Drachentöter gesucht
Von Barbara Eder
Jüngst erlebt C. G. Jung eine Renaissance – nicht im Hörsaal, sondern im Literaturbetrieb: In Josefine Rieks’ Bachmannpreistext »Dinner, Freitagabend« ziert der Name des 1875 im thurgauischen Kesswil geborenen Psychologen das Etikett eines alkoholfreien Chardonnays. Die Erzählerin irrt durch abgekühlte Achtsamkeitskulissen eines Charlottenburger Lifestylemilieus, in dem alles kuratiert, aber nichts authentisch ist. Bei Zero-Prozent-Getränken trifft sie auf die Tiefenstruktur von Oberflächen: Hurra, die Archetypen sind wieder da!
Bis heute gilt C. G. Jung, protestantischer Pfarrersohn mit spiritistisch interessierter Mutter, als Experte für die Nachtseiten der menschlichen Psyche. Im Traum sah er die Wahrheit, im Mythos ihre Chiffre. Der Weg zur Individuation – und damit zur »wahren Selbstwerdung« – ist ohne Durchgang durchs Kollektiv-Unbewusste nicht zu haben. Im Keller des Bewusstseins geistert seither eine erkleckliche Anzahl an Archetypen umher: der »alte Weise«, »der Schatten« oder das »Anima-Animus«-Knäuel – jenes Doppelmotiv aus weiblicher Seele und männlichem Geist, das zwischen Projektion und Integration oszilliert. »Werde, der du bist!« Beim Live Action Role Play vor Fantasykulissen werden die dazugehörigen Mikrodramen ausagiert.
Ein Archetyp altert nicht, er wird rebrandet. Inmitten der Jungschen Menagerie herrscht selten Personalmangel, doch der Schulungsbedarf ist enorm. Einige Apologeten der amerikanischen Ich-Psychologie – darunter Motivationstrainer und Coaches – haben C. G. Jungs »göttliches Kind« in der Zwischenzeit zum »inneren Kind« fortgebildet. Jobs als Drachentöter sind in dessen Universum jedoch noch vakant. Als solcher lernt man, die »Schatten des Selbst« zu bezwingen, für die imaginative Heldenreise gibt es längst das passende Coachingpaket.
Dass Jung im gleichen Atemzug mit Freud und Adler genannt wird, ist ein Missverständnis. Freud sezierte die Sexualmoral des Bürgertums, Adler den Klassenkonflikt. Jung hingegen suchte nach numinoser Tiefe – und fand sie bei Friedrich Nietzsche. Was dem deutschen Protestantensohn der »Wille zur Macht«, geriet seinem Schweizer Pendant zur mythisch verbrämten Heldenreise. Ein spiritistischer Sonntagsausflug mit Drachentöterschwert und Chardonnay Zero. Die Individuationslogik kommt im literarischen Sommelierseminar von Josefine Rieks zu sich. Jene, die dort verkosten, erweisen sich als Esoteriker einer Mittelklasse, die den sozialen Abstieg so sehr fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Sie wappnen sich mit Traumdeuter-Apps und Tarotkarten.
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