In den Suizid getrieben
Von Dieter Reinisch
Im Zuge ihrer Digitalisierung führte die britische Post, Royal Mail, 1999 die Software »Horizon« des japanischen Unternehmens Fujitsu ein. Die Finanzsoftware sollte den Filialen bei der Buchhaltung helfen, doch sie hatte einen Fehler: Fälschlicherweise gab sie aus, dass Leiter von Postfilialen Geld unterschlagen hätten. Rund tausend Beschäftigte wurden verurteilt.
Der Royal-Mail-Horizon-Skandal hatte auch tödliche Folgen: Wie ein am Dienstag veröffentlichter Untersuchungsbericht nun darlegt, soll mehr als ein Dutzend Personen aufgrund der Vorwürfe Selbstmord begangen haben. Die Untersuchung wurde vom Obersten Gerichtshof in London angeordnet, nachdem der Skandal bekannt wurde.
Es bestehe eine »reale Möglichkeit«, dass mindestens 13 Personen aufgrund falscher Anschuldigungen Suizid begangen hätten, sagte der Leiter der Untersuchungskommission, Richter Wyn Williams, bei der Berichtsveröffentlichung. Weitere zehn Menschen hätten versucht, Suizid zu begehen, 59 Menschen hätten darüber nachgedacht.
Zwischen 1999 und 2013 waren etwa tausend Postbedienstete strafrechtlich verfolgt worden, weil sie angeblich Geld gestohlen hatten. In Wirklichkeit kamen die Fehlbeträge aber durch ein defektes Computerprogramm zustande. Postler kamen wegen Diebstahls in Haft, andere mussten Privatinsolvenz anmelden, verloren ihre Existenzgrundlage und Familien zerbrachen. Dutzende starben, ohne zuvor rehabilitiert worden zu sein.
Im 162 Seiten starken ersten Band seines Berichts forderte Williams daher dringend Maßnahmen, um eine »vollständige und faire« Entschädigung der Opfer zu gewährleisten. Zu seinen Empfehlungen gehörten kostenlose Rechtsberatung und Entschädigungen für Familienangehörige.
Williams sagte, es sei unmöglich, die genaue Zahl der Betroffenen zu ermitteln, und es gebe wohl 10.000 Anspruchsberechtigte für Entschädigungen: »Viele Tausende Menschen haben schwere finanzielle Schäden erlitten.« Und weiter: »Tragischerweise habe ich auch von Menschen gehört, von denen gesagt wird, sie seien in den Selbstmord getrieben worden«, zitierte ihn Reuters.
Williams schilderte exemplarisch 17 Schicksale. Fälle etwa, bei denen Postkollegen für kleine Fehlbeträge haftbar gemacht oder gar zu Unrecht inhaftiert worden sind. Oder von Personen, die wegen der falschen Anschuldigungen erkrankten und regelrecht in den Selbstmord getrieben wurden.
Ein Fall sticht besonders hervor: der von Martin Griffiths. Dem Filialleiter der Royal Mail wurde 2013 aufgrund von fehlerhaften Abrechnungen gekündigt. Daraufhin lief er absichtlich vor einen Bus und erlitt dabei mehrere schwere Verletzungen, die letztlich im Alter von 59 Jahren zu seinem Tod führten.
Auf Ersuchen der Untersuchungskommission identifizierte die Post sechs ehemalige Filialleiter, die Familienangaben zufolge Selbstmord begangen hatten. Weitere sieben Personen, die keine Filialleiter waren, hatten sich laut ihren Familien ebenfalls aufgrund falscher Vorwürfe das Leben genommen, heißt es in dem Bericht.
Labour-Wirtschaftsminister Jonathan Reynolds bezeichnete auf Sky News die Veröffentlichung des Berichts als sehr wichtig für Postmitarbeiter und ihre Familien: »Ich setze mich dafür ein, dass Geschädigte umfassende, faire und umgehende Wiedergutmachung erhalten«, sagte er. Die Regierung in London hatte im vergangenen Monat erklärt, dass in mehr als 7.500 Fällen bereits Entschädigungszahlungen geleistet worden seien. Mehr als 3.700 Fälle seien demnach noch in Bearbeitung. Und der für Postangelegenheiten zuständige Labour-Staatssekretär Gareth Thomas sagte nach der Berichtveröffentlichung gegenüber der BBC: Man dürfe die menschlichen Dramen des Horizon-Skandals »nie aus den Augen verlieren«. Die Empfehlungen des Berichts seien »äußerst hilfreich und geben Orientierung für notwendige Maßnahmen«, so Thomas weiter.
Die Untersuchung umfasste 226 Anhörungstage, 298 Zeugen wurden befragt. Der Abschlussbericht, der den Royal-Mail-Horizon-Skandal beinhaltet, werde zu gegebener Zeit veröffentlicht, so Williams bei der Präsentation am Dienstag.
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