Oder eben nicht
Von Norman Philippen
Sie sind ein unsere Zukunft verspielt habender Boomer, eine Angehörige der unseren Wohlstand gefährdenden, faulen Gen Z? Nutzen die Sozialen Medien zu oft oder zu selten, haben (k)eine Familie, trugen zur späten Stund einen zu knappen Rock? Sind müde, krank, arm oder einfach nicht privilegiert genug, einsehen zu können, warum der Tod fürs Vaterland ein süßer sein soll? – Selbst schuld!
So spricht streng der in gleichnamiger Anthologie ausgemachte, über dem vorläufigen Gipfel der Verkehrung aller Verantwortungsverhältnisse schwebende Zeitgeist. Diesem energisch widersprechen möchten die Herausgeber Ann-Kristin Tlusty (Zeit Online, Deutschlandfunk) und Wolfgang M. Schmitt (Youtube). Die beklagen, dass »das 21. Jahrhundert … die ideologiekritischen Lektionen des 20. nicht gelernt« habe, sich heute hingegen »atomisierte einzelne mit detektivischem Eifer auf die Suche nach den Schuldigen« begeben, die das »Systemische an der Schuldkonstruktion« aber nicht einmal im Kinokrimi sehen wollen bzw. können: »Im Widerstand gegen diesen mind shift der Gegenwart wollen wir mit dieser Anthologie auf die Suche nach dem in dieser Gesellschaft unsichtbaren Dritten gehen. Nicht, um dem Ich und dem Du die Absolution zu erteilen, wohl aber, um zu ihrer Entlastung beizutragen.« In der Annahme, dass »die kommende Diskussion um Schuld politische Sprengkraft« berge, lautet der Anthologie Motto also »Entlasten wir das Individuum, damit es zum einen unbeschwerter durch diese zerrüttete Welt gehen kann, und zum anderen, damit es genügend Kraft hat, diese Welt zu verändern.« Denn: »Wenn Schuld wie ein injiziertes Lähmungsgift jede Veränderung der Positionen undenkbar macht, dann ist die Entlarvung die Vorbereitung für politischen Wandel.«
Oder eventuell immerhin für eine »revolutionäre Reform der Schuldfrage«. Als Antidot zum Ideologiegift Individualschuld bietet »Selbst Schuld!« zumindest dreizehn überwiegend recht persönlich gehaltene, individuell daher dekuvrierende Essays von jeweils selbstverschuldet politischer Sprengkraft. Während die 2001 geborene, jüngste Beiträgerin Sarah-Lee Heinrich, Exsprecherin der Grünen Jugend, von »Aufstiegsgeschichten« aus Sicht einer aus ihrer Hartz-4-Aufbringung entkommenen und (daher) dennoch von Schuld belasteten, erfolgreichen Studentin der Sozialwissenschaften schildert, redet des ältesten Beiträgers Dietmar Daths »Alltagstheologie« »nicht der unbewaffneten Predigt des abstrakt Guten das Wort«. Wohl und selbstverständlich aber der entwaffnend konkreten Marxschen Forderung nach der Umwerfung aller Verhältnisse, in denen der Mensch …, Sie wissen Bescheid, – und erst hinterher selbstentschuldet sich wähnen könnte.
So weit geht die Schriftstellerin Anke Stelling als zweite Vertreterin der »Generation X« – und so wie die übrigen Buchbeiträger – nicht, sondern macht geltend, dass es zeitlebens genügend gesellschaftlich oktroyierten Grund zur Scham gibt, die es abzulegen gelte. Dass vom Generationengerede keine Rede sein sollte, da dieses nur »reale Unterschiede im imaginären Generationenkonflikt einebnen« soll, zeigt Matthias Ubl (Jacobin Magazin, »Jacobin Talks«) korrekt auf – Unterschiede etwa wie die im Text »Soziale Ungleichheit« vom Bundesverdienstkreuz bewehrten Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani beschriebenen, die via des ideologischen Mittels individueller Schuldkonstruktion die Gemeinnützigkeit des gegenwärtgigen Gemeinwesens fürderhin torpediert. Journalistin Özge Inans Beitrag »Sexualisierte Gewalt« zeigt einerseits Verständnis für den »Selbstvorwurf-Mechanismus« der Opfer, aber auch, dass dieser die juristische Verurteilung der Täter erschwert. Der Sohn seiner Klasse Christian Baron prangert die staatlich forcierte Moralisierung von Armut an und stellt fest, dass wir es hier mit nicht weniger als »einer Kulturalisierung des Klassenkampfs« zu tun haben – der ja, so bemerkt Herausgeber Schmitt, auch auf den Schlachtfeldern ganz aktueller Kriege tobt beziehungsweise doch deutlicher toben könnte, erkennten nur mehr der Kombattanten, dass sie an deren Ausbrüchen eben nicht selbst schuld haben.
Uneingedenk der Frage, ob die Selbst-Schuld-Ideologie den herrschenden Zeitgeist stärker beherrscht als es der christliche Schuldkult seit jeher tut, ist »Selbst Schuld!« ein auch in der Badewanne gut vorlesbares Lesebuch geworden, das dem konstatierten »mind shift der Gegenwart« so widerständige Texte entgegensetzt, wie es Sozialdemokratie und Erwerbsbiographien der Beiträger ganz gerne noch erlauben.
Wolfgang M. Schmitt/Ann-Kristin Tlusty (Hg.): Selbst schuld! Carl-Hanser-Verlag, München 2024, 256 Seiten, 22 Euro
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