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Aus: Ausgabe vom 07.07.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Militärgeschichte

Ereignis und Geschichte

Am Schluss Propaganda für Aufrüstung und »Zeitenwende«: Stig Försters deutsche Militärgeschichte überzeugt nur zum kleineren Teil
Von Kai Köhler
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Preußische Truppen in der Schlacht bei Leuthen im Dezember 1757 (Darstellung aus dem 19. Jahrhundert)

Es ist ein ehrgeiziges Unterfangen, eine deutsche Militärgeschichte des vergangenen halben Jahrtausends zu verfassen. Nicht einfacher wird es, wenn man sich wie Stig Förster der britischen »War and Society«-Schule verpflichtet sieht. Dann genügt es nicht, die Entwicklung der Militärorganisation und ihrer Waffen sowie eine Ereignisgeschichte der Kriege vorzulegen. Zusätzlich rücken die Beziehungen von Militär und Politik, von Militär und Gesellschaft in den Blick. Dazu gehören auch die Fragen, wie Militärdienst und Kriege erlebt und erinnert werden, dazu gehört der Komplex von Militär und Geschlecht beziehungsweise Geschlechterbildern. All dies versucht Förster auf 1.300 Seiten abzudecken. Das geht nicht ohne Lücken.

Das Buch ist kein Forschungsbeitrag und soll es nicht sein. Förster hat sich ein Wissenschaftlerleben lang mit Krieg und Militär befasst; hier trägt er seine Erkenntnisse zusammen – und die anderer Fachleute, wie knapp neunzig Seiten mit Anmerkungen belegen. Es handelt sich dennoch um eine Arbeit, die auch interessierte Laien ansprechen soll. Der Umschlagtext droht mit einer »flott geschriebenen Darstellung«. So schlimm kommt es dann nicht, der Unterhaltungswert von Stalingrad ist auch bei Förster gering. Jedenfalls schreibt er zugänglich. Er geht sichtlich von einem geduldigen Leser mit relativ wenig Vorwissen aus. Die politischen Entwicklungen referiert er sehr breit und manchmal ausführlicher als für eine Militärgeschichte notwendig.

Bleibt also für das Wesentliche zuwenig Platz? Ja und nein. Auf Seite 177 beginnt schon die Französische Revolution, ist also mehr als die Hälfte des Berichtszeitraums abgearbeitet. Allerdings ist auf den 177 Seiten davor der »War and Society«-Ansatz am überzeugendsten entwickelt. Hier bringt Förster das Zusammenspiel der Dimensionen Militärorganisation, Technik und gesellschaftlicher Wandel gut auf den Punkt. Danach überlagert zunehmend die Ereignisgeschichte die Darstellung wesentlicher Entwicklungen. So sind den beiden Weltkriegen je etwa 130 Seiten gewidmet, wobei Förster fast alle wichtigen Schlachten anführt, also keine gründlicher behandelt. Das Erleben von unten fehlt – trotz der Masse an verfügbarem Material – nun fast völlig, und so wird es bis fast zum Ende bleiben, nämlich bis Förster Bundeswehr-Soldaten zu Wort kommen lässt, die sich in Afghanistan von einer Politik »alleingelassen« fühlten, die kein klares Ziel dieses Einsatzes bestimmt hatte.

Das Verhältnis von Politik und Militär erweist sich als zentrales Thema der späteren Kapitel. Die Bemerkung von Clausewitz, dass Krieg »eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel« sei, war keine Verharmlosung von Kriegen. Vielmehr diente sie der Erklärung dafür, dass im Krieg oft nicht das nach »rein« militärischen Erwägungen Zweckmäßigste getan wird. Dieses Spannungsverhältnis hatte begrenzte Auswirkungen, solange ein Fürst wie König Friedrich II. von Preußen gleichzeitig auch der oberste Feldherr war. Sobald sich politische und militärische Führung trennten, wurde das Problem offensichtlich.

Exemplarisch stellt Förster dies für das wilhelminische Kaiserreich dar. Hier gab es nicht nur verschiedene zivile Machtzentren. Auch innerhalb des Militärs gab es unterschiedliche Akteure mit Eigeninteressen. Die gewaltige Flottenrüstung zog Ressourcen vom Heer ab. Der Generalstab rechnete aus, wie viele zusätzliche Divisionen für den dann auch eingetretenen Fall eines Zweifrontenkrieges nötig waren; das Kriegsministerium sorgte sich um die soziale und politische Homogenität des Offizierskorps und bremste bis zu einem gewissen Grad die »Heereserweiterung«. Das ist politikgeschichtlich instruktiv. Die eingangs versprochene Sozialgeschichte des Militärs tritt allerdings in den Hintergrund und bleibt dort auch.

Militärgeschichte heißt nicht Militarismus. Förster benennt das Leiden im Krieg, und er beschönigt die Verbrechen in der deutschen Militärgeschichte nicht. Das betrifft die – kurz abgehandelten – Kolonialkriege ebenso wie die in Reichswehr und Wehrmacht verbreitete Zustimmung zum Aufstieg des deutschen Faschismus. Vom Mythos einer im Zweiten Weltkrieg »anständig« gebliebenen Wehrmacht bleibt nichts übrig. Was den Beginn des Ersten Weltkriegs angeht, betont Förster die deutsche Hauptschuld. Freilich sieht er sie mehr bei der zivilen als bei der militärischen Führung. Das ist durchaus angemessen. In mehreren geschichtlichen Lagen gab es nicht die kriegsgeilen Generale hier und die auf Ausgleich bedachten Politiker dort: Oft waren es die Fachleute, die mögliche Herausforderungen des Ernstfalls vorhersehen konnten.

Darüber, wer die »Guten« im Dreißigjährigen Krieg waren, rechtet heute niemand mehr. Bezeichnenderweise wertet Förster um so mehr, je näher seine Darstellung an die Gegenwart rückt, und ebenso selbstverständlich provoziert dies Widerspruch. Zelebrierte die Führung des »Dritten Reichs« nach Stalingrad wirklich über gut zwei Jahre einen »grandiosen« Untergang? Die Nazis wussten nicht, was wir heute wissen, und hatten Grund zu der Annahme, das in der Tat widersprüchliche alliierte Bündnis werde noch rechtzeitig für sie auseinanderbrechen. Als ganz negativ erscheinen in der Darstellung Stalin und die Rote Armee. Übergriffe sowjetischer Soldaten in der letzten Kriegsphase führt er auf »Hetzpropaganda und auch die Ermunterung Stalins« zurück – als hätte es nach dem Anblick der von der deutschen Armee verwüsteten Sowjetunion noch einer solchen bedurft.

Schlimm ist dann der Schlussabschnitt, der das gegenwärtige Geschwätz von »Zeitenwende« und Aufrüstung gegen den gefährlichen Russen unreflektiert propagiert. Als Historiker weiß Förster verschiedene Akteure, ihre Interessenlagen und Handlungsspielräume einzuschätzen. Als Zeitgenosse verzichtet er darauf vollständig. Vielleicht kann man in zehn Jahren eine um diese Peinlichkeit erleichterte Neuausgabe seiner Militärgeschichte herausgeben – falls trotz der angestrebten Kriegstüchtigkeit Europa dann noch bewohnbar ist.

Stig Förster: Deutsche Militärgeschichte. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck 2025, 1.294 Seiten, 49,90 Euro

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