Gegründet 1947 Donnerstag, 14. August 2025, Nr. 187
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 26.07.2025, Seite 11 / Feuilleton
Analytische Psychologie

Drachentöter gesucht

Archetypen altern nicht: 150 Jahre C. G. Jung sind nicht genug
Von Barbara Eder
imago543440896.jpg
»Selbst Adlers Spießgesellen wollen mich nicht als einen der Ihrigen erkennen« – Jung an Freud, 12. Dezember 1912

Jüngst erlebt C. G. Jung eine Renaissance – nicht im Hörsaal, sondern im Literaturbetrieb: In Josefine Rieks’ Bachmannpreistext »Dinner, Freitagabend« ziert der Name des 1875 im thurgauischen Kesswil geborenen Psychologen das Etikett eines alkoholfreien Chardonnays. Die Erzählerin irrt durch abgekühlte Achtsamkeitskulissen eines Charlottenburger Lifestylemilieus, in dem alles kuratiert, aber nichts authentisch ist. Bei Zero-Prozent-Getränken trifft sie auf die Tiefenstruktur von Oberflächen: Hurra, die Archetypen sind wieder da!

Bis heute gilt C. G. Jung, protestantischer Pfarrersohn mit spiritistisch interessierter Mutter, als Experte für die Nachtseiten der menschlichen Psyche. Im Traum sah er die Wahrheit, im Mythos ihre Chiffre. Der Weg zur Individuation – und damit zur »wahren Selbstwerdung« – ist ohne Durchgang durchs Kollektiv-Unbewusste nicht zu haben. Im Keller des Bewusstseins geistert seither eine erkleckliche Anzahl an Archetypen umher: der »alte Weise«, »der Schatten« oder das »Anima-Animus«-Knäuel – jenes Doppelmotiv aus weiblicher Seele und männlichem Geist, das zwischen Projektion und Integration oszilliert. »Werde, der du bist!« Beim Live Action Role Play vor Fantasykulissen werden die dazugehörigen Mikro­dramen ausagiert.

Ein Archetyp altert nicht, er wird rebrandet. Inmitten der Jungschen Menagerie herrscht selten Personalmangel, doch der Schulungsbedarf ist enorm. Einige Apologeten der amerikanischen Ich-Psychologie – darunter Motivationstrainer und Coaches – haben C. G. Jungs »göttliches Kind« in der Zwischenzeit zum »inneren Kind« fortgebildet. Jobs als Drachentöter sind in dessen Universum jedoch noch vakant. Als solcher lernt man, die »Schatten des Selbst« zu bezwingen, für die imaginative Heldenreise gibt es längst das passende Coachingpaket.

Dass Jung im gleichen Atemzug mit Freud und Adler genannt wird, ist ein Missverständnis. Freud sezierte die Sexualmoral des Bürgertums, Adler den Klassenkonflikt. Jung hingegen suchte nach numinoser Tiefe – und fand sie bei Friedrich Nietzsche. Was dem deutschen Protestantensohn der »Wille zur Macht«, geriet seinem Schweizer Pendant zur mythisch verbrämten Heldenreise. Ein spiritistischer Sonntagsausflug mit Drachentöterschwert und Chardonnay Zero. Die Individuationslogik kommt im literarischen Sommelierseminar von Josefine Rieks zu sich. Jene, die dort verkosten, erweisen sich als Esoteriker einer Mittelklasse, die den sozialen Abstieg so sehr fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Sie wappnen sich mit Traumdeuter-Apps und Tarotkarten.

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Mehr aus: Feuilleton

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro