Der Lack ist ab
Von Christian Bunke
Im Juli vergangenen Jahres löste die britische Labour-Partei unter ihrem Parteichef Keir Starmer die konservativen Tories als Regierungspartei ab. Europaweit reagierte die sogenannte bürgerliche »Mitte« darauf mit Erleichterung. Endlich habe sich bewiesen, dass »demokratische« Parteien noch Wahlen gewinnen und Regierungen führen können, so die Erzählung in den Kommentarspalten der meisten europäischen Medien. Für britische bürgerliche Kreise galt Starmer als Hoffnungsträger, der zuvor erfolgreich die linken Kräfte rund um den ehemaligen Parteichef Jeremy Corbyn kaltgestellt und teilweise von der Mitgliedschaft suspendiert hatte. Für Corbyn bedeutete dies, dass er bei den am 4. Juli abgehaltenen Unterhauswahlen seinen Wahlkreis im Londoner Stadtteil Islington nicht für die Labour-Partei verteidigen durfte. Corbyn kandidierte dennoch, allerdings als Unabhängiger, und besiegte erfolgreich den von Labour aufgestellten Gegenkandidaten. Seitdem hat er gemeinsam mit vier weiteren unabhängigen Abgeordneten eine eigene Gruppe gegründet und setzt die Sozialdemokraten von links unter Druck.
Von der bürgerlichen Euphorie gegenüber Starmer ist heute, ein Jahr später, kaum noch etwas zu spüren. Der Lack ist ab, und die britische Öffentlichkeit fragt sich zunehmend, ob Starmers Labour-Partei die ganze Legislaturperiode durchhalten kann. Die weltweite soziale und politische Instabilität macht auch vor Großbritannien nicht halt und sorgt für permanenten Tumult. Tatsächlich bricht das Zweiparteiensystem, das Großbritannien seit Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte, zunehmend auseinander. Weder die konservativen Tories noch die sozialdemokratische Labour-Partei können mehr auf eine stabile Klientel zugreifen.
Eine am 26. Juni im Auftrag der sozialdemokratischen Website »Labour First« vom Wahlforschungsinstitut Yougov veröffentlichte Studie fasst das Phänomen in Zahlen: Wären heute Wahlen, würde die extrem rechte, von Exbanker Nigel Farage geführte Partei »Reform UK« 26 Prozent der Stimmen erhalten und als stärkste Kraft ins Unterhaus einziehen. Labour würde nur noch 23 Prozent erhalten und auf dem zweiten Platz landen – ein dramatischer Einbruch. Die Tories würden mit 18 Prozent auf dem dritten Platz landen, ein historischer Tiefpunkt für eine Organisation, die sich selbst als »natürliche Regierungspartei« Großbritanniens betrachtet. Auf den vierten Platz kämen die Liberaldemokraten mit 15 Prozent, auf den fünften Rang die Grünen mit elf Prozent. Letztere erleben derzeit einen Aufschwung, weil sie sich bemühen, ein »ökopopulistisches« Feld zu bespielen.
Damit können die Grünen ein Feld bedienen, das von Labour im Vorjahr absichtlich ignoriert wurde. Denn die gesamte Strategie der britischen Sozialdemokraten des vergangenen Jahres bestand darin, sich selbst als eine seriösere Form von »Reform UK« zu präsentieren, um Nigel Farage das Wasser abzugraben. In diesem Sinne attackierte Labour Migranten, Muslime, trans Personen und Menschen mit psychischen und körperlichen Behinderungen, bei einer gleichzeitigen Militarisierung der britischen Außenpolitik. Unter Starmer gehen die Sozialdemokraten eindeutig nach rechts: »Ich bin ein harter Bastard«, sagte er dem Radiosender BBC Radio 4 anlässlich des Jubiläums seines Regierungsantritts, um sich in die Riege anderer Machos wie zum Beispiel Donald Trump einzuordnen.
Allein in den vergangenen Wochen ließ die Regierung des »harten Bastards« die Gruppe »Palestine Action« als terroristische Organisation verbieten, weil diese immer wieder in Großbritannien tätige israelische Rüstungskonzerne mit roter Farbe markiert hatte. Seit Ende Juni fordert Starmer den Ausschluss von trans Personen aus geschlechtsspezifisch definierten Räumen und reagiert so auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofs, das trans Personen aus dem Bereich der britischen Gleichstellungsgesetzgebung aussperrt. Am vergangenen Dienstag musste Starmer schließlich erleben, wie 49 Abgeordnete seiner eigenen Fraktion im Unterhaus gegen eine Sozialreform stimmten, die als Flaggschiff seiner Regierung geplant war. In dieser Reform geht es darum, die Zugangskriterien für Erwerbsunfähigkeits- und Behindertenleistungen drastisch zu verschärfen. Gegen diesen Gesetzentwurf gibt es bis heute starken Gegenwind. Und zwar nicht nur von seiten der Behindertenrechtsbewegung, sondern auch von Mitgliedern des britischen Gewerkschaftsbundes, die ansonsten Teile von Starmers Programm wie etwa die militärische Aufrüstung samt Produktion neuer U-Boote für die britische Kriegsmarine mittragen. Labour musste den Gesetzentwurf deshalb verwässern, um ihn erfolgreich durchs Parlament zu bringen.
Nun ist geplant, dass weitgehend »nur« zukünftige Antragsteller auf die genannten Sozialleistungen den verschärften Bedingungen unterworfen werden sollen. Dies wird von Aktionsgruppen wie der Organisation »Disabled People against Cuts« (DPAC) als Einführung eines Zweiklassensystems im britischen Sozialwesen abgelehnt. Auf den unter anderem von DPAC in den vergangenen Wochen organisierten Protesten waren immer wieder Schilder mit der Aufschrift »Cut warfare, not welfare« zu lesen: »Kürzt bei der Kriegführung, nicht beim Sozialwesen.« Das ist eine Stimmung, die in Großbritannien von genügend Menschen geteilt wird, um den Sozialdemokraten in Zukunft Probleme zu bereiten. Selbst innerhalb der Labour-Partei befürworten laut einer Ende Juni von »Labour List« durchgeführten Umfrage 64 Prozent einen Linksruck.
Hintergrund: Austritt dokumentiert
Am vergangenen Donnerstag veröffentlichte die Unterhausabgeordnete für den Wahlkreis Coventry-Süd, Zarah Sultana, folgendes Statement auf der Plattform X (leicht gekürzt):
»Heute erkläre ich nach 14 Jahren meinen Austritt aus der Labour-Partei. Jeremy Corbyn und ich werden die Gründung einer neuen Partei anführen, gemeinsam mit anderen unabhängigen Abgeordneten, Aktivistinnen und Aktivisten im ganzen Land. Westminster ist kaputt, doch die echte Krise geht tiefer. Nur 50 Familien besitzen heute mehr Vermögen als die gesamte Bevölkerung Großbritanniens. Die Armut wächst, die Ungleichheit ist obszön, und das Zweiparteiensystem bietet nichts als ein Management des Abschwungs und gebrochene Versprechen.
Vor zwei Jahren wurde ich von der Labour-Partei suspendiert, weil ich für die Abschaffung der Zwei-Kinder-Begrenzung gestimmt hatte, die 400.000 Kinder aus der Armut geholt hätte. Ich würde es wieder tun. Ich habe gegen die Abschaffung von Heizkostenbeihilfen für Rentner im Winter gestimmt. Ich würde es wieder tun. Derweil führt ein von Milliardären unterstützter Abzocker in den Meinungsumfragen, weil Labour komplett darin versagt, das Leben der Menschen zu verbessern. Und über das gesamte politische Spektrum hinweg, von Farage bis Starmer, werden Menschen mit Gewissen als Terroristen geschmäht, weil sie einen Genozid im Gazastreifen verhindern wollen.
Doch die Wahrheit ist deutlich: Diese Regierung nimmt aktiv an diesem Genozid teil. Und die Menschen in Großbritannien sind gegen den Genozid. Wir werden das nicht länger hinnehmen. Wir sind keine Insel von Fremden. Wir sind eine Insel, die leidet. Wir brauchen Wohnraum und ein Leben, das wir uns tatsächlich leisten können. Wir brauchen unser Geld für öffentliche Dienstleistungen, nicht für Kriege, die in alle Ewigkeit dauern. Im Jahr 2029 wird es eine klare Wahl geben: Sozialismus oder Barbarei.« (cb)
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vom 09.07.2025