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Aus: Ausgabe vom 08.07.2025, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Medizin

Klein, aber entscheidend

Schritte in der Krebsforschung: Genetische Differenz von Menschen und Affen als Schlüssel
Von Felix Bartels
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Auch wenn man’s nicht sieht: Schimpansen und Menschen unterscheiden sich genetisch nur zu zwei Prozent

Nichts geht über Körpermetaphern. Die Menenius-Agrippa-Fabel zum Beispiel erzählt vom Aufstand der Glieder gegen den Bauch, den sie als bloß verzehrendes Organ für überflüssig halten. Als er auf ihr Betreiben keine Nahrung mehr bekommt, werden der Körper und folglich alle Glieder schwach. Die Fabel, deren Ideenstruktur auch im 1. Korintherbrief des Paulus aufscheint, markiert jenen Punkt, von dem aus die bekloppte Ideologie des Bunds der Steuerzahler auszuhebeln wäre. Das Ganze ist mehr als seine Teile, ein Teil des Erwirtschafteten muss der Allgemeinheit vorbehalten bleiben, repräsentiert durch den Bauch, der nur scheinbar rein konsumierend ist. In den ersten Versen von Shakespeares »Richard II.« wird die Idee invertiert, aber derselben Logik nach. Denn in der Rhetorik der Glieder gegen den Bauch gibt sich asoziales Bewusstsein als soziales aus, getragen von der Idee, dass für alle nur gut sein kann, was auch für jeden gut ist. Shakespeare vergleicht das menschliche Gemeinwesen mit einem Garten, und zur Gartenarbeit gehört, Unkraut und wuchernde Triebe zu stutzen. Die Medizin war seinerzeit noch nicht so weit, andernfalls hätte er auch den Krebs als Metapher hernehmen können.

Denn eben das passiert bei einer Krebserkrankung: Zellen beginnen auf eigene Rechnung zu arbeiten, sich zu soliden Zentren zusammenzuschließen und irgendwann in den restlichen Körper auszustreuen, was zum Tod führt. Als Todesursache stand Krebs im Jahr 2023 in Deutschland auf Platz zwei. Mit 22,4 Prozent vor Erkrankungen im Atmungssystem (7,1), psychischen Erkrankungen (6,8), Verletzungen und Vergiftungen (4,8) und Krankheiten des Verdauungssystems (4,4). Nur Kreislaufkrankheiten haben mit 33,9 Prozent häufiger zum Tod geführt.

Die Besonderheit beim Krebs: Die Krebszellen wären gar nicht so gefährlich, wären sie nicht in der Lage, sich gut zu tarnen. Die körpereigene Abwehr ist ziemlich gut (und rücksichtslos) darin, Krebszellen abzutöten, sofern sie diese denn erkennt. Auch die Medizin muss mit dieser Blindheit arbeiten, die Chemo­therapie etwa lässt sich mit einem schweren Bombardement vergleichen, man schlägt mit gewaltigen Mitteln auf die Zellen ein, vernichtet dabei ziemlich viel, doch eben – so hofft man – die Krebszellen mit. Der Schwerpunkt der Krebsforschung liegt also nicht vor allem auf der Entwicklung von Kampfmitteln, sondern darauf, die Erkennung von Krebszellen zu verbessern.

In diesem Zusammenhang scheinen jüngere Entwicklungen von großer Bedeutung. Eine Forschungsgruppe um Brice Wamba von der University of California in Davis ist der Frage nachgegangen, warum Schimpansen so viel seltener an Krebs erkranken als Menschen. Das Team stellte seine Ergebnisse im Fachjournal Nature Communications vor. Demnach gibt es eine winzige Mutation im Proteinaufbau des menschlichen Immunsystems, das für eine große Schwachstelle bei der Krebsabwehr verantwortlich ist.

Schimpansen und Menschen teilen mehr als 98 Prozent ihres Erbguts. Dass trotz dieser hohen genomischen Ähnlichkeit derart signifikante Differenzen in Bezug auf Krebserkrankungen augenfällig sind, ließ sich mit der höheren Gefährdung des Menschen durch kulturelle Umstände (Rauchen, Lebensmittelindustrie vor allem) nie ganz erklären. Die Vermutung, dass es auch im Immunsystem selbst Differenzen geben muss, war nicht weit hergeholt. Wambas Team hat nun einen ersten Beweis für diesen Verdacht gefunden. Demzufolge unterscheidet sich das Immunprotein Fas-Ligand (FasL) von Menschen und Schimpansen insofern, als bei Schimpansen in diesem Protein an einer bestimmten Kontaktstelle die Aminosäure Prolin plaziert ist, während das menschliche FasL dort Serin trägt. Was vermutlich noch weitere Auswirkungen hatte. Dem Forschungsbericht zufolge könnte die Mutation von FasL verantwortlich für die Entwicklung des größeren Gehirns beim Menschen sein, das neben der Anfälligkeit für Krebs zu den auffälligsten Differenzen zwischen Mensch und Schimpanse gehört. Der evolutionäre Vorteil aber scheint einen Preis gehabt zu haben, da die »Mutation bestimmten Tumoren die Möglichkeit gewährt, Teile unseres Immunsystems zu deaktivieren«, schreiben die Autoren.

FasL sitzt auf der Oberfläche aktivierter T-Zellen, mit der Funktion, Krebszellen auszuschalten. Trifft das Protein auf eine Zelle mit entsprechendem Rezeptor, setzt es in dieser eine Art Programm zum Zelltod in Gang. Das menschliche FasL allerdings hat, anders als das der Schimpansen, eine Kontaktstelle, die dem Enzym Plasmin eine Reaktion ermöglicht, und Plasmin kommt in vielen soliden Tumoren vor, so bei Eierstockkrebs, Darmkrebs oder einigen Varianten von Brustkrebs. Bei Kontakt neutralisiert es das menschliche FasL-Protein, dessen Funktion, Krebszellen programmiert zu töten, dann verloren geht. Das FasL der Schimpansen dagegen bleibt bei Kontakt stabil. Zugleich erklärt diese Differenz, warum herkömmliche Immuntherapien bislang vor allem bei Blutkrebs erfolgreich sind, denn anders als bei soliden Tumoren spielt Plasmin hier kaum eine Rolle. Immuntherapien auch bei soliden Tumoren wirksamer werden zu lassen könnte ein Ergebnis der neueren Erkenntnisse werden. Auch damit hat das Forscherteam bereits begonnen. Durch die Entwicklung von Antikörpern, die die enzymatische Spaltung, die Plasmin in Gang setzt, gezielt blockieren.

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