Rekonstruktion
Von Felix Bartels
Die Vögel sind schon wach. Sonst niemand. Bis auf das Einsatzkommando. Die Jungs mit dem Rammeisen schleichen über den Yard des kleinen Hauses in einem Vorort von Liverpool, zerschmettern die Tür, holen die Bewohner aus den Betten. Unterm Geschrei stellt sich heraus, der Sohn des Hauses steht unter Mordverdacht. Jamie ist 13 Jahre alt, optisch eher elf, schmächtig, klein, blass. Man ist sogleich auf seiner Seite. Zuviel Hitchcock gesehen, zu Unrecht beschuldigt, von allen verfolgt. Und überhaupt, er ist 13, come on!
Geschickt führt »Adolescence« in dieser ersten Folge den Zuschauer aufs Glatteis. Sehr bald in der Folge stellt sich heraus, dass die Beweise erdrückend sind. Jamie hat seine Mitschülerin ermordet. Keine Krimiserie also, eine Sozial- und Charakterstudie. Das Drehbuch ist akribisch gearbeitet, dialogisch, psychologisch, dramaturgisch bis ins letzte durchdacht. Die Folgen folgen einander im Sinne der Zeit, nicht im Sinne der Handlung. Einer König-Ödipus-Dramaturgie genauer: Die Tat liegt zu Beginn schon hinter uns, es geht um ihre Rekonstruktion. Die erzählte Zeit der vier Episoden ist zwar linear, doch jede Episode hat einen eigenen Ansatz. Folge eins ermittelt den Mord auf dem Revier, zu dem man Jamie bringt. Folge zwei, die einen Besuch der Polizei in der Schule zeigt, spiegelt durch das Umfeld die Motive der Tat. Folge drei ist ein Kammerspiel, man sieht die Befragung Jamies durch eine forensische Psychiaterin und taucht in die Seele des Jungen. Folge vier spielt Monate nach der Verhaftung, erzählt mithin die sozialen Auswirkungen des Mordes für die Familie und gibt diskret Fingerzeige, die Prägung des Täters betreffend. Obgleich es um die Beziehungen einer Handvoll Leute bloß geht, entsteht auf die Art ein Eindruck von Weitläufigkeit und Komplexität. In der Enge des Vororts, der Enge mithin der Familie, tut sich ein Kosmos auf. Wie bei einer gescheiten Psychoanalyse.
Die Erzählweise bedingt, dass es wenig dramatische Kollision gibt, Impulse der Handlung kommen aus der Vertiefung des Vorhandenen. In diesem Zusammenhang sind die ästhetischen Eigenheiten der Serie eher störend. Weniger die auditiven aber, der Score ist stark, weil gestisch gehalten. Man hört Spannung, Angst, Unsicherheit in den Tönen. Visuell scheinen die vier Folgen unnötig prätentiös. Sämtlich im One-Shot-Stil gehalten, und man fragt sich, warum eigentlich. In der ersten Folge ist der Verzicht auf Schnitt noch ein Gewinn. Verhaftung, Prozedur, Verhör werden eins zu eins miterlebt, was die Bindung an die Hauptfigur stärkt und für Fallhöhe im Moment der Wahrheit sorgt. In den weiteren Folgen hat die Technik kaum noch Sinn. Folge zwei gerät unfreiwillig komisch, weil der Gang durch die Schule wie eine abgepasste Ein-Auftritt-nach-dem-anderen-Nummer wirkt. Wer steht wohl hinter der nächsten Tür usw. Folge drei hat mit dem Kammerspiel bereits eine strenge formale Vorgabe, der One-Shot verpufft hier nicht bloß, er läuft der inhärenten Darstellungslogik eines Kammerspiels zuwider, denn die Faszination einer Plansequenz liegt wesentlich darin, dass die Kamera Bewegungen folgt.
Gleichwohl ist die dritte Folge der Höhepunkt der Serie. Wenn es um Rekonstruktion geht, wird Höhe erreicht, wo man in die Tiefe geht. Subtil und mit sensiblem Timing wird das Motiv der Tat im Gespräch zwischen Jamie und der forensischen Gutachterin Briony freigelegt. Frauenhass, verpackt im Gefühl aber, selbst das Opfer zu sein. Was so ziemlich der rote Faden ist, der sich durch sämtliche Kohorten der Manosphere zieht, jenem Milieu organisierten Frauenhasses, dem auch die Incel-Bewegung zuzurechnen ist. »80/20« lautet das Meme, das über mehrere Stationen vermittelt auf Jordan Petersons Chad-and-Stacy-Theorie zurückgeht, der für Andrew Tate nun nichts kann, aber ganz so frei vom Incel-Denken dann auch nicht ist. 80 Prozent der Frauen stehen auf 20 Prozent der Männer, und seit die Alphamänner (die Chads) nicht mehr sogleich nach der Highschool durch Heirat vom Markt sind, wird es für die 80 Prozent schwer mit der sexuellen Versorgung. Daraus leiten organisierte Incels ab, sich Sex mit Gewalt zu nehmen, denn in ihren Augen haben sie ein Recht auf Geschlechtsverkehr.
Katie hat den blassen Jamie als Incel bezeichnet, Jamie sie dafür umgebracht. Was juristisch als Motiv zur Verurteilung reicht, erweist sich psychologisch als komplizierter. In Katies Augen ist Jamie keine Größe, er kommt überhaupt nicht in Frage. Als sie Opfer von Cybermobbing wird, wähnt er sich ihr gleich, nähert sich und wird zurückgewiesen. Und nun seinerseits via Instagram gemobbt, ausgerechnet von ihr. Nicht mal dann also, als sie selbst am Boden lag, war er gut genug für sie. Im authentischen Schmerz, den Katie durch ihre öffentliche Bloßstellung verursacht, verbirgt sich narzisstische Kränkung, zugrundeliegender Frauenhass wird durch Schmerzerfahrung rationalisiert. Jamie meint nicht nur, Opfer zu sein, er ist eines. Ebenso aber ist er Täter. Was der Logik der Incels ziemlich entspricht: Sie nimmt Kränkung als Rechtfertigung für Gewalt her. Jamie, das kommt im Gespräch zutage, glaubt irgendwie, dass sein Erleiden sein Handeln rechtfertigt. Und dadurch bestätigt er gerade durch die Abwehr der Unterstellung, ein Incel zu sein, eben die Unterstellung.
Das Drehbuch legt Responsionen und Spiegelungen aus, alles scheint Sinn und Funktion zu haben. Zu Beginn der dritten Folge etwa versucht der Wärter der Anstalt sich im Anflirten bei der eingetroffenen Briony, obgleich er sich unmittelbar zuvor wie ein Trottel aufgeführt hat und weder, was sozialen Status und Bildungsgrad, noch, was sein Äußeres angeht, in ihrer Liga spielt. Das Incel-Setting wird unmittelbar vor dem Incel-Interview dezent gespiegelt.
Ähnlich dann auch das Ende der Befragung. Jamie stellt der Briony nach dem mehrstufigen Reveal eine Frage. Geschickt hatte sie die psychologische Technik der Übertragung genutzt. In der Psychoanalyse sind Gegenstand und Methode nicht getrennt, sie arbeitet als Beziehung zweier Menschen, was auch den Therapierenden, in diesem Fall die Gutachterin, an die Grenze bringt. Die letzte Einstellung zeigt Briony in Tränen ausbrechen. Jamie war zuvor abgeführt worden, schreiend, denn er hatte keine Antwort erhalten. Ob sie ihn denn möge. In dieser vorm Kontext absurden Frage spiegeln sich Triebstruktur und Denkmuster eines deformierten Charakters. Noch als überführter Mörder heischt Jamie um Anerkennung und Zuneigung einer für ihn nicht erreichbaren Frau. Und Briony entgegnet: »Ist dir klar, dass du einen Menschen umgebracht hast? Dass ihr Verhalten keine Rechtfertigung für einen Mord ist?« In diesem Moment, dem Höhepunkt der Serie, stehen voll entfaltete Wahrheit und vollständige Zerstörung der Beziehungen nebeneinander.
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