»Unbequeme Betriebsräte werden entfernt«
Interview: Jessica Reisner
Wie ist die aktuelle Situation bei Lieferando?
Tobias Horoschko: Lieferando beschäftigt aktuell circa 9.000 feste Kuriere. Der Großteil davon hat einen Migrationshintergrund, oft besteht eine Abhängigkeit zwischen Arbeitsvertrag und Aufenthaltsstatus. Von 2.000 Mitarbeitern möchte sich Lieferando nun trennen. Wir haben an 20 Standorten in Deutschland Betriebsräte gewählt und viele gute Betriebsvereinbarungen abgeschlossen. Diese kamen zumeist auf arbeitsgerichtlichem Weg zustande. Lieferando hat bis heute keine vertrauensvolle Zusammenarbeit etabliert und auch kein wirkliches Interesse daran. Zweistellige Millionenbeträge zur Bekämpfung von Betriebsräten sprechen eine deutliche Sprache.
Was wissen Sie über die möglichen Flottenpartner, die künftig ausliefern sollen?
Semih Yalcin: Für uns steht besonders das Hamburger Startup Fleetlery mit seinen rund 2.000 Fahrern im Fokus. Den Gesamtbetriebsrat, kurz GBR, erreichen Meldungen, dass Fahrer, die bei Lieferando einen Aufhebungsvertrag unterschreiben, zu Fleetlery geschickt werden. Bei anderen, die gerade bei Lieferando aufgehört haben, soll das Unternehmen sich sogar proaktiv gemeldet haben. Wir nehmen deshalb an, dass Lieferando und Fleetlery im direkten Austausch stehen. Probehalber haben Betriebsratsmitglieder sich dort beworben und wurden durchweg abgelehnt. Es scheint, als würden Betriebsratsmitglieder auf einer Black-list stehen.
Zudem wurden Probebewerber mit deutschen Namen abgelehnt. Fleetlery scheint Fahrer zu suchen, bei denen es auf Sprach- und Rechtsunsicherheit hofft oder gar auf unsicheren Aufenthaltsstatus. Die Angestellten sind dann in einem krassen Abhängigkeitsverhältnis und quasi nicht ansprechbar für Gewerkschaften oder Betriebsratsarbeit. Fleetlery wird vermutlich aber nicht der einzige Flottenpartner sein. Wolt und Uber Eats arbeiten schon nach diesem Modell.
Was wird sich für Fahrer durch die Anstellung bei Subunternehmen ändern?
S. Y.: Unsere Betriebsvereinbarungen sind bei den Subunternehmen hinfällig. Betriebsräte müssten die Fahrer erst neu gründen. Wir befürchten zudem Bezahlung nach erfolgter Auslieferung. Dabei soll Fleetlery gerade in Außenbezirken eingesetzt werden. Dort werden Fahrer dann jedoch Probleme haben, den Mindestlohn zu erreichen, da mehr als zwei Zustellungen pro Stunde erfahrungsgemäß aufgrund der Distanzen unrealistisch sind. Es wäre dann an Fleetlery, jeden einzelnen Fahrer stundenweise auf den Mindestlohn aufzustocken.
Der Investor Prosus plant die Übernahme von »Just Eat Takeaway«, der Muttergesellschaft von Lieferando. Sehen Sie eine Verbindung zu der geplanten Massenentlassung?
T. H.:Ja, auch wenn die Geschäftsführung dies bestreitet. Die geplanten Umstrukturierungen und der dazugehörige Zeitplan lassen klar erkennen, dass unbequeme Betriebsräte entfernt und damit einhergehend eine Vielzahl laufender Gerichtsverfahren erledigt werden sollen. Eine Begründung der Entscheidung aufgrund von Wirtschaftlichkeit ist für mich nicht nachvollziehbar. An meinem Standort in Bremen, der geschlossen werden soll, wurde die Belegschaft erst letzte Woche um circa 25 Prozent erhöht.
Welche Handlungsoptionen hat der GBR in dieser Situation?
S. Y.: Leider fällt das ganze Manöver unter unternehmerische Freiheit. Verhindern kann der GBR das Vorgehen auf Basis der aktuellen Gesetzeslage leider nicht. Wir werden einen Sozialplan verhandeln. Allerdings enthält uns Lieferando bislang wichtige Informationen vor, um diese Verhandlungen auch nur vorzubereiten. Bislang wissen wir ja nicht einmal, wem das Management kündigen will.
Kann der Europäische Betriebsrat, EBR, mehr erreichen?
T. H.: Die Verhandlungen zum EBR laufen noch. Mit einem solchen hätte Lieferando seinen Informationspflichten nachkommen und eine Beratung mit den Betriebsräten durchführen müssen. Die kommenden Änderungen hätten in dieser Form nicht durchgesetzt werden können.
Was ist Ihr nächster Schritt?
T. H.: In Hamburg plant Lieferando sämtliche Fahrer zu feuern. Dort hatten die Kuriere erst vor kurzem gestreikt. Wir rufen deshalb am Freitag, dem 8. August, um 18 Uhr, in Hamburg mit der NGG zur Demo gegen die Entlassungen auf.
Semih Yalcin ist stellvertretender Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats bei Lieferando, Tobias Horoschko Vorsitzender des besonderen Verhandlungsgremiums für den Europäischen Betriebsrat.
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