Gefangener oder Gefängniswärter
Von Stefan Ripplinger
Verbrechen, die der Staat begeht, nennen sich »polizeiliche Maßnahmen«. Die polizeiliche Maßnahme unterscheidet sich von anderen Verbrechen lediglich darin, dass sie legal und vorwiegend gegen Arme und Schwache gerichtet ist. In der geübten Methode, in der Gewalt, oft auch Heimtücke, besteht kein wesentlicher Unterschied. Das ist so seit Anbeginn der Polizei, wie das Schicksal des vor 250 Jahren geborenen Eugène-François Vidocq lehrt. Er war der Verbrecher, der als Polizist auftrat und doch in mancher Beziehung stets Verbrecher blieb. Und als er als Verbrecher und als Polizist gescheitert war, wurde er Unternehmer.
Die Geschichte Vidocqs fällt in eine Zeit, in der in Frankreich eine moderne Polizei entstand. Das Direktorium, also die letzte Revolutionsregierung, gründete 1796, zunächst regional begrenzt, das erste Polizeiministerium und strukturierte kurze Zeit später auch die Gendarmerie neu. Die französische Polizei ging aus der Revolution hervor und verfolgte in den Jahrzehnten darauf mit besonderem Eifer Revolutionäre. Nicht nur in diesem Fall brachte die Revolution ihre eigenen Totengräber hervor.
Napoleon Bonaparte stürzte das Direktorium am 18. Brumaire (9.11.1799) und hatte danach gleich mehrere Polizeiapparate zur Verfügung: das Polizeiministerium, den Polizeipräfekten von Paris und die Gendarmerie. Wie Jacques-Olivier Boudon (»L’empire des polices«; 2017) nachweist, achtete der künftige Kaiser darauf, dass diese Apparate relativ selbständig blieben und sich deshalb gegenseitig Konkurrenz machten. Auf diese Weise glaubte er, sie besser kontrollieren zu können.
Sein Polizeiminister hieß Joseph Fouché (1759–1820). Wie Vidocq war auch Fouché in allen Sätteln gerecht: Erst grausam wütender Jakobiner, der in Lyon fast 2.000 Menschen massakrieren ließ, fiel er als Atheist bei seinem früheren Freund Maximilien de Robespierre in Ungnade, erreichte mittels einer fein gesponnenen Intrige dessen Hinrichtung, wurde rehabilitiert und 1799 zum Polizeiminister des Direktoriums berufen. Seine wichtigste Amtshandlung in diesem Jahr bestand darin, sich blind und taub zu stellen, als Napoleon putschte. Zur Belohnung beließ dieser Fouché im Amt, auch wenn er ihm nie wirklich traute und ihm phasenweise (so von 1802 bis 1804) das Amt wieder entzog.
Fouché spannte in der Zeit von Konsulat und Empire ein gewaltiges Spitzelnetz über Frankreich auf. Wie Stefan Zweig in seiner brillanten Fouché-Biographie (1929) schreibt, hat »nach ein paar Monaten dieser Meister das ganze Land mit Spionen, Geheimagenten und Zuträgern durchsetzt. (…) Jeder Schwatz wird gemeldet, jeder Brief wird geöffnet.« Denn Napoleon will genauestens darüber unterrichtet sein, wer was über ihn denkt. Die Polizei ist damals zuerst und vor allem Geheimdienst, auch die Überwachung und Lenkung der Presse gehört zu ihren Pflichten.
Wahre Geheimnisse
Vidocqs Stern geht auf, als der von Fouché untergeht. Wie zuerst der Kriminalist Edmond Locard (1877–1966) erkannt hat, begründet Fouché die politische, Vidocq die kriminalistische Polizei. Als im Herbst 1811 eine von Vidocq geführte Brigade ihre Arbeit aufnimmt, operiert sie, so Locard, wesentlich auf Grundlage dessen, was man »Hinweise aus der Bevölkerung«, kurz Denunziation nennt; und das ist schon Fouchés Grundlage.
Vidocq führt bald über dreißig Agenten, die allesamt entlassene Sträflinge, also mit dem proletarischen und subproletarischen Milieu vertraut sind. Seine »Sûreté« (Sicherheitsbehörde) unterscheidet sich von Fouchés Geheimpolizei im Aufgabengebiet – verfolgt werden nicht Republikaner oder Papisten, sondern Betrüger, Diebe, Mörder – und in ihren aus der Verbrecherwelt übernommenen Methoden. Man lockt Opfer in Hinterhalte, erschleicht sich ihr Vertrauen, stellt ihnen Fallen. Vidocq selbst, der sich nach eigener Auskunft in jede denkbare Person verwandeln kann, ist ein Virtuose solcher Undercoveraktionen. Er ist der Bürger ohne Identität, er ist der Staat in allen seinen Manifestationen. Was sich unter seiner Verkleidung verbirgt, ist auch deshalb schwer auszumachen, weil ihm unendlich viel nachgesagt wird.
Die ihm etwas nachsagen, sind die größten Erzähler seines Landes, Honoré de Balzac voran, der ihn in einem halben Dutzend Romanen als Vautrin und Abbé Carlos Herrera porträtiert. Vidocqs Solidarität mit all denen, die wie er in die Mühlen der Justiz geraten sind, findet sich in dem gütigen Unternehmer Père Madeleine wieder, der in Victor Hugos »Die Elenden« (1862) auftritt. Jean Valjean und Javert, zwei weitere Protagonisten dieses monumentalen Romans, sind ebenfalls Vidocq nachgebildet. Dasselbe gilt für den Jackal aus »Les Mohicans de Paris« (1854–1859) von Alexandre Dumas dem Älteren.
Der heute vergessene Bestsellerautor Léo Lespès, damals besser bekannt unter seinem Pseudonym Timothée Trimm, verwurstet seine Zeit als Mitarbeiter in Vidocqs Privatdetektei. Und nicht vergessen werden dürfen Eugène Sues »Geheimnisse von Paris« (1842/43). Sue bedient sich so frech aus der Lebensgeschichte Vidocqs, dass dieser sich genötigt sieht, 1844 die »wahren« Geheimnisse von Paris zu publizieren.
Kennen wir das wahre Leben Vidocqs aus seinen in ganz Europa mit Begeisterung gelesenen »Memoiren« (1828/29)? Keineswegs. Sogar Vidocq selbst distanziert sich von diesem Buch, dessen Text nacheinander zwei Ghostwriter, Émile Morice und Louis-François L‘Héritier, die ihm von Balzac empfohlen worden sind, mit frei erfundenen Geschichten anreichern. Er habe die gröbsten Entstellungen revidiert und, weil die Zeit drängte, schließlich der Veröffentlichung zugestimmt, schreibt Vidocq in einem Vorwort.
Das Buch handelt vor allem von seinem abenteuerlichen Leben vor seinem Polizeidienst. Über seinen Dienst selbst liegen, da er sich im Halbdunkel abspielt, nur wenige belastbare Dokumente vor. So verliert sich Vidocq im auch von ihm selbst erzeugten Nebel. Mit Sicherheit festgestellt werden kann immerhin, dass er wesentlich von drei totalen Institutionen bestimmt ist, die ihn fortwährend verschlingen und wieder ausspucken: Armee, Gefängnis, Polizei.
Das Wildschwein
Vidocq ist ein Bäckersohn aus Arras. Unweit seines Geburtshauses kommt 17 Jahre vor ihm Robespierre auf die Welt. Anders als dieser ist er ein gut aussehender, athletisch gebauter Junge, der sich der Gunst der Mädchen und Frauen erfreut, eine Gunst, die er zeitlebens weidlich nutzt. Sobald sich ihm ein Rivale in den Weg stellt, schlägt er ihn nieder, was ihm den Spitznamen »Vautrin«, Argot für »Wildschwein«, einträgt – daher sein Alias in einigen von Balzacs Romanen. Er zeichnet sich bald auch in der Fechtkunst aus. Nach seinen vielen Raufereien, kleinen Diebstählen und nachdem er auch schon mehrfach ausgerissen ist, scheinen seine geduldigen Eltern ganz zufrieden damit gewesen zu sein, dass er sich mit 15 der Revolutionsarmee anschließt. Wenn sie darauf gehofft haben sollten, die Armee diszipliniere den Jungen, haben sie sich allerdings getäuscht.
Nicht, wie der Geheimrat Goethe, in der Kutsche, sondern an der Front nimmt Vidocq am 20. September 1792 an der Kanonade von Valmy teil. Nachdem er wegen einem seiner vielen Duelle bestraft werden soll, läuft er kurz darauf zum 11. Regiment Jäger zu Pferde über, mit diesem geht es am 6. November des Jahres in Jemappes gegen die Österreicher. Seine Lust an Duellen bleibt ungebrochen, was zu einer vorzeitigen Entlassung aus dem Militärdienst führt.
Zurück in Arras, wird er Zeuge einer von dem Jakobiner Joseph Le Bon, einem Gefährten Robespierres, befohlenen Hinrichtung eines Adeligen. Dem Jungen, der doch im Krieg schon viel Blut gesehen hat, fährt der Schreck in die Knochen: »Ich bin nicht imstande, den Eindruck, den diese entsetzliche Szene auf mich machte, wiederzugeben. Ich kam bei meinem Vater fast ebenso entseelt an wie derjenige, dessen Todeskampf ich eben auf so grausame Weise hatte in die Länge ziehen sehen.« (Übersetzung von Ludwig Rubiner)
Vidocq findet lange keinen Platz in der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft, weder in der der Revolution noch in der der Restauration. Vor dieser Schwierigkeit flieht er noch einmal in eine Art Militär. 1794 tritt der inzwischen wegen Desertion Gesuchte unter falschem Namen der »Armée roulante« (Rollende Armee) bei, die aus etwa zweitausend Pseudooffizieren besteht, welche auf Kosten von belgischen und holländischen Adeligen leben. Doch die Denunziation, die er später zu einem System ausbauen soll, wird ihm selbst zum Verhängnis. Wieder und wieder wird er verpfiffen, wieder und wieder wirft man ihn in den Kerker, wieder und wieder entflieht er – jedesmal auf originelle Weise. Seine siebente Flucht, 1798 aus dem Bagno (Straflager) von Brest, gelingt ihm, indem er sich als Nonne verkleidet. Seine Memoiren schmücken die Geschichte erotisch aus. Ob sie wahr ist? Wer weiß. Dieses Leben gibt es nur als Schelmenroman.
Jedesmal, wenn er dem Gefängnis entkommen ist, versucht er, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen – als Händler von Strick- und Kurzwaren oder als Herrenausstatter. Doch seine Vergangenheit als Duellant und Deserteur holt ihn stets aufs neue ein, bis er sich, nach einem Dutzend Ausbrüchen, am 3. Juli 1809 der Pariser Polizeipräfektur zur Verfügung stellt. Seine Jahre unter den Gestrauchelten des Landes und sein überaus gutes Gedächtnis für Gesichter – später wird er prahlen, er kenne jede Physiognomie von Paris – machen ihn zum idealen Agenten. Er kennt die Gangster und ihre Methoden, er beherrscht ihre Sprache (und wird ein Wörterbuch mit »Gaunerausdrücken« vorlegen), er bewegt sich wie ein Fisch in ihren trüben Gewässern.
Und tatsächlich, es gelingt: »Die Gefängnisse füllten sich mit Personen, die allein durch mich aufgegriffen waren, und trotzdem hatte keiner auch nur im entferntesten die Idee, ich könnte der Denunziant gewesen sein.« Am 25. März 1811 entkommt er ein letztes Mal dem Gefängnis, doch diesmal ist die Flucht mit dem neuen Polizeipräfekten, Baron Étienne-Denis Pasquier, abgesprochen und dient lediglich der Täuschung der Mithäftlinge. Der Baron, ein gewiefter Statthalter des Ancien Régime, bereitet die Restauration der Bourbonen vor. Die Sûreté wird zum Teil dessen, was heute »Deep State« genannt wird.
Retter der Restauration
Vidocqs Schicksal stellt ihn, wie er bemerkt, fortwährend vor die Wahl, »entweder selbst das Schafott zu besteigen oder es andere besteigen zu lassen«. Er wirkt wie ein Getriebener und nicht wie ein großes Genie der Kriminalistik. Abgesehen von seinen Verkleidungen, die viel zu seiner Legende beigetragen haben, fallen seine Techniken handfest aus. Seinem allerersten Opfer, dem Geldfälscher Watrin, lauert er erst lange auf, und als der Unglückliche seinen Kopf aus seinem Versteck streckt, zieht Vidocq ihn an den Haaren heraus und schlägt ihn nieder. Der Fälscher endet unter der Guillotine. Vidocq wendet sich später gegen die Todesstrafe, jedoch mit dem kuriosen Argument, Leute wie Watrin weideten sich am Spektakel ihrer eigenen Hinrichtung. Den letzten Spaß will er ihnen nicht gönnen.
Seine Abenteuer haben etwas von Slapstick: »Ich fordere ihm seine Hosenträger ab, er gibt sie mir; nun bin ich Herr über ihn: Er kann mir weder widerstehen noch flüchten. Ich beeilte mich, ihn abzuführen.« Edgar Allan Poe bemerkt in seiner Detektivgeschichte »Doppelmord in der Rue Morgue« (1841) mit spitzer Zunge, diesem Polizisten habe es an analytischer Kraft gefehlt: »Er schwächte sein Sehvermögen, indem er dem Objekt zu nahe kam.« Doch den »Objekten« kommt leicht zu nah, wer den heißen Atem der Verfolger im Nacken spürt, und verfolgt wird Vidocq nicht nur von der Unterwelt, sondern auch von der ganzen übrigen Polizei. Die Kollegen hegen nicht nur eine heftige Abneigung gegen ein staatlich bestalltes Lumpenproletariat, sie neiden Vidocq auch seine rasch wachsende Popularität.
Von vielen Intrigen, Anfeindungen, Prozessen ermüdet, reicht er am 20. Juni 1827, nach rund 18 Jahren Dienst, seine Entlassung ein. Erneut versucht er sich als Unternehmer, diesmal mit einer Manufaktur für Papier und Pappe, Spezialität »fälschungssichere Bögen«. Wie schon bei der Sûreté sind alle seine Mitarbeiter frühere Sträflinge. Nebenbei schreibt er seine Memoiren, die mit einer wütenden Attacke gegen die von Fouché begründete politische Polizei enden, welche allein diejenigen Komplotte auflöse, die sie selbst geschmiedet habe. Es hat eine ganz eigene Ironie, dass er bei seinem erneuten Eintritt in die Polizei fünf Jahre später zum politischen Polizisten wird.
Seit 31. März 1832 ist er wieder Chef der Sûreté, knapp zwei Monate darauf bekommt er Wind von dem Plan, den Bürgerkönig Louis-Philippe zu stürzen. Vidocq erbittet sich Waffen und Waffenträger, was ihm beides nur zögerlich gewährt wird. Also zieht er mit seinen Knastbrüdern in den Krieg. Manche behaupten, er hätte den Thron gerettet. Sein Biograph Jean Savant (»Le vrai Vidocq«; 1957) bemerkt, Vidocqs Leute seien von »der Gesellschaft ins Straflager geschickt worden, weil sie ein Kaninchen, ein Huhn oder einen Hut gestohlen haben. Sie allein besitzen nun den Mut und die Größe, diese Gesellschaft zu verteidigen.« Freilich verteidigen sie nicht nur die bürgerliche Gesellschaft, die sie drangsaliert hat, sondern auch die Herrschaft der Finanzaristokratie.
Angeblich räumt Vidocq eigenhändig mehrere Barrikaden des Juniaufstands. Auch nimmt er einen von dessen Anführern, Édouard Colombat, fest, dem er einen »großen Einfluss auf die üblen Subjekte« zuschreibt, welche die »Cité unsicher machen«. Das Urteil gegen den Revolutionär Colombat lautet erst auf Tod, dann auf Verbannung. Kaum hat Vidocq dem Vaterland auf diese Weise gedient, zieht er sich am 15. November des Jahres auch schon wieder aus dem Polizeidienst zurück und gründet das erste Detektivbüro der Welt. Anders als seine früheren Firmen ist es recht erfolgreich. Nebenbei bringt er seine Bücher über Verbrecher und ihre Banden heraus.
Aristokratische Verbrecher
Sein Buch über »Les Voleurs« (Die Diebe; 1837) ist schon deshalb interessant, weil der am meisten gefürchtete Polizist des Landes sich darin erstaunlich reformistisch gibt. Zwar verwahrt er sich gegen die Vorstellung mancher »Philanthropen«, Verbrecher seien »Opfer einer verfehlten Gesellschaftsordnung«. Aber er kann dennoch im Verbrechen nichts anderes sehen als eine Erkrankung der »sittlichen Organe« eines Menschen. Alle kämen wir »gut« auf die Welt, doch hätten manche schlechten Umgang – und das gelte grundsätzlich für alle, die ins Gefängnis geworfen werden.
Es sei, schreibt Vidocq, einfach nur abstoßend, wenn sich ein vielversprechender junger Mann, nur weil er beim Pariser Karneval etwas zu hitzig den Cancan getanzt hat, unter »rückfälligen Strafgefangenen und unverbesserlichen Dieben« wiederfinde. Sie werden ihm andere Tänze beibringen. Die Untersuchungshaft, schreibt Vidocq, müsse verkürzt und das Straflager ganz abgeschafft werden. In Einzelhaft, so seine Empfehlung, möge man die Gefangenen ausschließlich nachts halten, um das »schändliche Laster« der Homosexualität zu unterbinden. Körperstrafen seien zu verbieten, um die Häftlinge nicht zu verbittern und die Wärter nicht zu verrohen.
Man gebe ihm, wettet Vidocq, 50 schwere Jungs, die von der feinen Gesellschaft für verloren gehalten werden, und er werde binnen kurzem wenigstens die Hälfte von ihnen auf den Pfad der Tugend geführt haben. Der wichtigste Punkt in seinem Resozialisierungsprogramm ist Arbeit. Er fordert, dass alle Häftlinge zu angemessener, ordentlich bezahlter Tätigkeit angehalten werden. Dass dem Häftling vom kargen Gefängnislohn nur ein Teil ausgezahlt werde, gehe nicht an: »Die Gefangenen nennen diejenigen, die den Zins ihres Lohns in die eigene Tasche stecken, ›Diebe‹. Haben sie nicht recht? Ich weigere mich, diese Frage zu beantworten.« Bestohlene Diebe und kriminelle Kriminalisten – es scheint, alle Figuren in dieser Geschichte sind Kippfiguren. Karl Marx spottet in der Kölnischen Zeitung (1842), in Vidocqs Dilemma spiegele sich das des Liberalen, entweder »Gefangener oder Gefangenwärter« zu sein.
Belehrung hält der Reformer Vidocq für die beste Prävention. Unbelehrbar sind für ihn allein die »professionellen Diebe«, doch gerade sie beschreibt er mit erkennbarer Faszination: Diese Aristokraten des Verbrechens (»haute pègre«), die aus den untersten Klassen kommen, hätten in einer Welt der Unordnung eine eigene Ordnung, eine »Bruderschaft«, etabliert und sich beispielsweise das ungeschriebene Gesetz gegeben, niemals etwas von geringem Wert zu stehlen. Sie liebten ihr ehrliches Metier, verachteten die Betrüger und pflegten ein biederes Familienleben. Aberglauben sei unter ihnen weit verbreitet, manche besuchten regelmäßig die Messe. Wie überall bei Vidocq vermischen sich auch hier soziologischer Bericht und literarische Fiktion; er weist selbst darauf hin, dass sein Freund Balzac in seinem »Vater Goriot« (1834/35) den Gentleman-Verbrechern ein Denkmal gesetzt hat.
Fast der ganze Rest von Vidocqs Leben ist überschattet von der Verfolgung jenes Staates, dem er doch so lange treu gedient hat. Bei einer Razzia 1837 werden in seiner Detektei und in seinem Haus Tausende Dossiers, größtenteils über hochgestellte Persönlichkeiten, sichergestellt. Wegen Betrugs wird er 1842 festgesetzt, im Jahr darauf wieder freigelassen. Nachdem er auf Plakaten zum Aufstand aufgerufen hat, verweist man ihn der Stadt Paris. Er lässt sich davon nicht einschüchtern, lebt aber ab 1845 immer wieder für längere Zeit in London.
Eine zwielichtige Rolle spielt er bei der Februarrevolution 1848: Zunächst steht er in Diensten des Kopfs der provisorischen Regierung, Alphonse de Lamartine, der übrigens ein begabter Dichter ist. Doch Vidocq setzt aufs falsche Pferd. Ein Jahr später wird er eingekerkert, weil er die Führer des Aufstands, darunter den späteren Kommunarden Louis-Auguste Blanqui, eingeschleust haben soll. Die Anklage, ohnehin wenig plausibel, wird niedergeschlagen. »Von Natur aus ein Liberaler, der sich gegen eine heuchlerische Gesellschaft empört, welche ihm fortwährend zusetzt, bleibt er doch ein Mann der Ordnung«, resümiert sein Biograph Savant. Und tatsächlich geht Vidocq – Fouché hätte nichts anderes getan – von Lamartine zur Ordnungspartei von Napoleon III. über, den Hugo als »Napoleon der Kleine« verspottet hat.
Der kleine Napoleon verweigert ihm zwar eine Rente, aber Eugène-François Vidocq scheint noch im hohen Alter kleinere Aufträge des Innenministeriums übernommen und auch andere Einkünfte bezogen zu haben. Nicht ganz ausgefüllt am Ende seines Lebens, verkürzt er sich die Zeit mit jungen Damen. Weder die Verbrecher auf der einen noch die auf der andern Seite der Barrikade bleiben ihm auf Dauer gewogen – aber die Frauen. Er stirbt 1857, mit 81 Jahren.
Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 19./20. Juli 2025 über den Psychiater und Kritiker des Kolonialismus, Frantz Fanon: »Die innere Kolonie«
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