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Aus: Ausgabe vom 01.07.2025, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Klimawandel

Am Kippunkt

Die Ozeane halten das Ökosystem im Gleichgewicht. Genau deswegen drohen sie mittlerweile zu versauern
Von Wolfgang Pomrehn
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Auch für die menschliche Nahrungskette relevant

Die globale Erwärmung schreitet nicht nur voran. Sie beschleunigt sich, wie eine Untersuchung zeigt, die kürzlich auf der Plattform Earth System Science Data veröffentlicht wurde. Zwischen 2015 und 2024 waren es 0,27 Grad Celsius pro Jahrzehnt. 2024 war es – über den ganzen Planeten und das ganze Jahr gemittelt – 1,52 Grad Celsius wärmer als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieser Zeitraum wird allgemein als Referenz für einen vorindustriellen Zustand des Planeten genommen, weil damals der Ausstoß von Treibhausgasen noch minimal war, aber bereits eine für den Vergleich ausreichende Menge an Temperaturdaten erhoben wurde.

Auch wir in Mitteleuropa bekommen die Folgen der globalen Erwärmung zu spüren. Vergangene Woche wurde Deutschland mehrfach von schweren Unwettern heimgesucht, die in Berlin ein Todesopfer forderten und am Donnerstag in einem Wald im Nordwesten der Stadt mehrere tausend Bäume umwarfen. Die Gewitterfront zog mit Zerstörungen und Überschwemmungen bis nach Österreich hinunter. Kaum waren Gewitter und Orkanböen vorüber, rollte eine Hitzewelle an, die voraussichtlich an diesem Mittwoch ihren Höhepunkt erreichen wird. Im Südwesten könnten die Thermometer bis auf 39 Grad Celsius klettern. Doch das ist nur ein kleiner Ausschnitt der leichteren und schwereren Klimakatastrophen, die den Planeten in der vergangenen Woche heimgesucht haben. Die uns jetzt erreichende Hitzewelle hat zuvor im Süden Spaniens mit 46 Grad für einen neuen landesweiten Hitzerekord gesorgt. Der vorherige von 1965 lag bei 45,2 Grad. Auch aus Andorra, den USA, Indien, Frankreich, Russland, Griechenland, Neuseeland, Kanada, Kroatien, Frankreich, Mexiko, Thailand, Pakistan, der Türkei und China meldete man in den vergangenen Wochen schwere Hitzewellen, ungewöhnlich starke Waldbrände oder katastrophale Überschwemmungen. Die südostchinesische 300.000-Einwohner-Stadt Rongjiang wurde binnen Wochenfrist zweimal von Wolkenbrüchen heimgesucht, die zu nie zuvor gesehenen Überflutungen führten und Zehntausende Menschen aus ihren Häusern vertrieben.

All das könnte weit schlimmer aussehen, hätten die Weltmeere nicht die Fähigkeit, CO2 im großen Maßstab aufzunehmen. Andernfalls würde es mit der globalen Erwärmung schneller vorangehen. Zwischen 2014 und 2023 haben die Ozeane 26 Prozent der globalen CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe und der Veränderung der Landnutzung aufgenommen, hat das Global Carbon Project, ein internationales Wissenschaftskonsortium, errechnet. Mit letzterem sind Entwaldung, Entwässerung von Mooren und ähnliches gemeint, die, gegengerechnet mit dem Effekt nachwachsender Wälder, immerhin etwa zehn Prozent der durch menschliche Aktivitäten verursachten CO2-Emissionen ausmachen. Die Meere tragen maßgeblich dazu bei, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre nicht noch schneller ansteigt und mit ihr die globale Temperatur, denn je mehr CO2 in der Atmosphäre ist, desto mehr der von der Sonne eintreffenden Energie verbleibt im Erdsystem.

Allerdings hat diese »Dienstleistung« einen bedenklichen Nebeneffekt: Ozeane versauern durch CO2-Aufnahme, was längerfristig wichtige Nahrungsketten zusammenbrechen lassen könnte. Ist das Wasser zu sauer, haben Muscheln, Hummer, Korallen und andere Schalentiere Schwierigkeiten, ihr Gehäuse zu bilden. Auch Tiere mit Kalkskeletten bekommen Probleme. Die Folgen wären nicht nur für Korallenriffe und andere wichtige Ökosysteme verheerend, die ohnehin schon durch die Erwärmung der Meere erheblich gestresst sind. Nicht zuletzt würde die Welternährung erheblich leiden. Die UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung (FAO) schätzt, dass das Meer für drei Milliarden Menschen in den ärmeren Ländern im Durchschnitt mehr als 20 Prozent des konsumierten tierischen Eiweißes liefert. Küstenfischerei sei für die Gesundheit vieler Menschen in den Entwicklungsländern wichtig, weil sie sich andernfalls keine ausreichende Versorgung mit Eiweiß, Omega-3-Fettsäuren, den Vitaminen A und D, Kalzium, Eisen, Jod und Zink leisten können.

Nun schreitet die Versauerung aber noch schneller voran als bislang gedacht. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die vor drei Wochen von britischen und US-amerikanischen Forschern im Fachblatt Global Change Biology veröffentlicht wurde. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass bereits bei 40 Prozent der Oberflächengewässer und 60 Prozent der etwas tieferen Gewässer in bis zu 200 Meter unter der Oberfläche ein Zustand erreicht ist, der in der Nähe kritischer Schwellen liegt. Diese markieren nicht weniger als Kippunkte, hinter denen das System blitzartig in einen grundlegend anderen Zustand umschlägt, in diesem Fall einen ohne Krustentiere und mit zusammenbrechenden Nahrungsketten.

Die genannten Wassertiefen sind aber gerade jene Bereiche, in denen sich das meiste aquatische Leben abspielt. Entsprechend kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die potentiellen Lebensräume für tropische und subtropische Korallenriffe bereits um 43 Prozent und für Muscheln in den flachen Küstengewässern um 13 Prozent geschrumpft sind. Richtig eng wird es bei einem Minus von 61 Prozent für polare Flügelfüßer. Bei den winzigen Schnecken handelt es sich um einen Bestandteil des Planktons, der für Fische und Meeressäuger die direkte oder indirekte Nahrungsgrundlage ist. Mit jeder weiteren Tonne Kohle, Erdgas oder Erdöl, die verbrannt wird, nähern wir uns also dem Zusammenbruch der marinen Ökosysteme, und das mit raschem Schritt.

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