Jagd auf Ungläubige
Von Wiebke Diehl
Im Mai hat die demokratisch nicht legitimierte syrische Regierung unter Mohammed Al-Dscholani eine »Übergangsjustiz« geschaffen. Al-Dscholani erließ zwei Dekrete, auf deren Grundlage zwei Kommissionen eingerichtet wurden: die Nationale Kommission für Übergangsjustiz (NCTJ) und die Nationale Kommission für die Vermissten und Verschwundenen (NCM). Internationale und syrische Menschenrechtsorganisationen, darunter das Programm für internationale Justiz von Human Rights Watch sowie Amnesty International, bemängelten, mit dem Dekret fokussiere man sich fast ausschließlich auf Angehörige und Verbündete der gestürzten Assad-Regierung. Die zahlreichen Opfer von Milzen wie dem IS und der Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), die am 8. Dezember die Macht übernommen hat, blieben unbeachtet.
Akteure dieser Gruppen sind bis heute in Übergangsinstitutionen aktiv und einflussreich. Die Befehlskette derjenigen, die im März bei Massakern an der alawitischen Minderheit Tausende Menschen ermordeten und bis heute Minderheiten verfolgen, massakrieren, vergewaltigen, vertreiben und demütigen, führt nach Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters direkt zu den neuen Machthabern. Anstatt sie anzuklagen, wurden die Täter befördert. Die HTS-Regierung hat zudem in unzähligen Fällen Personen freigelassen, die schwerster Verbrechen beschuldigt werden. Wie die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte ermittelt hat, wurden zwischen Dezember und Juni fast 8.000 Menschen, die meisten davon Zivilisten, in Syrien getötet. Darunter befänden sich rund 2.130 »außergerichtliche Hinrichtungen und identitätsbasierte Tötungen«.
Zur gleichen Zeit schreitet die (salafistische) Islamisierung Syriens in immer schnelleren Schritten voran. Sowohl die Dienstleistungen des Staates als auch die Verteilung etwa von Mehl, Gas und Strom befinden sich mehr und mehr in den Händen religiöser Scheichs. Dies gilt auch für die Sicherheit an Kontrollpunkten, für die Vermittlung bei lokalen Streitigkeiten und sogar für Rechtsstreitigkeiten und militärische Angelegenheiten. Solches Personal betrachtet Angehörige religiöser Minderheiten als Ungläubige verweigert ihnen die gleichen Rechte und gesteht ihnen oft nicht einmal eine wie auch immer geartete Daseinsberechtigung zu.
Neben der Minderheit der Alawiten, der die Familie Assad angehört, sind auch Christen wachsenden Repressalien ausgesetzt. Am 22. Juni forderte ein Anschlag auf die griechisch-orthodoxe Kirche Mar-Elias in Damaskus 25 Tote und 52 Verletzte. Für Misstrauen sorgte, dass das Innenministerium unter Anas Khattab, einem der Mitbegründer der Nusra-Front aus der später die HTS entstand, bereits nach 15 Minuten die Identität des Attentäters, der angeblich dem IS angehörte, bekanntgab. In den folgenden Tagen wurde aufgedeckt, dass vielmehr Angehörige des Verteidigungsministeriums für die Attacke auf Mar-Elias verantwortlich waren. Der Attentäter sei ein Mitglied der Allgemeinen Sicherheitskräfte von Khattab, der sich in der Vergangenheit abfällig über Christen geäußert hat.
Bereits im Januar hatten HTS-Kräfte eine Razzia durchgeführt und behauptet, der IS habe einen Anschlag auf den schiitischen Schrein Zainab bin Ali in Saida-Zaineb geplant, um die Verfolgung von Minderheiten anderen Gruppen anzulasten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (8. Juli 2025 um 14:11 Uhr)Vielen Dank an Wiebke Diehl für die Berichte aus Syrien. Allerdings hat sich in der Unterüberschrift eine missverständliche Aussage eingeschlichen: »Die Verfolgung von Christen hat in Syrien System«. Da könnte man denken, in Syrien war das immer so, also auch bei der gestürzten Regierung. Da schreibt sogar die grundsätzlich eher westlich eingestellte Wikipedia: »Verhältnis zum Assad-Regime: Die syrische Verfassung garantiert nominell die Religionsfreiheit, das Amt des Staatspräsidenten ist jedoch ausschließlich den Muslimen vorbehalten. Dennoch zeigt sich die marxistisch beeinflusste syrische Regierung unter der Baath-Partei, die über ein offiziell sozialistisch-volksrepublikanisches System herrscht, als außerordentlich tolerant gegenüber religiösen Minderheiten, einschließlich der Christen und Juden. Christliche Kirchen sind anerkannt und kaum einem solchen gesellschaftlichen Druck wie früher ausgesetzt. Auch ein Gründungsmitglied der Baath-Partei, Michel Aflaq, war Christ«. (…)
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