Antikoloniale Schlüsselfigur
Von Gerd Schumann
Endet die Philosophie des Ausplünderns, dann endet die Philosophie des Krieges.« (Fidel Castro)
Es mag der folgenschwerste Entschluss seines Lebens gewesen sein an jenem 1. Dezember 1960 am Ufer des Sankuru-Flusses: Er war auf die sichere Seite entkommen. Der erste frei gewählte Premierminister des neuen Staates Kongo war aus dem Hausarrest in seinem Amtssitz in der Hauptstadt Léopoldville (heute: Kinshasa), der doppelt bewacht gewesen war, geflohen. Er überlistete beide, sowohl die Soldaten seines ehemaligen Freundes, des nun abtrünnigen und von der CIA angeheuerten neuen Armeechefs Joseph-Désiré Mobutu, als auch die »Blauhelme«, die ihren Auftrag, legale Verhältnisse im Land wiederherzustellen, längst vergessen hatten.
Mit seinen Gefährten, mit Ehefrau Pauline und seinem jüngsten Kind verließ er das Gelände in einer Chevrolet-Limousine. Die Flucht war vorbereitet und der Zeitpunkt sorgsam gewählt. Unter dem Eindruck sturzbachartiger Regenfälle wurde das Auto nur oberflächlich kontrolliert. Der Premier lag in eine Decke gehüllt auf dem Rücksitz. Die »Chasse à l’homme« begann, eine logistisch von US-Agenten und Belgiern im Kongo unterstützte Menschenjagd der Armee Mobutus, der sich später ganz bescheiden »Sese Seko Kuku Ngbendu wa Zabanga« (deutsch: Der Krieger, der von Eroberung zu Eroberung schreitet, ohne Angst zu haben) nannte. Unter seiner Herrschaft wurde das Land strikt prowestlich ausgerichtet und erneut zur Ausplünderung freigegeben.
Das Ufer des Flusses wurde zwei Tage später erreicht, die Gruppe schien ihren Verfolgern entkommen zu sein, der willkürlich abgesetzte Premier stand kurz davor, seine Hochburg Stanleyville (heute: Kisangani) zu erreichen. Auf die Fähre aber musste gewartet werden, die Frau des Premiers wollte es so, weil sie die Überfahrt im Kanu scheute. Der Premier, sich der Gefahr bewusst, setzte zunächst ohne sie über. Es folgte jener tragische Augenblick, als ihn, bereits auf sicherem Terrain, sein Gewissen zwang, umzukehren: Er ließ sich zurückbringen. Dann erreichten Mobutus Soldaten das Ufer. Lumumba wurde umgehend verhaftet und in Léopoldville von den Putschisten auf einem offenen Militärlaster zur Schau gestellt, ohne seine Hornbrille, gezeichnet von Misshandlungen, mit einem vielleicht erstaunten Blick, in dem sich sein Schicksal spiegelte.
Das Foto des Schreckens ging um die Welt und hatte Massenproteste zur Folge, während sich der Widerstand auch im Land sammelte und weiter anwuchs. Der gefangene Mann wurde ins Militärcamp Hardy bei Thysville überführt. Er blieb selbst in Haft ein Risiko für die Machthaber. So verschleppten sie ihn nach sechs Wochen im Folterknast in die Separatistenprovinz Katanga. Am 17. Januar 1961 wurde er dort ermordet, sein Körper zerstückelt und in Säure aufgelöst. Die Überreste kamen in die Knochenmühle. Nichts sollte von ihm übrig bleiben.
Élias Okit’Asombo wurde am 2. Juli 1925 geboren. Unter dem Namen Patrice Émery Lumumba wurde er drei Jahrzehnte später zur Schlüsselfigur für die Zukunft des Kongo und ganz Afrikas. Doch sein Programm wurde brutalst gestoppt. Die hypothetische Frage, was aus dem Land am Kongostrom geworden wäre, hätte Lumumba seine Ideale verwirklichen können, erzeugt lähmende Bitternis angesichts dessen, was nach seinem Tode in der Demokratischen Republik Kongo (ab 1960, 1971–1997 Zaire), vormals Freistaat Kongo (1885–1908) und Belgisch-Kongo (1908–1960) geschah.
Lumumba erblickte unter der kolonialen Herrschaft in Belgisch-Kongo in dem Dorf Onalua (Provinz Kasai, heute: Sankuru) das Licht der Welt, mitten im Busch. »Das Herz der Finsternis« hatte Joseph Conrad Ende des 19. Jahrhunderts das Innere des schwarzen Kontinents genannt, größter Flächenstaat südlich der Sahara, eine wasserreiche Region. Onalua liegt einige hundert Kilometer nördlich der urgewaltigen Boyomafälle (früher: Stanleyfälle), sieben Katarakte, die die weitere Beschiffung des Kongostroms vom Atlantik aus unmöglich machen.
Hier wäre der Abenteurer und Journalist Henry Morton Stanley mit seiner Expedition vom Indischen zum Atlantischen Ozean 1877 fast gescheitert, nur mit dezimierter Mannschaft erreichte er im Jahr darauf doch noch den Golf von Guinea. Keine zehn Jahre später brachte er im Auftrag Léopolds II., des Mannes mit dem weißen, spatenförmigen Vollbart, die gesamte Region unter seine Kontrolle und legte die territorialen Grundlagen für den »Freistaat« als Privatbesitz des belgischen Königs. Erhalten hatte er den Auftrag auf der Berliner Kongo-Konferenz im Jahre 1884, bei der die europäischen Kolonialländer den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten.
Brutale Herrschaft
Léopold II. etablierte für fast ein Vierteljahrhundert – und höchstwahrscheinlich entspricht das trotz der Völkermorde in Deutsch-Südwest und Ostafrika den Tatsachen – die fürchterlichste unter allen fürchterlichen Kolonialherrschaften. Die Grausamkeiten, die unfassbare Entmenschlichung, die der Monarch über das Land brachte, führten zur Halbierung der Bevölkerung: von zu Stanleys Ankunftszeit geschätzten 29 Millionen auf etwa zehn bis zwölf Millionen Menschen im Jahr 1908.
Ob und welche familienbedingten Spuren diese Epoche der brutalen Ausplünderung bei Patrice Lumumba hinterlassen hat, ist weitgehend unbekannt. Allerdings waren seine Eltern – François Tolenga, ein armer Bauer, und dessen Frau Julienne Amatu, zuständig für die fünf Kinder und den Haushalt – noch unter Léopolds Gewaltherrschaft aufgewachsen; ein Großvater war bei einem Aufstand getötet worden. Doch Dokumentarisches liegt dazu kaum vor. In einer Enzyklopädie der New York Public Library wird lediglich berichtet, Lumumba habe sich später an Erzählungen von Älteren erinnert, wonach »Soldaten von Léopold II. folterten und Hände von Einheimischen, die die Normziele bei der Kautschukernte nicht erfüllt hatten, abschnitten«.
Bekannt dagegen sind große Teile von Lumumbas Sozialisation, ohne die seine Entwicklung zum ersten frei gewählten Premierminister nicht erklärbar ist. Bereits in jungen Jahren war Élias Okit’Asombo ein von seiner Nachbarschaft als widerborstig bezeichneter Wildfang, der »Lumumba« genannt wurde, was etwa »aufrührerische Massen« bedeutet, oder auch, so eine andere Quelle, »Mannschaft«, weil er wortgewandt war, sich durchsetzen konnte und Ausstrahlung besaß. Katholische Missionare – Lumumbas Vater war streng gläubig – tauften ihn schließlich auf den Namen »Patrice«. Von ihnen und später auf einer protestantischen Missionsschule wurde er bis zu seinem 17. Lebensjahr unterrichtet. Dort widersprach er auch schon mal seinen Lehrern oder korrigierte diese.
Bekannt ist auch, dass ihn sein Weg vom ländlichen Onalua, unweit der heute umkämpften, rohstoffreichen Kivu-Provinzen im Osten, in die Provinzhauptstadt Stanleyville führte, wo er eine Ausbildung zum Postbeamten absolvierte, Stammgast in Bibliotheken wurde, Weiterbildungskurse besuchte, sich juristische Kenntnisse aneignete und sich kulturpolitisch und schriftstellerisch betätigte. 1954 wurde er zum »Évolué« ernannt, übersetzt etwa mit »Entwickelter« oder auch »fortgeschrittener Neger«, so die offizielle Kategorisierung durch die Kolonialmacht.
Lumumba gehörte damit zur von den Belgiern aus der Bevölkerung heraus rekrutierten und der Herrschaft direkt unterstehenden Schicht Einheimischer, eine schwarze Elite, die allerdings, was Aufstiegsmöglichkeiten betraf, streng reglementiert wurde. Die Chance, die Ränge von Weißen zu erreichen, gab es nicht. Zudem erhielt er die »Carte d’Immatriculation«, die ihn wie insgesamt 150 Kongolesen als »europäisch zivilisiert« auswies. Doch wurden nur sehr wenige Studierende aus dem Kongo inklusive Ruanda-Urundi zu einem Studium zugelassen. Das System glich einer »veralteten Maschine, die so starr ist, dass sie zermalmen oder zerbrechen musste«, so der französische Philosoph Jean-Paul Sartre. Und die Zeit, um sie zu zerbrechen, schien reif.
Panafrikanismus
In Stanleyville arbeitete und lebte Lumumba schließlich über ein Jahrzehnt lang. Als er 1957 in die boomende Atlantikmetropole und Hauptstadt von Belgisch-Kongo, Léopoldville, kam, hatte er sich zu einer intelligenten und erfahrenen Persönlichkeit entwickelt. Im Jahr zuvor hatte er eine erste, tiefgründige Analyse der Kolonie Kongo verfasst, obwohl als Schrift zur Reformierung des Systems gedacht, konnte sie erst posthum erscheinen: »Le Congo. Terre d’avenir. Est-il menacé?« (deutsch: Kongo. Land der Zukunft. Ist er bedroht?)
Sein Ansehen als politischer Aktivist erwarb Lumumba sich nicht zuletzt als Vertreter einer belgischen Brauerei, deren Marke »Polar« er zum Kassenschlager machte: Er verband den Verkauf spitzzüngig mit agitatorischen Reden für die Freiheit von kolonialer Unterdrückung. Das Flaschenetikett entwickelte sich schließlich zum Bekenntnis für Unabhängigkeit und für Lumumba – als deren Vertreter. Wer die Marke bestellte, sagte: »Pesa ngai Lumumba« (Gib mir ein Lumumba). Wenn er auftrat oder auch nur einen Raum betrat, gehörte alle Aufmerksamkeit ihm – ein Schlaks, groß gewachsen, Anzug, schwarze Hornbrille, D’Artagnan-Bärtchen, Charisma und eine fesselnde Rhetorik.
Sein Werdegang prädestinierte ihn, die Befreiungsbewegung Mouvement National Congolais (MNC) mitzugründen – die einzige gesamtkongolesische, multiethnische Kraft des schnell wachsenden, meist auf ethnischer Grundlage basierenden Unabhängigkeitsstrebens. 1960 sollte zum »Afrikanischen Jahr« werden. Gemeinsam mit dem Kongo erhielten 17 Staaten die formelle Unabhängigkeit.
Das MNC trat ein für »ein Kongo der Kongolesen – nicht länger von separierten Stämmen« und war auch von der sozialpolitischen Ausrichtung vergleichbar mit anderen nationalen Befreiungsorganisationen Afrikas. Die Bewegung erarbeitete eine dementsprechende Plattform, deren zentrale Anliegen neben Unabhängigkeit und Afrikanisierung von Regierung und Verwaltung eine staatlich gelenkte wirtschaftliche Entwicklung und die Neutralität in der Außenpolitik bildeten – sowie ein afrikanischer Internationalismus. Als zentral für ihren spektakulären Aufstieg – und den ihres Vordenkers Lumumba – erwies sich die All-African Peoples’ Conference im ghanaischen Accra Ende 1958.
Dort traf Lumumba auf Kwame Nkrumah, den Präsidenten des seit 1957 unabhängigen Ghana (bis dahin britische Kronkolonie Goldküste und Britisch-Togoland) und erstes Land des subsaharischen Afrikas, das sich vom Kolonialismus gelöst hatte. Das war ein Jahr vor dem Nachbarn Guinea, dessen Präsident Ahmed Sékou Touré ebenfalls ein führender Vertreter des Panafrikanismus war. »Hände weg von Afrika! Afrika muss frei sein«, lautete das Motto des Kongresses. Als Ziel wurde formuliert, »aus diesem afrikanischen Kontinent einen freien, glücklichen Kontinent zu machen, erlöst von Furcht und Unruhe und von jeder Kolonialherrschaft« – die Vereinigten Staaten von Afrika.
Das MNC verankerte sich schnell in drei von sechs Provinzen Belgisch-Kongos. In den drei anderen hatten sie es mit politischen Führern zu tun, die primär ihre ethnischen Gruppen vertraten, darunter Moïse Tschombé in Katanga und Joseph Kasavubu in Bas-Congo. Spannungen zwischen den Ethnien existierten traditionell. Gründe waren das Häuptlingssystem und natürlich handfeste wirtschaftliche Interessen. Bei den Wahlen im Mai 1960 wurde das MNC mit 33 von 137 Sitzen stärkste Kraft, knapp ein Viertel der Wählerstimmen entfiel auf das Mouvement. Ob das Ergebnis korrekt war, ist unklar. Schließlich hatten die Belgier die Abstimmung organisiert. Jedenfalls war Lumumbas Partei darauf angewiesen, eine Koalition zu bilden. Eine solche zu verhindern, war den Belgiern wiederum viele Mühen wert.
Gefahr für Washington
Mit der Person Lumumbas verband sich die große Gefahr für Washington und Brüssel, ihrer Pfründe verlustig zu gehen – in Zeiten der sich in Afrika zuspitzenden Systemkonkurrenz war das für die USA auch geostrategisch untragbar, für das Königreich Belgien mit der bedeutenden Union Minière vor allem ökonomisch. Die Beziehungen waren, bei aller Konkurrenz, eng geknüpft: Der belgische Bergbaukonzern hatte unter anderem die 3.119 Tonnen Uran geliefert, die die USA für die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki verwendet hatten.
Beide westlichen Mächte hatten Lumumba als unumstrittenen Kopf der Unabhängigkeitsbewegung kennengelernt, die Belgier insbesondere, nachdem sie ihn infolge antikolonialistischer Proteste Ende 1959 im gefürchteten Untergrundgefängnis von Jadotville inhaftiert hatten. Verurteilt zu sechs Monaten Zwangsarbeit, mussten sie ihn bereits im Januar freilassen und aus dem Gefängnis direkt nach Brüssel ausfliegen lassen, weil ansonsten der runde Tisch mit Vertretern der antikolonialen Bewegung Kongos geplatzt wäre.
Nicht erst Lumumbas spektakuläre Rede bei der Unabhängigkeitsfeier am 30. Juni 1960 in der großen Rotunde des Palastes der Nation von Léopoldville machte ihn zum Feindbild Brüssels und Washingtons. Beide hatten viel zu verlieren, und es mag jene Mischung aus Unbestechlichkeit und dem Willen, das Land in eine tatsächliche Unabhängigkeit zu führen, gewesen sein, die sie so gegen ihn aufbrachte, dass sie zum Äußersten griffen. Der neue Premier bekam, einmal im Amt, keine Zeit zum Durchatmen und zur Formierung seiner Politik. Nach dem 30. Juni ging es Schlag auf Schlag.
Wenige Tage nach Lumumbas Amtsantritt meuterten Teile der Armee und verweigerten die Befehle der weißen Offiziere. Schnell hatte sich die Unzufriedenheit über eine nicht erkennbare Afrikanisierung ausgebreitet. Der Oberkommandierende, General Émile Janssens, verkündete am 5. Juli, dass sich an den Strukturen nichts ändern würde. Auf eine Tafel schrieb er: »Vor der Unabhängigkeit = nach der Unabhängigkeit«. Trotz Lumumbas Einlenken – er setzte Janssens ab, den Einheimischen Victor Lundula ein und nahm Rangerhöhungen vor – entlud sich der Unmut in Gewalt.
Brüssel zog daraufhin seine Experten und Fachkräfte ab, die überkommene Infrastruktur wurde ad hoc entblößt. Zehntausende Systemträger und deren Familien folgten der Aufforderung der belgischen Regierung, den Kongo zu verlassen. Lumumbas Vorhaben, mit den seit langem im Land tätigen Belgiern gemeinsam Gegenwart und Zukunft in einem unabhängigen Land zu gestalten, war geplatzt. Belgien intervenierte mit 10.000 Fallschirmjägern und installierte am 11. Juli 1960 unter tatkräftiger und finanzieller Unterstützung der Union Minière ein Marionettenregime in der rohstoffreichen Provinz Katanga. Den korrupten wie kolonialfreundlichen Tschombé machte es zum Präsidenten des Separatstaats.
Lumumba stemmte sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen: Großkundgebungen, Diplomatie auf Hochtouren. Auf einer Tour durch das ganze Land setzte er seine Fähigkeit ein, die Menschen zu überzeugen und für sich zu mobilisieren. In Katangas Hauptstadt Élisabethville (heute: Lubumbashi) allerdings wurde dem gewählten Premier die Landeerlaubnis verweigert. Trotzdem war das Echo landesweit überwältigend, die Sympathien für ihn schienen stärker zu sein als vor den Wahlen.
Mord beauftragt
Am 14. Juli forderte der UN-Sicherheitsrat auf Ersuchen von Kasavubu und Lumumba Belgien auf, seine Truppen abzuziehen. Der legitimen kongolesischen Regierung sollte jedwede Unterstützung zukommen, auch militärische, »Blauhelme« wurden in den Kongo entsandt. Die belgischen Besatzer verweigerten sich. Überall, wo die Belgier hinkamen, so Lumumba in einer Rundfunkansprache am 19. Juli, »führen sie Überraschungsangriffe auf unsere Truppen durch«. Zehn Tage lang seien der Staatschef und er »durch das ganze Land gereist, um Ruhe zu predigen und die Lage genauer zu untersuchen«. Nunmehr sei allem, was Brüssel früher gesagt habe, nicht mehr zu glauben. »Belgien hat gestern die Unabhängigkeit des Kongo anerkannt, heute sabotiert es diese Unabhängigkeit.«
Diesem Vorgehen lag offensichtlich eine flexible Dramaturgie zugrunde, die es Brüssel ermöglichte, jederzeit neue Varianten der Herrschaftssicherung einzusetzen und dem jeweils erreichten Zustand anzupassen. Insbesondere der erste Monat der Regierung Lumumbas gestaltete sich zum Lehrstück für die zähe Fähigkeit der Kolonialisten, ihren Einfluss – Wahlen hin oder her – zu sichern. Sicherlich war es einer der großen Fehler Lumumbas, diese Fähigkeit des Imperiums zu unterschätzen und engen Vertrauten, die längst von der CIA geködert worden waren, weiter zu trauen. Zugleich überschätzte er die Macht der Regierung, die ohne Einfluss auf Ökonomie und Apparat – Verwaltung, Justiz, Armee – letztlich zum Scheitern verurteilt war.
Nach den USA, die nicht reagierten, baten Lumumba und Kasavubu schließlich die Sowjetunion um Hilfe – ein Affront während des Kalten Krieges. Moskau schickte zehn Flugzeuge vom Typ »Iljuschin« mit Lebensmitteln, Lastwagen und Waffen. Lumumba, bereits von belgischen Medien als »Kommunist« und »Antiweißer« verteufelt, war damit endgültig zum Problem geworden.
Im Jahrzehnte später bekanntgewordenen Protokoll einer Begegnung von Dwight D. Eisenhower mit dem britischen Außenminister Alec Douglas-Home heißt es: »Präsident Eisenhower äußerte seinen Wunsch, der kongolesische Premierminister Lumumba solle in einen Fluss voller Krokodile fallen.« Der Außenminister antwortete: »Bedauerlicherweise sind uns diese altmodischen Diplomatenpraktiken abhanden gekommen.« Der Chefagent der CIA im Kongo, Larry Devlin, erklärte zudem, der US-Präsident habe den Mord an Lumumba in Auftrag gegeben. Der Geheimdienst wurde mit Abermillionen US-Dollar ausgestattet und die Bestechungskasse gefüllt.
Nach Recherchen des belgischen Journalisten Ludo De Witte Ende des 20. Jahrhunderts musste Belgien schließlich zugeben, dass es die Beseitigung von Lumumba und zwei seiner Gefährten, Joseph Okito und Maurice Mpolo, angewiesen hatte. So wurde der Freiheitskämpfer zum »Opfer« der Verhältnisse und zum »Märtyrer« (Sartre), ermordet von Söldnern, Agenten, belgischen Offizieren und Separatisten am 17. Januar 1961.
Neokolonialismus
Lumumba hatte als Premier kaum Zeit, um die Epoche der Dekolonisierung, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, zu einer Epoche des tatsächlichen Antikolonialismus zu machen. Aus heutiger Sicht wurden mit dem Verbrechen an ihm die Weichen zur Etablierung eines neokolonialistischen Herrschaftsstatus gestellt. Ernesto Che Guevara, der sich wenige Jahre später als Comandante einer kubanischen Guerillatruppe im Kongo aufhalten würde, sprach in seiner Rede vor der UNO im Dezember 1962 von den »schmerzlichen Ereignissen im Kongo, einzigartig in der Geschichte der modernen Welt; sie zeigen, wie das Recht der Völker mit absoluter Straflosigkeit und mit dem unverschämtesten Zynismus missachtet werden kann«.
Die Sowjetunion machte sich im Dezember 1960 bei der UNO für die sofortige Freilassung des verschleppten Lumumba stark. Dass der eingebrachte Antrag mehrheitlich abgelehnt wurde, demonstriert die Ignoranz der ehemaligen Kolonialmächte und deren engster Verbündeter eindringlich. Sie waren auch die einzigen, die sich bei der historischen Abstimmung über die Resolution 1514, in der die Dekolonisierung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker festgeschrieben wurden, ihrer Stimme enthielten – gegen den Rest der Welt, den Süden und die realsozialistischen Länder.
Das Trauerspiel, das sie bis heute zur Wahrung von Profitinteressen auch in Afrika aufführen, schien schon des öfteren dem Ende entgegenzugehen – von Südafrika, über Mosambik hinüber zur Westküste von Namibia über Angola bis Burkina Faso und einige westafrikanische Staaten, bei den Mittelanrainern des Maghreb – mit Ausnahme Marokkos – sowieso. Die Beziehungen Chinas zum schwarzen Kontinent auf Augenhöhe tragen zwar zunehmend Früchte, doch das neokoloniale Drama fand noch kein Ende.
Um so mehr Aufmerksamkeit könnte jenen ehemaligen französischen Kolonialstaaten in Zentralafrika zufallen, die sich in jüngster Zeit ihrer ehemaligen Herrschaft – sei sie schwarzer oder weißer Hautfarbe – entledigten. Und in der Tat leben in allen antikolonialen, panafrikanischen Kämpfen die Ideen von Patrice Lumumba fort. Lumumba habe tot aufgehört, Person zu sein und sei zu »ganz Afrika« geworden, meinte Jean-Paul Sartre 1963. Das gilt heute mehr denn je.
Von Gerd Schumann erschien zuletzt: Patrice Lumumba. Papyrossa-Verlag, Köln 2024, 135 Seiten.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Reinhard L. aus Frankfurt/Main (2. Juli 2025 um 08:49 Uhr)Die »Erzählungen von Älteren..., wonach «Soldaten von Léopold II. folterten und Hände von Einheimischen, die die Normziele bei der Kautschukernte nicht erfüllt hatten, abschnitten».«, entsprechen leider der Wahrheit. Und sie wurden auch von belgischer Seite bis in die jüngste Vergangenheit nicht bestritten. Ich habe selbst im »Musée de l'Afrique« im Brüsseler Nobelvorort Tervuren Bilder solcher Zwangsamputationen gesehen und war über die unverhohlene Affirmation des Kolonialterrors schockiert. Das ist allerdings etwa 20 Jahre her; in der Zwischenzeit soll die Ausstellung »überarbeitet« worden sein. Ob dabei die Kolonialgreuel wegretuschiert worden sind, weiß ich leider nicht.
- Antworten
Ähnliche:
- Arlette Bashizi/REUTERS31.01.2025
Gier nach Bodenschätzen
- imago/Belga11.03.2024
Ende einer Hoffnung
- REUTERS/Yves Herman04.07.2020
Illusion der Unabhängigkeit