Kolonisation unseres Denkens
Von Marc Püschel
Die sogenannte künstliche Intelligenz (KI) gehört zu den meistdiskutierten Themen der Gegenwart (vgl. die KI-Beilage der jW). Selbst in der Philosophie ist sie dauerpräsent. In der Regel bleibt es aber dort bei recht allgemeinen Einlassungen, die eine schnelle mediale Aufmerksamkeit sichern, aber kaum Bezüge zur philosophischen Tradition haben. Angesichts der Mängel des Diskurses ist es schlüssig, dass Daniel Martin Feige in seiner neuen »Kritik der Digitalisierung« zunächst bei ihnen anhebt.
Der Diskurs sei in eine »revisionistische« und eine »deflationistische« Richtung gespalten. Erstere behauptet, mit den digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien beginne ein neues Zeitalter. Sie legt zugleich die historische Entwicklung teleologisch auf diese aus und ist damit »offen oder verkappt eine Gestalt technikoptimistischen und letztlich ideologischen Denkens«. Die zweite Richtung dagegen spielt den Bruch, den die Digitalisierung darstellt, herunter. Schlüssig weist Feige beiden Formen des Nachdenkens logische Widersprüche und gedankliche Leerstellen nach.
Vermittelt über die Kritik gelangt Feige zu einer eigenen Einschätzung des Digitalen. Seine zentrale These besagt, »dass Informations- und Kommunikationstechnologien eine andersartige Logik in unsere Praxiszusammenhänge einführen und damit die Praxis gewissermaßen digital neu fassen«, was die digitale Welt deutlich von Werkzeugen oder Erfindungen wie Schrift, Buchdruck etc. unterscheidet. Die Übersetzung der objektiven Welt und unseres Denkens in Daten wirkt auf uns selbst zurück. In der digitalen Welt, konfrontiert mit KI, erfahren wir unser Verhalten und Denken als portionier-, prognostizier- und kontrollierbar.
Insofern lässt sich, in Anknüpfung an Adorno und Horkheimer, die Digitalisierung als Zuspitzung der instrumentellen Vernunft verstehen: »Unsere Gedanken werden berechenbar, bevor wir sie überhaupt gedacht haben, unsere Handlungen werden mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit antizipiert. (…) Man kann sagen: Unter den Bedingungen der Digitalisierung machen wir uns selbst zu Lebewesen, deren Denken und Handeln von den Logiken und Strukturen der Digitalisierung kolonialisiert worden sind.«
Als Konsequenz verschieben sich die Maßstäbe, anhand derer wir die maschinellen Leistungen bewerten. Die Frage, ob Maschinen denken können, wird ersetzt durch die Frage, ob Maschinen den sogenannten Turing-Test bestehen. In diesem führt eine Person über einen Computer eine Diskussion mit einem Menschen und mit einer KI. Kann die Person nach dem Test nicht sagen, welcher Gesprächspartner menschlich, welcher digital war, so müssen der Maschine menschliche geistige Vermögen attestiert werden. Dies zum Maßstab zu machen, bedeutet jedoch, die digitale Rationalitätslogik bereits als Voraussetzung zu akzeptieren: Geistiges Vermögen wird gleichbedeutend mit effizientem Nachahmen.
Um das zu problematisieren, greift Feige auf moderne Klassiker der Erkenntnistheorie zurück, etwa auf Donald Davidson, der am Turing-Test kritisiert, dass sprachliche Ausdrücke, um deren Bedeutung zu verstehen, »in einem kausalen Verhältnis zur Wirklichkeit stehen« müssen. Laut Davidsons Triangulationstheorie setzt menschliches Erkennen mindestens zwei Menschen mit Bewusstsein sowie eine geteilte objektive Realität voraus – eine Konstellation, die der KI grundsätzlich versagt bleibt. So erhält die oft lapidar geäußerte Behauptung, die KI verstehe nicht, was sie sage, eine tiefere, erkenntnistheoretische Begründung.
In bezug auf die mit KI operierende Robotik bringt Feige die philosophische Handlungstheorie ins Spiel. Roboter zerlegen Handlungen in nacheinander abzuhandelnde Schritte, wobei nach jedem Schritt eine kontrollierende Rückkopplung stattfindet. Dieses Modell wird »nicht aus dem Begriff praktischer Vernunft gewonnen, sondern aus einem (verkürzten) Begriff theoretischer Vernunft«. Aus dem kontinuierlichen und einheitlichen Handeln nach selbstgegebenen Zielen des Menschen wird ein zerstückeltes, permanentes Abgleichen der Mittel mit einem extern vorgegebenen Ziel. Das Instrumentelle dieser Logik fällt sofort ins Auge.
Im letzten Abschnitt des Buches widmet sich Feige der Kunst, die er ganz in der Tradition Hegels als besonderen Modus von Reflexion auffasst. Laut Feige wird KI, wenn sie im künstlerischen Schaffensprozess eingesetzt wird, nicht zu einer Maschine, die Kunst hervorbringen kann. Dennoch sei ein ästhetisch bedeutsamer Gebrauch von KI möglich. Ihre gegenüber unserer realen Welt fremdartige Logik könne in der Kunst produktiv gemacht werden, da sie ein völlig anderes Element einbringt. Das Ergebnis wäre eine Art Verfremdungseffekt in der Kunst, der uns auch zur Reflexion über gesellschaftliche Praktiken und digitale Techniken anhält.
Dieses Kunstverständnis macht den originellsten Teil des Buches aus, ist jedoch auch an manchen Stellen angreifbar, zumal es sich um noch unabgeschlossene Überlegungen zu handeln scheint, die wohl auf zukünftige Publikationen hindeuten. So stellt sich etwa die Frage, ob in einer Welt, in der unser Denken von der digitalen Logik kolonialisiert wird, dieser Verfremdungseffekt des KI-Gebrauchs in der Kunst nicht wegfällt. Zudem liegt Feiges Schwerpunkt auf produktionsästhetischen Überlegungen, die durch werk- sowie rezeptionsästhetische Aspekte komplementiert werden müssten.
Die Güte des Buches beeinträchtigt dies allerdings nicht. Feige gelingt es, die Tiefe philosophischen Nachdenkens für den KI-Diskurs zu erschließen, ohne bereits den Anspruch zu erheben, sie ganz auszuloten. Er zeigt, was möglich ist, wenn man die philosophische Tradition in Anspruch nimmt und über reine Schlagworte und eine bloß politische Bewertung der Digitalisierung hinauskommt.
Daniel Martin Feige: Kritik der Digitalisierung. Technik, Rationalität und Kunst. Felix-Meiner- Verlag, Hamburg 2025, 186 Seiten, 19,90 Euro
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