Wer kann ihn stoppen?
Von Holger Römers
Wenn am Sonnabend die 112. Tour de France beginnt, gilt Tadej Pogačar (UAE Team Emirates – XRG) wieder als Topfavorit. Der 26jährige Slowene, der 2024, 2021 und 2020 Gesamtsieger war, hat die voraussichtlich stärksten Konkurrenten beim wichtigsten Vorbereitungsrennen klar distanzieren können: Vor knapp einem Monat war er beim achttägigen Critérium du Dauphiné zwar im Zeitfahren deutlich langsamer als Jonas Vingegaard (Team Visma – Lease a Bike), der wiederum von Remco Evenepoel (Soudal Quick-Step) geschlagen wurde. Doch auf den entscheidenden Bergetappen verkehrten sich die Kräfteverhältnisse, und der belgische Dritte der vergangenen Frankreich-Rundfahrt war jeweils noch früher distanziert als der dänische Zweite der 2024er Tour.
Zuvor hatte Pogačar in diesem Jahr an vierzehn Renntagen sieben Siege eingestrichen, wobei ihm nur ein Fehler unterlaufen war: Beim Amstel-Gold-Rennen war er im April auf Platz zwei gelandet, weil er sich zu früh aus der Reserve locken lassen hatte. Es war schlicht unnötig, eine Attacke von Julian Alaphilippe (Tudor Pro Cycling Team) prompt mitzugehen, da der französische Doppelweltmeister seine besten Tage – leider – hinter sich hat und von dem 33jährigen also nicht zu befürchten war, dass er im Gegenwind 47 Kilometer solo zum Sieg fahren würde. Statt dessen strampelte sich bald der Slowene alleine ab – nur um eingeholt und im Sprint einer Dreiergruppe geschlagen zu werden.
Ähnlich übermütig hatte er sich zuletzt 2022 auf der elften Etappe der Tour gezeigt, als er partout jede Beschleunigung seines Landsmanns Primož Roglič parierte, obwohl der bereits in der Gesamtwertung zurücklag und von Sturzfolgen geplagt war. Bekanntlich war das Resultat, dass Pogačar dem Hauptkonkurrenten Vingegaard am Schlussanstieg nicht folgen konnte und ihm auch den Gesamterfolg überlassen musste. Der 28jährige Däne wird nun wohl darauf hoffen, den Vorjahressieger zu vergleichbaren Fehlern verleiten zu können, um dem eigenen zweiten Gesamtsieg von 2023 einen weiteren folgen zu lassen.
Dabei kann Vingegaard freilich nicht mehr auf Roglič als Kollegen zählen, weil der inzwischen für Red Bull – BORA Hansgrohe fährt. Obwohl dem 35jährigen Slowenen sein ursprüngliches Saisonziel eines zweiten Giro-Sieges durch notorisches Sturzpech vermasselt wurde, sind von ihm gleichwohl unvorhersehbare taktische Manöver zu erhoffen. Denn Roglič kann, selbst wenn er nach dem vorzeitigen Aus bei der Italien-Rundfahrt wieder topfit sein sollte, kaum darauf bauen, mit konservativer Fahrweise das offizielle Ziel eines Podiumsplatzes zu erreichen. Unterstützung wird der vierfache Vuelta-Sieger vom 24jährigen Deutschen Florian Lipowitz erwarten. Der Dritte der Dauphiné dürfte für sich selbst eine ähnlich gute Plazierung anstreben wie bei der vergangenen Spanien-Rundfahrt, bei der er Siebter war.
Vergleichbar starke Edelhelfer stehen Evenepoel nicht zur Verfügung, was begründen mag, weshalb der Vorjahresdritte gar nicht erst vom Tour-Gewinn sprechen will. Der 25jährige Vuelta-Sieger von 2022 nennt mit Verweis auf den durch einen Sturz verzögerten Saisoneinstieg einen erneuten Podiumsplatz als Ziel. Anders als der Belgier hat Vingegaard indes gleich zwei Fahrer zur Seite, die in der jüngeren Vergangenheit selbst dreiwöchige Landesrundfahrten gewinnen konnten: Simon Yates, der Vuelta-Sieger von 2018, hat unlängst beim Giro d’Italia triumphiert; allerdings ist fraglich, inwieweit der 32jährige Brite sich im vergangenen Monat von den Strapazen erholen konnte, die ihn jener Erfolg gekostet hat. Im Aufgebot steht zudem der 30jährige US-Amerikaner Sepp Kuss, der die Spanien-Rundfahrt 2023 gewonnen hatte, aber seitdem nicht zur Form jenes Karrierehöhepunktes zurückgefunden hat. Ebenso wenig wie von diesen beiden ist vom Kollegen Matteo Jorgenson, dem erneuten Gewinner von Paris–Nizza und Achten der vergangenen Tour, zu erwarten, dass er Pogačar im Hochgebirge in Schach halten könnte. Um so mehr bietet es sich also an, diese Fahrer zu vergleichsweise unkonventionellen Attacken und Ausreißversuchen zu animieren, auf die ihr Kapitän dann selbst reagieren könnte. Vingegaard bewies in der Dauphiné in jedem Fall Angriffslust, und auch wenn Team Visma bei Klassikern mitunter über die eigene Taktik stolpert, scheint es bei Etappenrennen der Konkurrenz oft um einen Gedankenschritt voraus.
Ein Grund mehr, weshalb Pogačar nun zu einer konservativen Fahrweise neigen sollte – zumal seine Mannschaftsleitung in Taktikfragen regelmäßig auf dem Schlauch zu stehen scheint. Das war nicht nur beim Giro so, sondern auch beim zweitwichtigsten Vorbereitungsrennen auf die Frankreich-Rundfahrt, bei der Tour de Suisse. Dort schien João Almeida gleich auf der ersten Etappe die Vorentscheidung verschlafen zu haben – weshalb freilich um so mehr beeindruckte, dass er dann neben drei Etappensiegen doch noch den Gesamtsieg einstreichen konnte. Der 26jährige Portugiese, der bei allen sechs Grand Tours, die er beendet hat, unter den Top ten landete, sollte dank seiner unnachahmlichen Zähigkeit wieder zu Pogačars wichtigstem Edelhelfer werden.
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