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Aus: Ausgabe vom 05.07.2025, Seite 15 / Geschichte
Geschichte

Erzwungenes Zugeständnis

1950 erkannte die DDR im Görlitzer Vertrag die Oder-Neiße-Grenze an. Glücklich war sie damit nicht: Die Westverschiebung Polens war ein sowjetisches Projekt
Von Reinhard Lauterbach
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Otto Grotewohl (l.) und der polnische Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz bei einem Empfang in Warschau (1.1.1950)

Am 6. Juli 1950 sendete der Rundfunk der DDR eine Ansprache von DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl. Gerade hatte der DDR-Regierungschef gemeinsam mit seinem polnischen Kollegen Józef Cyrankiewicz in Zgorzelec – dem früheren Ostteil von Görlitz – das Abkommen über »die Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze« unterzeichnet. Die beiden Adjektive waren vieldeutig genug: dass die Grenze »bestand«, war als Tatsache nicht zu bestreiten; dass sie »festgelegt« war, verweist darauf, dass nicht zwangsläufig die beiden Vertragsparteien diejenigen gewesen sein mussten, die diese Festlegung getroffen hatten.

In seiner Ansprache wurde Grotewohl noch deutlicher: »Nach den Plänen der amerikanischen Kriegshetzer soll die deutsch-polnische Grenze ein ewiger Zankapfel zwischen den Völkern sein, damit sie ihre Politik der Völkerverhetzung für die Inszenierung neuer Kriege nutzen können. Aber Genossen, das machen wir nicht mit. (Beifall) Das Abkommen über die Oder-Neiße-Grenze ist ein schwerer Schlag gegen alle Kriegsbrandstifter, weil diese Grenze die Friedensgrenze ist. Wir wollen Frieden und wünschen Freundschaft. (Jubel: ›Es lebe die deutsch-polnische Freundschaft, hoch, hoch! Es lebe die Freundschaft zwischen dem deutschen und dem polnischen Volke‹). (Beifall, rhythmisch: ›Stalin, Stalin!‹) Es lebe der Freund aller friedliebenden Menschen der ganzen Welt – Josef Stalin!«

So jedenfalls sendete es aus Anlass des Vertragsjubiläums vor 20 Jahren der Deutschlandfunk aus seinem Archiv, ohne sich die naheliegende Frage zu stellen: Was bitte sollte an dieser Stelle die Anrufung eines Dritten, der an dem Geschehenen doch gar keinen unmittelbaren Anteil genommen hatte? Eben: Weil er mittelbar den zentralen Anteil daran hatte, und Grotewohls invocatio war das Signal an alle DDR-Bürger, die zwischen den Zeilen zu lesen bzw. zu hören verstanden: Unser Projekt ist das nicht. Dahinter stehen die sowjetischen »Freunde«.

Sowjetische Motive

In der Tat hatte die KPD- und spätere DDR-Führung seit 1945 mehrfach versucht, noch Einfluss auf die Grenzziehung zu nehmen. Wilhelm Pieck, der selbst aus der durch die Oder-Neiße-Grenze geteilten Stadt Guben stammte und dessen Elternhaus im nun polnischen Ostteil der Stadt lag, hatte im Herbst 1946 noch erklärt: »Wir werden alles tun, damit bei den Alliierten die Grenzfrage nachgeprüft und eine ernste Korrektur an der jetzt bestehenden Ostgrenze vorgenommen wird.« Aber Pieck, der Gründungsmitglied der KPD gewesen war und als Delegierter zum III. Kominternkongress Lenin persönlich kennengelernt hatte, drang mit seinen Bemühungen bei der sowjetischen Seite nicht durch. Seine Kritik richtete sich insbesondere dagegen, dass sich Polen 1945 eigenmächtig, aber mit zumindest nachträglicher Billigung durch die sowjetische Seite, das auf dem linken Oderufer – und damit nach dem Wortlaut des Potsdamer Abkommens auf deutscher Seite – liegende Stettin und Swinemünde angeeignet hatte.

Aus polnischer Sicht war dieser Handstreich naheliegend: Stettin war ein wichtiger Ostseehafen, und Swinemünde kontrollierte den Ausgang aus dem Oderhaff in die Ostsee, ergänzte also strategisch die polnische Herrschaft über Stettin. Aber auch die polnische Aktion rundete nur ab, was auf sowjetische Initiative bereits Ende 1943 auf der alliierten Kriegszielkonferenz in Teheran im Prinzip beschlossen und in Potsdam im Sommer 1945 feinjustiert worden war: die Westverschiebung Polens. Stalin hatte auf dieser Verschiebung bestanden, und Großbritannien und die USA hatten dem zugestimmt – teils aus Gleichgültigkeit, teils in der Einsicht, diese Verschiebung angesichts der militärischen Lage ohnehin nicht mehr verhindern zu können.

Das Kriegsziel, das die Sowjetunion mit der Westverschiebung Polens verfolgte, war ein dreifaches: erstens die sowjetische Niederlage im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919 – der im Grunde um die Kontrolle der Ukraine geführt worden war – und den aus sowjetischer Sicht faulen Kompromiss des Friedens von Riga (1921) mit deren Aufteilung zwischen Polen und der UdSSR zu revidieren und die polnisch-sowjetische Grenze in Einklang mit der nach dem Ersten Weltkrieg von Großbritannien aufgestellten Curzon-Linie zu bringen. Stalin hatte an dieser Revision im übrigen auch ein persönliches Interesse. Denn seine Eigenmächtigkeiten als Politkommissar von Budjonnys Reiterarmee hatten 1920 erheblich, wenn nicht entscheidend, zur sowjetischen Niederlage vor Warschau beigetragen. Über die Curzon-Linie – die sich an ethnologischen Kriterien orientierte und die im wesentlichen der heutigen polnischen Ostgrenze entspricht – hatte sich Polens damaliger Staatschef Józef Piłsudski seinerzeit hinweggesetzt, was Großbritannien noch 1939 veranlasste, Polen staatliche Existenz, nicht aber dessen Grenzen zu garantieren.

Zweitens ging es Stalin darum, die Gebiete, die sich die UdSSR 1939 im deutsch-sowjetischen Nichtangriffsabkommen gesichert hatte, zu behalten – ohne gleichzeitig das Problem einer größeren polnischen Minderheit im eigenen Land zu riskieren. Denn ob die sich politisch loyal verhalten würde, war nach dem Scheitern der sowjetischen Agitationsversuche für ein »Rätepolen« im Zuge des Krieges von 1919/20 mehr als zweifelhaft. Die dritte Kalkulation Stalins war auf die Zukunft gerichtet: Eine so bedeutende Verschiebung Polens auf Kosten des im Krieg geschlagenen Deutschlands würde ein dauerhaftes Konfliktpotential zwischen Polen und Deutschland schaffen und ersteres damit aus eigenem Interesse am Erhalt seines territorialen Besitzstandes strategisch an die UdSSR binden.

Verzögerte Anerkennung

Also behielt die UdSSR etwa 180.000 Quadratkilometer Vorkriegspolens ein und sorgte dafür, dass Polen mit 103.000 Quadratkilometern der damaligen deutschen Ostgebiete entschädigt wurde. Was die Sowjetunion nicht hinderte, auch in den an Polen übertragenen ehemals deutschen Gebieten Ausrüstungen, Bahngleise und dergleichen zu demontieren. Sie blieben aber wirtschaftlich erheblich höher entwickelt als die im Osten verlorenen Gebiete und waren insofern im nachhinein betrachtet kein schlechter Tausch für Polen. Aber die polnischen Eliten der Zwischenkriegszeit hätten lieber Lwiw und Vilnius behalten, als Breslau und Stettin zu bekommen. Nur die am rechten Rand des polnischen Parteienspektrums stehende »Nationaldemokratie« von Roman Dmowski hatte sich vor 1939 für eine Westerweiterung Polens eingesetzt. Ironischerweise waren es jetzt die mit Moskau verbündeten Kräfte in Polen, die diesen Plan verwirklichten.

Dass die Anerkennung der neuen Ostgrenze an Oder und Neiße auf DDR-Seite von Herzen kam, kann man nach den wenigen quellengesicherten Informationen über die internen Debatten bezweifeln. Der Zufluss deutscher »Umsiedler« in die sowjetische Besatzungszone bedeutete für diese ebensolche Integrationsprobleme wie auf westdeutscher Seite die Aufnahme der »Vertriebenen«. Aus dem öffentlichen Diskurs der DDR wurde das Thema weitestgehend herausgehalten. Auch auf polnischer Seite blieben Vorbehalte gegen die »Roten Preußen« bestehen. Eine größere »Friedensdividende« ergab sich für die DDR aus der Grenzanerkennung zunächst nicht. Erst in den 1970er Jahren wurde der Reiseverkehr zur VR Polen vorsichtig liberalisiert – nur um ab 1980 wieder eingeschränkt zu werden, als in Polen die »Solidarność« das sozialistische System ins Wanken brachte.

Die Bundesrepublik brauchte 20 Jahre länger als die DDR, um die entstandene neue Realität zur Kenntnis zu nehmen. Erst der Warschauer Vertrag vom Dezember 1970 brachte die wenigstens faktische Anerkennung des Verlaufs der polnischen Westgrenze durch die Regierung Brandt-Scheel. Und erst in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen von 1990 akzeptierte die BRD völkerrechtlich verbindlich, dass Breslau jetzt Wrocław hieß. Die Regierung Kohl-Genscher wollte die parallel laufende Angliederung der DDR, die sie in der Tasche hatte, nicht dadurch gefährden, dass sie Forderungen erhob, die weit weniger aussichtsreich waren und das Potential besaßen, alte Befürchtungen eines deutschen Revanchismus über Oder und Neiße hinaus aufleben zu lassen.

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