Gegründet 1947 Donnerstag, 10. Juli 2025, Nr. 157
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 08.07.2025, Seite 5 / Inland
Gesundheitspolitik

Loch in Pflegekasse

Bund-Länder-Kommission berät über Reform der Versicherung. Betroffenenverbände bleiben vor der Tür
Von Oliver Rast
Rente_Steuern_Pflege_86530489.jpg
Wissen am besten, wie die Pflege reformiert werden sollte: Die Pflegebedürftigen

Sie müssen draußen bleiben: die wichtigsten Betroffenenverbände. Vor der Tür der Verhandler der Bund-Länder-Kommission für eine Pflegereform am Montag in Berlin. Unverständlich, finden die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), der Sozialverband Deutschland (SoVD), der Sozialverband VdK und der Bundesverband der Verbraucherzentralen gleichentags in einer Pressemitteilung. Denn »die Stimme der pflegebedürftigen und behinderten Menschen sowie ihrer An- und Zugehörigen darf in diesem Prozess nicht fehlen«. Zumal die Verbände laut Sozialgesetzbuch (SGB) ein Antrags- und Mitberatungsrecht in den Gremien der deutschen Selbstverwaltung im Bereich Pflege hätten – indes kein Stimmrecht.

Dabei stimmt es, die Finanzlage der sozialen Pflegeversicherung (SPV) ist akut. Laut eines Berichts des Bundesrechnungshofs droht den Pflegekassen bis 2029 eine Finanzlücke von 12,3 Milliarden Euro, berichtete Tagesschau.de am Montag. Bereits 2024 hatte die SPV nach Angaben der Pflegekassen ein Defizit in Höhe von 1,54 Milliarden Euro eingefahren. Im ersten Quartal dieses Jahres ein Minus von 160 Millionen Euro – trotz Erhöhung des allgemeinen Beitragssatzes zu Jahresbeginn von 3,4 Prozent auf 3,6 Prozent des Bruttoeinkommens.

In der 1995 eingeführten SPV sind hierzulande rund 73,3 Millionen Personen versichert, etwa 90 Prozent der Bevölkerung. Der Rest ist privat abgesichert. Das heißt, alle gesetzlich Krankenversicherten sind automatisch in der SPV, alle anderen müssen sich eine Privatkasse suchen. Dem Statistischen Bundesamt zufolge waren im Dezember 2023 in Deutschland knapp 5,7 Millionen Menschen pflegebedürftig; im Vergleich zwei Jahre zuvor ein Plus von 730.000 Personen.

Um das Finanzloch bei der SPV zu stopfen, sieht der Haushaltsentwurf des Bundes für das aktuelle und kommende Jahr zwei Darlehen vor. 2025 werden 0,5 Milliarden Euro an den Ausgleichsfonds der SPV und 2026 weitere 1,5 Milliarden Euro überwiesen. Die Rückzahlung muss ab 2029 erfolgen. Um die Beitragssätze stabil zu halten, »brauchen wir kurzfristig mehr Unterstützung aus dem Haushalt«, sagte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) am Montag im ZDF-»Morgenmagazin.« Sonst sei eine Beitragserhöhung im Januar zu befürchten. »Die wollen wir gern abwenden.«

In die Offensive geht die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Demnach sollten Pflegebedürftige im ersten Betreuungsjahr je nach Pflegegrad »noch keine größeren Leistungsansprüche haben«. Es müsse eine »Karenzzeit« gelten, steht in einem bislang unveröffentlichten BDA-Papier, aus dem die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Montagausgabe zitierte. So sollen zehn Prozent der Pflegekosten »eingespart« werden können, mehr als sechs Milliarden Euro im Jahr.

Planspiele, von denen Anja Piel gar nichts hält. Ausgaben und Pflegeleistungen zusammenzustreichen, etwa mittels Karenzzeiten, »in der die Versicherten die Pflegekosten selbst tragen müssen, kommen nicht in Frage«, betonte das DGB-Vorstandsmitglied am Sonntag in einer Stellungnahme. Wer bei der Pflege den Rotstift ansetze, nehme Verarmung der zu Pflegenden samt Angehörigen billigend in Kauf »und riskiert im schlimmsten Fall sogar den frühen Tod von Betroffenen«. Aber auch das Zwei-Milliarden-Darlehen aus dem Bundeshaushalt reiche nicht, um die Pflegekassen nachhaltig zu entlasten.

Besonders »alarmierend« sei die Situation in der häuslichen Pflege, so Verena Bentele. Derzeit würden 86 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt, zumeist von Familienmitgliedern, weiß die Präsidentin des Sozialverbands VdK. Mit Folgen: Fast die Hälfte reduziere für die Pflege ihre Arbeitszeit. Und mehr als 50 Prozent der Pflegenden vernachlässigten ihre eigene Gesundheit. Ferner müssten die Eigenanteile in der stationären Pflege gedeckelt werden, ergänzte Piel. Und zusätzlich müsse der Steuerzuschuss zur Pflege wieder eingeführt werden.

Das Hauptproblem sind versicherungsfremde Leistungen. Die machten laut Deutscher Stiftung Patientenschutz rund 15 Milliarden Euro aus. Jährlich. Diese Summe werde »den Hilfsbedürftigen und Beitragszahlern aufgelastet«, so deren Vorstand Eugen Brysch gegenüber der Nachrichtenagentur KNA. Beispiel: Der Bund steht bei der SPV in der Kreide, mit 5,2 Milliarden Euro für Auslagen während der Coronakrise. Zurückzahlen will er aber nicht.

Der beste Reformschritt sei die Einführung einer solidarischen Pflegevollversicherung, in die alle Einkommensarten einbezogen würden, fordert der Sozialverband VdK. Also auch Einkünfte aus Vermietung, Verpachtung und Kapitalerträgen. Bloß: Überbringer solcher Ideen müssen bei der Bund-Länder-Pflege-Gesprächsrunde vor der Tür bleiben.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Ein »privatwirtschaftlich organisiertes Altersvorsorgedepot« pla...
    14.04.2025

    Sozialausgaben unter Druck

    Mehr Kapitaldeckung bei der Rente, sinkende Pflegeleistungen. Und ein neuer Dreh für die Aktienrente
  • Die BRD bleibt eines: Ein Klassenstaat. Oder: Villa kontra Fabri...
    17.09.2024

    Ungleiche Sozialabgaben

    Beitragsbemessungsgrenze wird im Jahr 2025 angehoben. Einkommen aus Vermögen und Vermietungen bleiben allerdings unberücksichtigt
  • Zahl der Bedürftigen explodiert, genauso die Kosten: Pflegeheim ...
    30.05.2024

    Erde an Lauterbach

    Gewerkschaften und Sozialverbände fordern solidarische Pflegegarantie