»Milei kam nicht einfach aus dem Nichts«
Interview: Frederic Schnatterer
Mitte Juli eskalierte der schon seit langem schwelende Streit zwischen Präsident Javier Milei und seiner Vize Victoria Villarruel, die außerdem Senatsvorsitzende ist. Vorausgegangen waren mehrere Abstimmungen im Senat, die den neoliberalen Kurs der Milei-Regierung in Frage stellen. Worum geht es bei dem Streit?
Hintergrund ist nicht wirklich das Programm, auch wenn es Unterschiede gibt: Milei vertritt vor allem eine wirtschaftsliberale Agenda, während Villarruels Agenda deutlich konservativer und autoritärer ist. Es geht vielmehr um Sichtbarkeit und Macht. Der Präsident ist eine starke Figur und hat Angst davor, von seiner Stellvertreterin in den Schatten gestellt zu werden. In Argentinien hat das durchaus Tradition. Für Milei kommt erschwerend hinzu, dass er sich in einer sehr schwachen Position befindet – so schwach wie wohl noch kein Präsident vor ihm. Er verfügt weder über eine wirkliche Parteistruktur noch über eine Koalition, noch über mehr als drei oder vier Vertraute.
Welche unmittelbaren Folgen hat der Bruch?
Für die demokratischen Kräfte ist der Streit zunächst eine gute Sache. Er hat zur Folge, dass die besonders autoritären Elemente von Mileis Agenda ein wenig zurückgedrängt werden. Für Mileis politischen Aufstieg war die Allianz mit Villarruel wichtig. Er hat früh erkannt, dass er sich auch um die Stimmen der Konservativsten, der Abtreibungsgegner, der Autoritären und der Diktaturanhänger, letztlich der traditionalistischen und besonders ranzigen Rechten bemühen musste. Villarruel repräsentiert all diese Leute.
Damit hat Milei bei der Präsidentschaftswahl 2023 eine Leerstelle gefüllt – letztlich mit Erfolg.
Dass er gewonnen hat, hat noch weitere Gründe. Zunächst muss betont werden, dass bis 2015 in Argentinien keine rechte Kraft existierte, die in der Lage gewesen wäre, landesweite Wahlen zu gewinnen. Das schaffte erst Mauricio Macri 2015 mit seiner rechtskonservativen Propuesta Republicana, kurz Pro. Ab dem Zeitpunkt ändert sich in der Rechten in Argentinien so einiges. Umfragen belegen beispielsweise, dass sich die Wählerschaft der Pro bis 2019, als Macri mit seiner Wiederwahl scheiterte, deutlich radikalisierte. Milei kam nicht einfach aus dem Nichts.
Worin lagen die wichtigsten Unterschiede zwischen der traditionellen Rechten rund um Pro und der vermeintlich neuen von Milei?
Macri ist als Regierungschef gewissermaßen gescheitert. Er schaffte es nicht, die neoliberalen Maßnahmen durchzusetzen, die manche von ihm erwarteten. Außerdem beendete er seine Amtszeit mit einer höheren Inflationsrate, mit einem schlechteren Wechselkurs und mit mehr sozialen Problemen. Teile der Bevölkerung kamen zu dem Schluss, dass eine härtere und ideologisch festere Kraft auf der Rechten notwendig ist. Nur eine solche sei in der Lage, die Veränderungen zu realisieren, an deren Umsetzung Macri gescheitert ist.
Heute, anderthalb Jahre nach seinem Amtsantritt, steht Milei kurz davor, die Pro und die »gemäßigte« Rechte obsolet zu machen. Im Mai gewann er in deren traditioneller Hochburg, der Hauptstadt Buenos Aires. Für die wichtigen Wahlen in der gleichnamigen Provinz im September konnte er die Pro in einem gemeinsamen Bündnis in eine untergeordnete Rolle drängen. Welche Zukunft hat die Partei noch?
Milei setzt auf die totale Unterordnung von Pro unter das eigene politische Projekt. Er ist zunächst vor allem daran interessiert, alle oder zumindest die meisten ihrer Wähler für sich zu gewinnen. Mit einer kleinen Pro, die auf Landesebene zerstückelt und höchstens lokal verankert ist, könnte er gewiss gut leben.
Auch das Unternehmertum setzt mittlerweile, ebenso wie es das zu Beginn der Macri-Regierung getan hat, voll und ganz auf Milei – zumindest in der Öffentlichkeit. Was tatsächliche Unterstützung für die Maßnahmen der Regierung, beispielsweise durch Direktinvestitionen anbelangt, hält es sich noch zurück.
Gabriel Vommaro ist Soziologe, lehrt an der Universidad Nacional San Martín, arbeitet im Nationalen Rat für wissenschaftliche und technologische Forschung (Conicet) und hat mehrere Bücher zu Entwicklungen in der argentinischen Rechten veröffentlicht.
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