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Aus: Ausgabe vom 02.08.2025, Seite 10 / Feuilleton
Russland

Immer auf Linie

Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2025 erhalten
Von Reinhard Lauterbach
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Ach, die eigenen Bücher sind immer noch die besten

Ich bin auf Karl Schlögel als Autor irgendwann kurz nach 1989 aufmerksam geworden. Damals veröffentlichte er in der Taz und anderen Zeitungen Essays über die sozialen Folgen und Erscheinungsformen der kapitalistischen »Wende« in Osteuropa. In einer farbigen, anschaulichen Sprache, die erkennbar Anleihen bei dem Umsturzpathos des »Kommunistischen Manifests« machte. Die »Umwälzung aller versteinerten Verhältnisse«, die der junge Marx dem Kapital gegenüber den feudalen Zuständen zugute hielt, sah er nun mit demselben historischen Subjekt, dem Kapital, gegenüber einer als seine Nachfolgerin geplanten und an dieser Aufgabe gescheiterten realsozialistischen Produktionsweise am Werk. Schlögel kannte und kennt seinen Marx, nur hat er ihn mit diesem gedanklichen Trick entkontextualisiert. In seiner 1983 erschienenen Dissertation über Arbeiterproteste in der Sowjetunion 1953 bis 1983 warf er der damaligen Linken schon vor, sich in ihrer Skepsis gegenüber der polnischen »Solidarnosc« von ihrem emanzipatorischen Anspruch entfernt zu haben. Dem regierungsnahen »Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und sowjetische Studien« in Köln war die Schrift damals die Aufnahme in ihre Schriftenreihe wert, ein Jahr später erschien im damals trotzkistisch orientierten Junius Verlag eine für die breitere Öffentlichkeit bestimmte Ausgabe unter dem Titel »Der renitente Held«.

Einer der Arbeitsschwerpunkte Schlögels war die 1917 abgebrochene kapitalistische Modernisierung Russlands, von der der zeitweilige Ministerpräsident Pjotr Stolypin kurz vor seinem Tode durch ein Attentat 1911 gesagt hatte, er brauche für den Erfolg dieser Revolution von oben 20 Jahre Frieden im Inneren und nach außen. Daraus ist nichts geworden, aber Schlögel wusste die Ansätze dieser bürgerlichen Modernisierung fesselnd nachzuerzählen: von der Entwicklung St. Petersburgs zum »Labor der Moderne« über die russische Literatur der »Silbernen Periode«, als Russland eines der Zentren der weltweiten Avantgardekunst war, bis hin zu den Schicksalen der Exponenten dieses bürgerlichen Russlands, die in den 1920er Jahren im »russischen Berlin« ihr von der deutschen Öffentlichkeit angesichts drängenderer eigener Sorgen kaum zur Kenntnis genommenes Vereins- und Publikationsleben führt. Mit der Zeit wandte sich Schlögel auch der Dialektik der sowjetischen Modernisierung zu. Eines seiner spannendsten Bücher war das 2007 erschienene »Terror und Traum«, das die Parallelität von industrieller Modernisierung und politischer Repression nachzeichnete – immer in einer dem Essay angenäherten Form, die im Interesse der Lesbarkeit auf ausufernde Anmerkungsapparate verzichtete und Aussagen auch gern zuspitzte. Sehr brauchbar ist auch seine 2017 erschienene Schrift »Das sowjetische Jahrhundert – Archäologie einer untergegangenen Welt«. Neben 900-Seiten-Wälzern wie diesem schrieb Schlögel kleinere Essays über »den Duft des Imperiums« – die Verbindungen zwischen der französischen und der russischen Parfumindustrie.

Schlögels russlandbezogene Arbeiten kennzeichnet eine von keinem zeitgenössischen Autor erreichte Nahperspektive. Er war in seinen Studienzeiten in Moskau mit der dortigen Dissidentenszene in Berührung gekommen und hatte die sowjetische Gesellschaft buchstäblich »aus der Küchenperspektive« kennengelernt. Und jetzt ist er auf seine alten Jahre zum »Ukraine-Unterstützer« (dpa) geworden, spricht auf einer öffentlichen Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung von der »Putin-Bande« und ruft zur Verteidigungsbereitschaft der deutschen Gesellschaft auf.

Woher diese Wende vom Russlandversteher zum Russlandhasser? Vieles, was Schlögel zwanzig oder dreißig Jahre lang an Russland kritisiert hat, lag auf der Linie der weißen Emigranten, die er im »Russischen Berlin« beschrieben hat. Diese Leute einte der Antikommunismus, aber sie kritisierten die Sowjetunion vom Standpunkt des russischen Imperiums, und manche nahmen ihre Kritik in dem Maße zurück, in dem Stalin die Stabilisierung des Landes gelang. Für eine Selbständigkeit der Ukraine hatte niemand dieser Emigranten etwas übrig.

An dieser Stelle sei die Hypothese gewagt, dass Schlögels nostalgisches Sympathisieren mit der russischen Bourgeoisie in ihrer Aufstiegsphase die literarische Begleitmusik zu einer politischen Umarmungsstrategie gegenüber Russland war. Denn eine solche Strategie brauchte auch auf russischer Seite eine potentielle Trägerschicht. Nachdem jetzt Wladimir Putin an die russischen »Weißen« anknüpft, die Schlögel seinerzeit im »Russischen Berlin« porträtiert hatte, ist nicht nur die Umarmungsstrategie vom Tisch, sondern auch das entsprechende literarische Sujet.

Und ein an öffentlicher Wirksamkeit orientierter Autor wie Schlögel, egal wie renommiert er durch sein früheres Werk ist, muss sehen, dass er den Anschluss hält. Die Operation ist gelungen: Mit dem »Friedenspreis«, der heute ein Preis für geistige Kriegstüchtigkeit ist, wird ein Mann geehrt, dessen Lebenswerk die Wendungen der Intellektuellenklasse in Deutschland spiegelt. Ziffels Bemerkung aus den »Flüchtlingsgesprächen«, wer einmal seinen Marx studiert habe, werde es in bestimmten Berufen nie wieder zu etwas bringen, ist am Beispiel Karl Schlögels widerlegt: Das geht.

Dass der »Friedenspreis« eine reine Konjunkturveranstaltung ist, hat das Genörgel der FAZ gezeigt: Schlögel habe ja seine Verdienste, aber jetzt hätte doch besser jemand mit Nahostbezug den Preis bekommen sollen. Wie sagte der alte Goethe: »Was ihr den Geist der Zeiten heißt / Das ist der Herren eigner Geist / Worin die Zeiten sich bespiegeln.«

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