Vor dem Aussterben gerettet
Von Uwe Krüger
Die etwa rehgroße Saigaantilope mit ihrer markanten Rüsselnase – eine Anpassung an die Temperaturextreme und den Staub in ihrem Lebensraum – zog nach der letzten Eiszeit bereits mit Mammuts und Wollnashörnern durch die Kältesteppe. Sie konnte im Unterschied zu den beiden anderen Arten aber bis in unsere Zeiten überdauern. Vor einigen hundert Jahren lebte sie noch in einer Steppenzone, die von der heutigen Ukraine über Russland, Kasachstan und die anderen mittelasiatischen Regionen bis nach China und die Mongolei reichte. Doch im Zuge einer immer stärkeren Besiedlung und intensiveren landwirtschaftlichen Nutzung der Steppen verschwand sie aus Europa – bis auf einen Restbestand im südrussischen Gebiet Kalmückien. Auch in Asien ging es mit ihr bergab. Ungefähr 1920 ist die Art das erste Mal fast von der Erde verschwunden. Doch Schutzbestimmungen der jungen Sowjetunion aus dem Jahr 1923 zeigten nach und nach Erfolg, und in den vergangenen Jahrzehnten der Sowjetunion gab es vor allem in Mittelasien wieder eine große und stabile Population.
Doch nach dem Zusammenbruch der UdSSR ging es mit den Saigas steil bergab: Die Hörner von gewilderten männlichen Tieren ließen sich gewinnbringend in China verkaufen. Dort stehen aus ihnen hergestellte Arzneimittel im Ruf, gegen viele Beschwerden zu helfen. Zudem diente in Russland und Kasachstan in der wirtschaftlichen Krise nach 1990 das Fleisch der Antilopen als Nahrung. Durch hemmungslose Jagd wurden in wenigen Jahren fast alle männlichen Tiere getötet. Die Population brach zusammen, so dass Anfang der 2000er Jahre nur noch wenige zehntausend Tiere lebten. Seuchen ließen die geschwächten Bestände zusätzlich schwinden. Ein Aussterben der Art war nach Einschätzung der Internationalen Naturschutzunion nicht auszuschließen.
Rasche Erholung
Erst nachdem Russland und Kasachstan die Saigaantilope auf die Rote Liste setzten und in den beiden Ländern funktionierende staatliche Strukturen entstanden, ließ sich dieser Trend stoppen. Unterstützt von international tätigen Naturschutzorganisationen (darunter auch aus Deutschland) konnten Strategien zum Schutz der Saigaantilope entwickelt werden. Vor allem ließ sich die Wilderei erfolgreich eindämmen. Im Ergebnis erholte sich die Art seit ungefähr 2020 in einem derart schnellen Tempo, dass russische und kasachische Fachleute aktuell von einem Bestand ausgehen, der mindestens vier Millionen Tiere umfasst. Möglich war diese Erholung auch, weil die Saigaantilope sich im Laufe der Evolution an den Umstand, dass auch ohne menschlichen Einfluss viele Tiere aufgrund von Seuchen oder in harten Wintern verendeten, besonders angepasst hat: Die Weibchen können nicht nur sehr früh Nachwuchs bekommen, sondern sie setzen in der Regel direkt zwei Junge in die Welt. Mittlerweile kann man auf Youtube Videos sehen, die Herden mit Tausenden Tieren zeigen.
Da die Tiere aber – wenn die Nahrungsressourcen an einer Stelle verbraucht sind – in dem für sie typischen hohen Wandertempo auf der Suche nach besseren Weidegründen weite Distanzen überwinden, bleiben schwere Konflikte mit Landwirten nicht aus. Auch wenn die Tiere am Tage mit Motorrädern und Geländewagen von den Saaten vertrieben werden – am nächsten Morgen sind sie schon wieder auf den gleichen Feldern. Schadensersatzregelungen existieren nur eingeschränkt. Deshalb gibt es angesichts großflächig geschädigter Getreideschläge sowie kurzgefressener Viehweiden Hilferufe von Vertretern aus der Landwirtschaft nach staatlichen Gegenmaßnahmen. In Russland kursiert ein Video, in dem ungefähr 30 Vorsitzende von landwirtschaftlichen Betrieben einen Hilfsappell direkt an Wladimir Putin richten. Zuvor hatten mehrere hunderttausend Saigas aus Kasachstan die Staatsgrenze zum russischen Gebiet als »unerwünschte Migranten« überschritten. Sorgenfalten verursacht dabei auch, dass die Antilopen bei ihren weiten Wanderungen Tierkrankheiten mitbringen und in andere Viehherden einschleppen können.
Regulation der Population
Zunächst waren die Tiere als »Rote-Liste-Art« noch vor einer Verfolgung geschützt, doch hier gab es Änderungen. Auch wenn eine »Regulation« im Grundsatz möglich ist, muss diese konkret umgesetzt werden. In der Sowjetunion, in der es eine mehr oder weniger geordnete Nutzung der Saigas in Abhängigkeit von dem ermittelten Populationsumfang gab, wurden die Tiere in manchen Fällen mit Hubschraubern, ansonsten mit Fahrzeugen in Fangkrals getrieben oder direkt von den Fahrzeugen aus erlegt. Zu diesem Zweck wurde sogar ein immer noch populäres spezielles halbautomatisches Gewehr entwickelt – Bezeichnung »Saiga«.
Aktuell wird in Russland und Kasachstan über eine »Entnahme« von mehreren 100.000 Tieren nachgedacht, denn ohne ein Gegensteuern könnte der Gesamtbestand im nächsten Jahr nochmals eine Million höher liegen. Das birgt auch für die Tiere selbst Risiken: Seuchen oder eine Nahrungsknappheit können ein Massensterben nach sich ziehen. Kasachische Vertreter stellten jedoch bereits klar, dass es keine Lösung sein kann, sie einfach zu töten und liegenzulassen. Zu sowjetischen Zeiten wurden die getöteten Antilopen zu Fleischkonserven verarbeitet. Darüber wird auch jetzt nachgedacht – doch entsprechende Schlachtfabriken, die diese Mammutaufgabe bewältigen können, gibt es nicht. Erwogen wird auch, im Herbst eine geregelte Bejagung durch Freizeitjäger zuzulassen, doch damit werden sich keine großen Zahlen erreichen lassen.
Es gibt aber auch Stimmen, die sich kritisch zu diesen Reduktionsabsichten äußern. Sie kommen aus den Reihen von ethisch argumentierenden Tierschützern, aber auch von Natur- und Artenschützern. So ist ein Vorteil der durch den hohen Bestand stimulierten Wanderbewegungen, dass Tiere aus Gebieten, die sonst isoliert voneinander liegen, wieder in Kontakt kommen. Damit wird einer genetischen Verarmung von Teilpopulationen vorgebeugt. Wünschenswert ist auch, dass wandernde Tiere in Gebieten, die in den vergangenen Jahrzehnten verwaist waren, »hängenbleiben« und die Gesamtgröße der von der Saiga besiedelten Gebiete zunimmt. Dies wäre vorteilhaft, da die Saigas ein wichtiges Element der Steppenökosysteme sind.
Keine Entwarnung
Die aktuell hohen Bestandszahlen dürfen nicht als definitive Entwarnung gewertet werden: Menschliche Aktivitäten in der Steppe – insbesondere ihre Nutzung als Ackerfläche und der Bau von Verkehrsinfrastruktur – schränken die Qualität des Lebensraums für die Saigaantilope ein. Eine weitere Bedrohung der Art stellt der Klimawandel dar: So führten überdurchschnittlich warme und feuchte Bedingungen schon wiederholt zu drastischen Einbrüchen des Tierbestandes, denn unter diesen Umständen entwickeln Bakterien, die normalerweise harmlos sind, letale Eigenschaften.
In Kasachstan gibt es Überlegungen, sie wieder aktiv in Gebieten anzusiedeln, in denen sie schon vor längerer Zeit verschwanden und die sie aus eigener Kraft kaum erreichen können. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew kündigte kürzlich an, 1.500 Tiere an China zu verschenken, damit mit ihnen neue Bestände im Norden und Nordosten der Volksrepublik begründet werden können. Da China ohnehin eine diplomatische Annäherung an Kasachstan anstrebt, wundert es nicht, dass Staats- und Parteichef Xi Jinping erfreut auf dieses Angebot reagierte. So zeichnet sich ab, dass die »Pandadiplomatie« Chinas jetzt in der »Saigadiplomatie« Kasachstans ein Pendant findet.
Die Diskussionen in Russland und Kasachstan lassen hoffen, dass es den beiden Staaten gelingt, zu einem sinnvollen »Wildtiermanagement« zu finden. Dieses würde einen langfristig gesicherten Saigabestand gewährleisten, der auf der Grundlage solider Bestandszählungen aus der Luft gleichzeitig nachhaltig genutzt werden kann.
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