Beschönigte Abholzungsdaten
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
Die Erfolgsmeldung »Weniger Abholzung in Brasilien!« fand vergangenen Mai ein breites Medienecho, so auch in Deutschland. Sowohl Brasiliens Regierung als auch Mapbiomas, ein Forschungsnetzwerk zur Überwachung der Ökosysteme des Landes, bescheinigten einen deutlichen Rückgang der Abholzungen im Amazonasgebiet im vergangenen Jahr. Daten des Nationalen Weltraumforschungsinstituts (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais, INPE) zufolge wurden 2024 ganze 30,6 Prozent weniger Regenwald vernichtet als 2023, während Mapbiomas in seinem jährlichen Abholzungsbericht (Relatório Anual do Desmatamento, RAD) eine Verringerung von 16,8 Prozent errechnet hat. Die gleichfalls im Mai veröffentlichten Waldverlustdaten des renommierten World Resources Institute (WRI) allerdings besagen genau das Gegenteil: Der brasilianische Amazonasregenwald habe 2024 den größten Waldverlust seit einem Rekordhoch im Jahr 2016 verzeichnet. Rund 110 Prozent mehr Waldvernichtung als 2023. Das Amazonasgebiet habe im vergangenen Jahr 2,82 Millionen Hektar Primärregenwald verloren, gegenüber »lediglich« 1,14 Millionen Hektar Verlust im Jahr 2023, so das WRI.
INPE geht dagegen von 628.800 Hektar Regenwaldvernichtung im Jahr 2024 und 906.400 Hektar im Vorjahr aus. Die geringsten Abholzungszahlen errechnete Mapbiomas, das ein regierungsunabhängiges Netzwerk von Universitäten, Umweltorganisationen und Technologiefirmen ist. Demnach ging die abgeholzte Fläche im Amazonasgebiet von 454.230 Hektar im Jahr 2023 auf 377.708 Hektar im vergangenen Jahr zurück.
Wer hat nun recht? Die Zahlen des WRI stammen vom Global Land Analysis and Discovery Labor der Universität von Maryland (UMD). Sowohl INPE und Mapbiomas als auch die UMD ermittelten die Abholzungsdaten anhand von Satellitenaufnahmen, doch mit unterschiedlichen Auswertungsmethoden und Systembeschränkungen.
Datengrundlage variiert
INPE wertet die Daten mit seinem Waldüberwachungssystem Prodes aus. Dieses registriert Kahlschläge größer als 6,25 Hektar. Die UMD-Forscher hingegen berücksichtigen Entwaldungen bereits ab einer Größe von 0,09 Hektar und erfassen dabei auch die Verluste durch Feuer, die Prodes nicht hinzurechnet. Im vergangenen Jahr waren 60 Prozent der Waldvernichtung, so das WRI, auf Brände zurückzuführen. Aufgrund einer intensiven und ausgedehnten Dürre in Amazonien zerstörten die in der Regel von Menschenhand gelegten Feuer mehr Waldfläche als in anderen Jahren. Und wenn mehr Fläche abbrennt, muss folgerichtig weniger Wald mit der Kettensäge gerodet werden, um Rinderweiden oder Sojabohnenäcker auszuweiten.
Ein weiterer wichtiger Unterschied sind die Auswertungszeiträume. Während Prodes die zwölf Monate zwischen August und Juli betrachtet, beziehen sich die UMD-Daten jeweils auf das Kalenderjahr, also von Januar bis Dezember 2024.
Mapbiomas schließlich kombiniert die Abholzungsdaten unabhängiger Überwachungssysteme wie SAD (Sistema de Alerta de Desmatamento) des Amazonas-Instituts für Mensch und Umwelt (Imazon) mit den Daten der INPE-Systeme wie Prodes und beschränkt sich ausschließlich auf Kahlschläge und vollständig entfernte natürliche Vegetation. Verluste durch Waldbrände oder selektiven Holzeinschlag berücksichtigt Mapbiomas in seiner Abholzungsstatistik nicht, weshalb die Zahlen auch deutlich niedriger ausfallen. »Da Mapbiomas den in Brasilien zunehmenden Waldverlust durch Brände nicht berücksichtigt, wird ein wachsender Anteil der gesamten Waldveränderung nicht ausreichend dargestellt«, wird auf der Onlineplattform Global Forest Watch (GFW) des WRI resümiert.
Waldschädigung ist mehr
Um zu bewerten, ob sich der Waldschutz in der Amazonasregion tatsächlich verbessert oder verschlechtert, braucht es zusätzlich zur Abholzungsstatistik aber auch Daten zur Walddegradierung. Denn geschädigter Wald, beispielsweise durch selektiven Holzeinschlag und Forststraßen, hat ein dünneres Kronendach, ist anfälliger für Dürren und fängt leichter Feuer. Brände in intaktem, feuchten Regenwald zu legen, ist hingegen kein leichtes Unterfangen.
Laut dem Forschungsinstitut Imazon in Belém do Pará gab es just 2024 eine explosionsartige Zunahme von Walddegradierung im Amazonasgebiet. Demnach wurden 3,64 Millionen Hektar Regenwald degradiert, rund sechsmal mehr als 2023. Die mit dem SAD-Überwachungssystem ermittelte Waldschädigung im vergangenen Jahr, so Imazon, war die größte, seit das Institut im Jahr 2009 mit der Waldüberwachung begonnen hatte, und stellte den bisherigen Rekordwert von 2017 weit in den Schatten. Damals waren 1,15 Millionen Hektar Amazonaswald degradiert worden.
Laut Imazon steht die vermehrte Waldschädigung im Amazonasgebiet in direktem Zusammenhang mit der Zunahme der Waldbrände im vergangenen Jahr. Außerdem trugen Dürre und Holzgewinnung zu diesem Degradierungsprozess bei.
Hintergrund: Walddegradierung – die ignorierte Gefahr
Die Tatsache, dass der »Amazonasregenwald durch Kahlschlag zerstört wird, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt, aber potentiell noch gefährlicher, ist die Walddegradierung durch Holznutzung, Feuer und Dürren, die durch den Klimawandel noch verschärft werden«, warnt Philip Martin Fearnside vom Forschungsinstitut INPA in seinem jüngsten, auf der Onlineplattform »Amazônia Real« veröffentlichten Bericht.
Der selektive Holzeinschlag, also das Fällen einzelner Bäume zur Holznutzung, ist eine der Formen von Waldschädigung. Als degradiert gelten auch die Randgebiete von Rinderweiden oder anderweitig landwirtschaftlich genutzte Flächen im Amazonasregenwald sowie durch umgebenden Kahlschlag fragmentierte Waldflächen. Zudem tragen Feuer und Dürren zur Waldschädigung bei.
Fearnside: »Egal ob legal oder illegal: Der Holzeinschlag öffnet Löcher im Kronendach, wodurch Sonnenlicht und Wind eindringen können. Er hinterlässt abgestorbene Äste von gefällten Bäumen sowie Bäume, die bei den Rodungsarbeiten versehentlich geschädigt wurden. Dies erhöht sowohl die Brandgefahr eines Waldgebiets als auch die Intensität des Feuers. Brände haben einen ähnlichen Effekt. Nach dem ersten Brand kann ein Teufelskreis aufeinanderfolgender Waldbrände einen Wald vollständig zerstören.«
Für die 2023 in der Fachzeitschrift Science veröffentlichte Studie »The drivers and impacts of Amazon forest degradation« hat ein internationales Forscherteam errechnet, dass bereits 38 Prozent der gesamten noch im Amazonasgebiet vorhandenen Waldfläche degradiert sind und die Schädigung weiter zunehmen wird. Zwischen 2001 und 2018 wurden laut Daten von Mapbiomas im Amazonasgebiet 36,5 Millionen Hektar Wald geschädigt, rund vier Millionen Hektar wurden abgeholzt.
Diese Walddegradierung habe ähnliche, teils sogar größere Auswirkungen auf Emissionen und Klima, Biodiversität, aber auch auf das Wohlergehen der lokalen Bevölkerung, heißt es in der Forschungsarbeit. »Trotz der Unsicherheit über die Gesamtauswirkungen ist klar, dass die Auswirkungen der Degradierung in bezug auf Kohlenstoffemissionen und Verlust der biologischen Vielfalt ebenso schwerwiegend sein können wie die der Entwaldung«, so Jos Barlow, Forscher an der Lancaster University und Koautor der Studie, deren Verfasser zudem eine deutliche Zunahme der Waldbeschädigung befürchten. (nos)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (30. Juli 2025 um 22:00 Uhr)TBC in der Lunge der Welt? Ab damit nach Davos auf den Zauberberg! Oder war's der Zuckerberg?
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