomas Mann weit in die Geschichte zurück. Nicht zuletzt über Wagners »Meistersinger«, die im Nürnberg mit Hans Sachs situiert sind, kommt er auf Vertreter des »Altdeutschen« in Renaissance und Reformation, besonders Luther, aber auch auf den Bauernkrieg, über den sich Thomas Mann ebenfalls informierte, und auf Albrecht Dürer, dessen deutschnationale Vereinnahmung seit dem späteren 19. Jahrhundert er ablehnte. Ein Leitmotiv sind Werke von Dürer wie »Ritter, Tod und Teufel« oder »Melencolia«. Beide passen auch vom Sujet her perfekt zu seinem Thema. Und Dürers großangelegtes Holzschnittbuch »Apokalypse« verarbeitet Leverkühn zu dem Oratorium »Apocalipsis cum figuris«. Die Nazizeit wie der Zweite Weltkrieg und schon der Erste, als Vorspiel die Völkermorde im Kolonialismus, lassen sich durchaus als apokalyptisch empfinden. Dürers »Melencolia I« repräsentiert eine vielgestaltige und gedankenreiche Verschränkung von Rationalem und Nichtrationalem, von Hang zur genialen Depressivität und Produktivität.
Das Zahlenquadrat im Bild, ein sogenanntes magisches Quadrat, ist wie andere dieser Art, etwa das spätantike Buchstabenquadrat SATOR AREPO OPERA TENET ROTAS, eine der Anregungen auch für Schönbergs und Weberns Zwölftontechnik. Die Summenzahl 34 ist eine Zahl in der Fibonacci-Reihe und eine Markoff-Zahl. Hier wichtiger ist vielleicht, dass 34 das Palindrom, die Umkehrung von 43 ist, dem Jahr also, in dem Mann mit dem Schreiben des »Faustus« begann. Die »Melancholie«-Figur wie zahlreiche Gegenstände im Bild verweisen auf Wissenschaft, aber auch auf den Zusammenhang mit Astrologie und anderen Irrationalismen, obwohl das Quadrat selbst mathematisch an sich überschaubar und völlig rational ist.
Das »Altdeutsche« von Luther, dem Faust-Volksbuch von 1587 oder von Grimmelshausens »Simplicissimus« aus der Zeit des 30jährigen Kriegs, eines Tiefpunkts der deutschen Geschichte, gab dem »Faustus« eine teils hervorgehobene, teils eingeschmolzene eigentümliche zusätzliche Sprachschicht. Adrian Leverkühn übernahm sie für sich, je stärker sich seine Krankheit ausprägte. Und Mann verknüpfte diese Zeit vermittels des Teufelspakts mit seiner eigenen Frühzeit.
Die Dekadenz des Fin de siècle am Ende des 19. Jahrhunderts verdichtet sich im Motiv der Krankheit, ein Leitmotiv bei Thomas Mann. Vorbilder für Leverkühn sind unter anderem Friedrich Nietzsche und Hugo Wolf. Beide waren an Syphilis erkrankt und starben in geistiger Umnachtung. Das christliche Motiv des Teufelspakts verknüpft Mann mit dem romantischen der Enthemmung und Entfesselung der Kreativität durch die Syphilis – wissenschaftlich gesehen schlichter Unsinn, wie selbstverständlich auch der buchstäblich genommene Pakt mit dem Teufel. Dieser gewährt Genie, bis es beim Ablauf der Frist in Wahnsinn umschlägt.
Mitautor Adorno
Thomas Manns musikalischer Horizont hatte bei Wagner plus Wolf und gerade noch Hans Pfitzner und am Rande Debussy seine Grenze. Er ließ sich beraten von Igor Strawinski, Arnold Schönberg und Hanns Eisler, die ebenfalls im Hollywood-Exil lebten. Aber wie Dante Vergil, so suchte Mann einen ständigen Begleiter durch die Avantgardemusik im Inferno des Ersten Weltkriegs, seit 1900 und nach 1918. Der Philosoph Theodor W. Adorno, in Hollywood als Exilant, stand dafür bereitwillig zur Verfügung.
Mann schätzte bei der asymmetrischen Koautorschaft zunächst Adorno als Mitarbeiter am »Faustus«-Projekt überaus hoch. Nach Vollendung des Werks freilich ärgerte es Mann und seine Familie, dass Adorno seine Mitautorschaft am »Faustus« auch öffentlich gewürdigt haben wollte. Nachträglich meint Mann zum Beispiel in einem Brief 1951: »Mit der ›Entstehung‹ habe ich einen recht starken Scheinwerfer auf ihn gerichtet, in dessen Licht er sich in nicht ganz angenehmer Weise bläht, so daß es bei ihm nachgerade ein wenig so herauskommt, als habe eigentlich er den ›Faustus‹ geschrieben.« Nicht ohne Ranküne hatte sich Mann bereits am 7. Februar 1948 im Tagebuch über Adornos »Bewußtsein der musikalischen Teilhaberschaft« mokiert.

Manns Haltung ist freilich nicht völlig berechtigt. Denn tatsächlich ist Adorno für nicht unwesentliche Passagen, vor allem die Beethoven-Sonaten bei Wendelin Kretzschmar oder die »modernen« Werke Adrian Leverkühns, mitverantwortlich. Diese Mitautorschaft (als Begriff von dem Literaturwissenschaftler Manfred Naumann entfaltet) gehört als personell-subjektive Produzentenseite mit zur Technik der Montage – mittels derer Mann, wie schon der Stummfilm, Ives, Heartfield usw., das Vorgefundene und zitathaft Hineingenommene stets mehr oder minder eingreifend einrichtet, umformuliert, sich aneignet. Manchmal klingt es fast, als wäre es darum gegangen, mögliche Honorar- oder Tantiemenforderungen Adornos zu vermeiden.
Manns Einmontieren fremden, vorfabrizierten Materials und dessen Ergänzung durch Adorno war unter anderem schon bei Mahler eine zentrale Technik. Dieser aber kommt nur knapp als Liederkomponist vor. Offenkundig – in der Sache, nicht im Bewusstsein der beiden Autoren – ist die Parallele zu Charles Ives (1874–1954) wie zu Joyce. Diesen nahm Mann ja durchaus zur Kenntnis, jenen wahrscheinlich überhaupt nicht, obwohl Ives, der musikalische Montage- und Zitatkomponist der klassischen Moderne, immerhin Zeitgenosse und später US-Mitbürger Manns, wie dieser die Montagetechnik im Vergleich zu Mahler erheblich radikalisiert hat. Auch der linke Romanautor John Dos Passos kommt mit seiner hochrangigen Montagekunst nicht vor. Adorno war an US-amerikanischer Musik ebenfalls wenig interessiert. Er verfährt seinerseits bereits montierend bei der Ausführung der imaginären Werke. Als »Realitäts«-Elemente dienen hier Merkmale existierender Musikstücke. So nimmt er für Leverkühns fiktionales Violinkonzert Elemente aus Alban Bergs realem und kombiniert das mit Elementen aus Bergs »Lyrischer Suite«. Leverkühns »Leitakkord« enthält die Ganztonfolge c – d – e – fis. Sie verweist ebenfalls auf das wirkliche Violinkonzert Bergs – die viertönige Ganztonfolge am Schluss der Zwölftonreihe entspricht dem Beginn des von Berg zitierten Bach-Chorals »Es ist genug«. Leverkühns »Ensemblemusik für drei Streicher, drei Bläser und Klavier« verweist durch die vergleichbare Besetzung auf Bergs »Kammerkonzert« und überdies auch die »Lyrische Suite«. Der »wie im Delirium geflüsterte Prestoteil« bei Leverkühn paraphrasiert Titel, Tonfall und Gehalt des ersten Teils des V. Satzes: »Presto delirando«.
Schönberg beschwerte sich, dass es bei seiner Zwölftontechnik nicht mit dem Teufel zugehe, wollte aber zugleich seine Urheberschaft betont wissen. Um den beleidigten Mitexilanten zu besänftigen, versicherte Mann in einer Art Copyright-Erklärung, das »geistige Eigentum« an der Reihentechnik liege bei Schönberg – so als Schlussanmerkung für die deutsche Ausgabe des »Faustus« 1948. Die spezifische Fiktionalität des Romans generell wie speziell der Zwölftontechnik darin hat Schönberg ziemlich banausisch übersehen – borniert gegen Literatur als Kunst.
Manns »Partituren«
Im Zusammenhang mit Mann generell und speziell der Leitmotivtechnik wird allzeit Wagner zitiert. Dieser verdankt seine Leitmotive seinerseits mindestens ebensosehr der Literatur, speziell der Romantechnik, wie der Musik. Wichtig für die Konstruktion der Kunstwerke wie des Selbstbilds Manns ist aber fast ebenso der weniger zitierte Ibsen, wie die Literaturwissenschaftlerin Leonie Marx zu Recht betont. Bereits Ibsens fast mehr noch als Wagners Leitmotivtechnik arbeitet der Tendenz vor, dass es schon vor dem Übergang zur Zwölftontechnik und in dieser nochmals radikalisiert und damit auch bei Leverkühn – und bei Mann selber – »nichts Unthematisches mehr« gibt. Marx verweist auf Mann, der selbst ausdrücklich Ibsen wie Wagner als praktisch gleichrangige frühe Einflüsse nennt, samt ihrer »Teufelsartistik« – »nordische Magier, schlimm verschmitzte alte Hexenmeister waren sie beide«. Und dann kommt die identifikatorische Volte, wenn Mann beide als »Musiker« bezeichnet, auch Ibsen, »obschon nur heimlicher-, geistigerweise und hinter dem Wort« – eben das, was er insgeheim oder auch nicht so geheim selber sein wollte. Das noch gar nicht geschriebene Kammermusikwerk Leverkühns im »Faustus« zielt auf ein umgekehrtes Ineinander von Literatur und Musik. Adrian sagt, »ich habe keine Sonate komponieren wollen, sondern einen Roman«. Adorno spiegelt nun mit dieser Formulierung etwas von Manns Selbstbild zurück – eben das ersehnte Musikertum des Schriftstellers: »Gute Partituren waren sie immer«, meinte Mann über seine »Kunstarbeiten«.
Die Leitmotivtechnik wiederum stellen Marx und andere in den Zusammenhang von »Kaleidoskop« und »Polyperspektivik«. Das erscheint alles als Versuch zu einem tieferen, intensiveren, vielgestaltigen Realismus. Brecht hätte also als Beispiel für »Weite und Vielfalt des Realismus« durchaus auch Mann anführen können , hätte er nicht prinzipielle Vorurteile gegen Mann gehabt. Der wiederum sagte über Brecht, er sei ein »Scheusal, aber ein begabtes«.
Ohne Hunger und Angst
Beim Finale von »Doktor Fausti Weheklag«, dem letzten Hauptwerk Leverkühns, hatte Adorno eine in die Substanz des Gesagten (und nicht nur in einzelne Formulierungen) eingreifende, für das Werk im Werk und dieses selbst wohl eher paradox positive Rolle, indem er, gewissermaßen gewohnheitsmäßig, das Negative hervorkehrte. Dazu Mann: »Ich war zu optimistisch, zu gutmütig und direkt gewesen, hatte zuviel Licht angezündet.« Aus Adornos Sicht stellte sich vor allem »die Frage nach dem Schluss, dem instrumentalen Nachspiel, in das unmerklich der Chorsatz übergeht. (…) (E)ines schönen Nachmittags las mir der Dichter den Text vor. (…)Gegenüber der Gesamtanlage von ›Doktor Fausti Weheklag‹ nicht nur sondern des ganzen Romans fand ich die höchst belasteten Seiten zu positiv, zu ungebrochen theologisch. Ihnen schien abzugehen, was in der entscheidenden Passage gefordert war, die Gewalt bestimmter Negation als der einzig erlaubten Chiffre des Anderen.« Thomas Mann nahm die Kritik auf und änderte seinen Text entsprechend.
Am Ende des 66. Kapitels – was an die Teufelszahl erinnert – schreibt Zeitblom in Manns Namen, und beweist die evokative Kraft seiner Sprache: »(M)it der sprechenden Unausgesprochenheit, welche nur der Musik gegeben ist«, sind am Ende »die äußersten Akzente der Trauer erreicht, ist die letzte Verzweiflung Ausdruck geworden«. Das Werk bietet »bis zu seiner letzten Note« »keinen anderen Trost als den, der im Ausdruck selbst und im Lautwerden, – also darin liegt, daß der Kreatur für ihr Weh überhaupt eine Stimme gegeben ist. Nein, dies dunkle Tongedicht läßt bis zuletzt keine Vertröstung, Versöhnung, Verklärung zu. Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck – der Ausdruck als Klage – gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht. Hört nur den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.«
Dieser Schlusston, das nachhallende hohe g' des Violoncellos gehört zu einem besonders kantablen Register auf dem Instrument. Die Stelle ist ein Fastzitat aus dem Finale von C. M. von Webers höchstromantischem »Freischütz«. Mehr Licht hätte Mann nicht nur im Sinn einer Goethe-Nachfolge freilich offenkundig doch gern öfter von Adorno gehabt: »Gäbe es nur je ein positives Wort bei Ihnen, Verehrter, das eine auch nur ungefähre Vision der wahren, der zu postulierenden Gesellschaft gewährte! Die ›Reflexionen aus dem beschädigten Leben‹ (Minima Moralia) ließen es daran, nur daran auch schon fehlen.« Adorno hielt es mit der verabsolutierten Negativität und hat die Dialektik nie begriffen, dass es keine freischwebende Affirmation schlechthin gibt, sondern dass Affirmation des einen zugleich Negation eines andern ist und umgekehrt. Aber gerade in besagten »Minima Moralia« gibt es einen großartigen Lichtblick Adornos. Bei der durchaus marxkonformen Kritik am detaillierten Ausmalen von Utopien kommt er zu der grundlegenden Einsicht, die wirkliche Utopie sei es, »dass keiner mehr hungern muss«. Ergänzt man das durch Eislers »Leben, ohne Angst zu haben«, so ist damit das ökonomisch und politisch Wesentliche bündig formuliert. Von beidem sind große Teile der Welt weit entfernt.
»Freude«
Trotz Katastrophen und Apokalypse hält Thomas Mann an klassisch-progressiven Idealen fest. So antwortete er einmal ausführlich einem Journalisten: »Ihre letzte Frage nach dem ›eigentlichen Ziel‹ meiner Arbeit ist am schwersten zu beantworten. Ich sage einfach: Freude.« Hier begegnet er, ohne sich dessen wohl voll bewusst zu sein, dem von ihm hochgeschätzten Beethoven, der im »Faustus« von hoher Relevanz ist. Denn für Beethoven war »Freude« ebenfalls ein Schlüsselbegriff und -wort, nicht nur in der »Ode an die Freude«.
Die leitmotivische »Teufelskälte« bei Mann erhält in diesem Licht noch eine zusätzliche, literatur- und kunstkritische Facettierung, gerade weil er Realismus und Naturalismus verpflichtet war und zur Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre nur das Verhältnis einer eher kühlen Zeitgenossenschaft hatte. Überdies jedoch sieht er auch selbstkritisch eigene Kälte. Im Rückblick nach Vollendung des »Faustus« gedenkt er in den »Tagebüchern« jener »›Opfer des kalten Blicks‹ (…), an die der nach Modellen im fernen Europa Ausschau haltende Autor beim Schreiben so wenig gedacht hatte«.
Trotz aller Kritik und schmerzlichen Selbstkritik kam Mann allerdings selbst hier nicht wirklich von Schopenhauer und Nietzsche los, exemplarischen Vertretern einer irrationalistischen »Lebensphilosophie«, und bleibt letztlich innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Ideologie, aber wirklich avanciert und ohne den herrschaftskonformen Antikommunismus (Vgl. Felix Bartels: »Arzt seiner Klasse«, junge Welt, 6.6.2025).
Die Einsamkeit und Kälte, die Leverkühn umgibt und die er ausstrahlt, verweisen metaphorisch auf die Isolierung der Kunstproduzierenden im seit etwa den 1890ern absteigenden und seit 1917/1918 abgestiegenen Bürgertum. Je größer die Profitmassen werden, desto kleiner werden tendenziell die Profitraten sowie Stellenwert und Bedeutung der Kunst, vor allem der Hohen Kunst, der Thomas Mann zugehört. Letztere erlebte noch zwei kurze Scheinblüten, erst im Nazismus, der sie im kulturellen Zweifrontenkrieg als propagandistische Legitimation sowohl gegen den »Westen« wie den »Osten« brauchte, und nach 1945 im Kalten Krieg, wo sie nur mehr als »Schaufenster« gegen den Osten nötig war. Spätestens mit dem Ende des sozialistischen Sechstelweltsystems um 1990 ist sie eigentlich überflüssig geworden. Diese letzte Phase erlebte Thomas Mann nicht mehr, und in der vorletzten Phase verweigerte er sich ausdrücklich der Instrumentalisierung durch den »Westen«. Um so heroischer waren seine Anstrengungen, die tendenziell mit der Moderne noch schwieriger gewordene Kunstproduktion auf höchstem Niveau fortzusetzen.
Hanns-Werner Heister schrieb an dieser Stelle zuletzt am 10. Oktober 2024 über den großen DDR-Musikwissenschaftler Georg Knepler: »Musik und Marx«
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Den Sirenen trotzend