Jeder ist einer zuviel
Von David Siegmund-Schultze
Wie viele Palästinenser sind von der israelischen Armee im genozidalen Krieg im Gazastreifen bisher getötet worden? In den vergangenen Tagen kursierte in verschiedenen Onlinemedien die Meldung, dass die Zahl bei 377.000 liege. Die Nachricht beruht auf einer Studie des israelischen Umweltwissenschaftlers Jaakow Garb zu den Verteilzentren von Hilfsgütern der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) vom 1. Juni. Darin werden Schätzungen der Armee zur Zahl der Menschen, die sich in den drei Bevölkerungszentren im Gazastreifen aufhalten, genannt – insgesamt 1,85 Millionen Personen. Im Abgleich mit der Vorkriegsbevölkerung ergibt sich demnach eine Lücke von 377.000 Menschen.
Doch, wie Garb gegenüber jW klarstellte, basiert die Meldung auf einer Fehldeutung seiner Studie. Er habe aufzeigen wollen, dass die Ausgabestellen der GHF für die meisten Menschen in den Bevölkerungszentren aufgrund ihrer weiten Entfernung schwer bis gar nicht erreichbar sind. Um eine Schätzung der aktuellen Bevölkerungszahl im Gazastreifen sei es ihm gar nicht gegangen, denn eine nicht bekannte Anzahl von Menschen befinde sich außerhalb der Zentren und in vom Militär als Todeszonen deklarierten Gebieten. Außerdem habe er in einer ersten Version für die Zone in Al-Mawasi die falsche Zahl von 500.000 statt 700.000 Menschen angegeben.
Nichtsdestotrotz muss davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Toten weit über den 56.000 liegt, die die Gesundheitsbehörde im Gazastreifen nennt. Statt dessen wurden deren Angaben von westlichen Politikern immer wieder in Zweifel gezogen. Ende Oktober 2023 sagte der damalige US-Präsident Joe Biden etwa, er habe »kein Vertrauen« in die Zahl der Toten. Und bei ihrer Nennung in deutschen Medien darf der Zusatz, das Ministerium werde »von der Hamas kontrolliert«, nie fehlen. Soll heißen: Die Zahlen sind wohl nicht glaubwürdig. Doch die Erfassungsmethode der Behörde hatte sich bei Prüfungen der UNO nach den vorherigen Gazakriegen seit 2008 als akkurat erwiesen. Und erste wissenschaftliche Studien kamen schon im Januar 2024 zu dem Ergebnis, dass die Behörde die Todeszahlen auch in dem im Oktober 2023 begonnenen Krieg nicht aufgebläht habe. Selbst die israelische Regierung und Armee berufen sich auf die Angaben in internen Briefings, da die Zählmethode der Behörde nach einer Prüfung israelischer Geheimdienste als valide beurteilt wurde, wie Vice und verschiedene israelische Medien im Januar 2024 berichteten.
Das Ministerium zählt allerdings nur die geborgenen Leichen. Tausende undokumentierte Tote sind unter den Trümmern begraben, und es fehlen die Maschinen, um sie zu bergen. Außerdem ist das Gesundheitssystem durch die Armee systematisch zerstört worden; die vollständige Dokumentierung der Toten ist unter den Umständen des Krieges nicht möglich. Eine im Februar 2025 in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie kommt dementsprechend zu dem Ergebnis, dass die tatsächliche Todeszahl durch israelische Angriffe wohl um 40 Prozent höher ist als die Behördenangabe. Das gelte für den Untersuchungszeitraum bis Juni 2024. Hierfür haben die Wissenschaftler die in vorigen Konflikten bewährte »Capture-Recapture«-Methode verwendet, mit der sie die Liste des Ministeriums, eine Onlineumfrage der Behörde und Nachrufe in sozialen Netzwerken statistisch ausgewertet und abgeglichen haben.
Dabei unberücksichtigt bleiben außerdem die Menschen, die nicht durch Bomben oder Kugeln getötet werden, sondern aufgrund der Folgen des Krieges sterben: wegen fehlender Gesundheitsversorgung, der Hungerkrise, der mangelhaften Wasserversorgung, der katastrophalen hygienischen Situation, der ständigen Angst. Eine weitere in The Lancet veröffentlichte Studie vom Juli 2024 kommt zu dem Ergebnis, dass die Todeszahl – wenn man die »indirekten« Opfer mitzählt – im Juni 2024 wahrscheinlich 186.000 betrug. Vorausgesetzt, das Verhältnis von »direkten« zu »indirekten« Toten ist ähnlich wie bei jüngsten Kriegen. Fest steht, dass eine genauere Schätzung erst nach Ende des Krieges möglich sein wird – und dass jeder einzelne einer zu viel ist.
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