Aufrüstung um jeden Preis
Von Jörg Kronauer
Fünf Prozent: Dass die NATO-Mitgliedstaaten ihre Militärbudgets in bislang beispiellose Höhen schrauben werden, war die zentrale Botschaft des am Mittwoch zu Ende gegangenen NATO-Gipfels in Den Haag. 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) wollen sie ab spätestens 2035 unmittelbar in ihre Streitkräfte stecken. Weitere 1,5 Prozent ihres BIP sollen in begleitende Maßnahmen fließen, vom Ausbau der Verkehrsinfrastruktur für den Aufmarsch der Truppen über die Stärkung der sogenannten Cybersicherheit bis zum weiteren Ausbau der Geheimdienste. Das Militärbündnis soll damit, um den Ausdruck von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zu nutzen, »kriegstüchtig« werden. Was die abstrakten Prozentsätze konkret bedeuten, lässt sich am Beispiel Deutschland zeigen: Dort soll sich der Wehrhaushalt von knapp 52 Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf 152,8 Milliarden Euro verdreifachen – das wäre fast ein Drittel des Bundeshaushalts von 2024. Dabei will Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) den Rüstungsstreber geben und den Betrag nicht 2035, sondern schon 2029 erreichen. Hochrüstung geht von nun an eben über alles.
Wozu die fünf Prozent des BIP konkret ausgegeben werden sollen, das stand schon vor dem Haager Gipfel fest, die NATO-Verteidigungsminister hatten es schon auf ihrem Treffen am 5. Juni in Brüssel beschlossen. Es geht darum, die nötigen Waffen für die sogenannten Verteidigungspläne für einen Krieg gegen Russland zu beschaffen, die die NATO auf ihrem Gipfel im Juli 2023 im litauischen Vilnius verabschiedet hatte. Die Pläne sind geheim, insofern ist nicht bekannt, wozu die dreistelligen Milliardensummen im Detail verwendet werden sollen. Ein paar Duftmarken hat NATO-Generalsekretär Mark Rutte nun in Den Haag gesetzt: Die Kapazitäten zur Flugabwehr sollen verfünffacht werden. Das Bündnis wird »Tausende« neue Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sowie »Millionen« Schuss Artilleriemunition beschaffen. Fest eingeplant sind alle Mitgliedstaaten. Dass Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez sich kurz vor dem NATO-Gipfel von Rutte zusichern ließ, sein Land müsse nicht zwingend fünf Prozent des BIP aufwenden, ist wohl reine Show: Madrid wird die Vorgaben erfüllen müssen, die sich aus den »Verteidigungsplänen« für Spanien ergeben – koste es, was es wolle.
Für Deutschland hat Verteidigungsminister Pistorius schon beim Treffen mit seinen NATO-Amtskollegen am 5. Juni zugesagt, Berlin werde »das zweitgrößte Paket« des vom Bündnis aufgelisteten Kriegsgeräts erwerben. Man weiß, dass es – neben Flugabwehrsystemen – um neue Kampfjets, Hubschrauber und Fregatten geht; Details sind ebenfalls noch unbekannt. Offensichtlich plant die NATO für künftige Einsätze an einer möglichen neuen Ostfront die Bundeswehr mit erheblich mehr Einheiten als den vorhandenen ein. Deshalb sollen nun zusätzlich zu den acht bestehenden und den zwei in Planung befindlichen Kampfbrigaden à 5.000 Soldaten fünf bis sechs weitere aufgestellt werden. Pistorius will die Bundeswehr deswegen von heute 181.000 auf künftig bis zu 260.000 Soldaten aufstocken, zuzüglich 200.000 Reservisten. Nebenbei: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag beschränkt die Personalstärke der Bundeswehr auf maximal 370.000 Soldaten.
Die Sollbruchstelle bei den Hochrüstungsplänen ist nach aktueller Auffassung der NATO nicht das Geld. Ob in einzelnen Mitgliedstaaten früher oder später Elendsunruhen losbrechen, weil gewaltige Mittel aus den Sozialetats in die Waffenproduktion verschoben werden, oder ob andere sich im Walkürenritt in eine tödliche Schuldenkrise reiten, wird zur Zeit zumindest öffentlich nicht diskutiert. Als Hauptproblem gilt aktuell, dass die bestehenden industriellen Kapazitäten nicht in der Lage sind, die gewünschte Menge an Kriegsgerät im geforderten Tempo herzustellen. Es gebe »nicht ansatzweise genug Angebot, um unsere gesteigerte Nachfrage zu decken«, räumte Rutte bereits am Dienstag ein, als vor dem Gipfelbeginn das diesjährige NATO-Verteidigungsindustrieforum tagte. Über 400 Verteidigungsminister, Wehrbürokraten, Militärexperten und Rüstungsindustrielle waren zusammengekommen, um nicht zuletzt über Mittel und Wege zu diskutieren, die Waffenproduktion zu beschleunigen. Deutschland schreitet auch hier im Stechschritt voran: Die umgekehrte Konversion etwa ziviler Kfz- und Zulieferfabriken in Waffenschmieden hat bereits begonnen.
Soweit die harten Fakten, um die es vorrangig auf dem diesjährigen NATO-Gipfel in Den Haag ging. Wie üblich gab es die eine oder andere Showeinlage, die das Publikum ablenkte. US-Präsident Donald Trump etwa orakelte: Ob die USA angegriffenen NATO-Staaten Beistand nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags leisten würden, das hänge »von der Definition ab«. Will sagen: Es sei ungewiss. Das ist banal: Artikel 5 sieht nur vor, dass jedes NATO-Mitglied im Kriegsfall »die Maßnahmen« trifft, die es »für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen«. Eine zu allem nötigende Beistandsverpflichtung ist das nicht. Immerhin tat Trump mit seiner Äußerung den europäischen NATO-Staaten den kleinen Gefallen, die geplante Hochrüstung als etwas erscheinen zu lassen, was von Washington durch eine Aufkündigung verlässlichen Beistands praktisch erzwungen werde: Man könne nicht anders, heißt es, man müsse aufrüsten, um sich im Fall der Fälle auch allein militärisch durchsetzen zu können. »Um eine Milliarde Bürger in Sicherheit zu bewahren«, tönte Rutte. Nur – der Krieg, den die NATO zur Zeit vorbereitet und der den herrschenden Eliten im Ernstfall den Sieg über Russland ermöglichen soll, schafft für die große Masse der Bevölkerung nicht Sicher-, sondern extreme Unsicherheit.
Hintergrund: Kiew und die NATO
Die Ukraine befinde sich auf einem »unumkehrbaren Weg« zur Mitgliedschaft: Das hatten die NATO-Mitglieder noch auf ihrem Gipfeltreffen im vergangenen Jahr formuliert. In Den Haag war davon nichts mehr zu hören, im Gegenteil. Nicht einmal ein NATO-Ukraine-Rat auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs war anberaumt worden. Es gab lediglich eine dürftige Ersatzveranstaltung am Dienstag abend auf Außenministerebene. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij musste sich mit einer Einladung zum Abendessen am Dienstag zufriedengeben. Zu allem Überfluss kam es am Dienstag abend auch noch zu einem harten Zusammenstoß zwischen Selenskij und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán auf X. Als Selenskij dort mit einem Foto protzte, das ihn neben NATO-Generalsekretär Mark Rutte, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident António Costa zeigte, twitterte Orbán höchst verärgert zurück. Die EU sei ja offiziell gegründet worden, »um Frieden und Wohlstand zu bringen«, äußerte er. Wenn man nun aber die Ukraine aufnehme, dann ziehe man die EU »in einen direkten Konflikt«.
Als Trostpflaster teilte Rutte zu Beginn des Gipfels mit, es sei gelungen, die finanziellen Zusagen für Kiew trotz des Ausfalls von US-Geldern zu steigern. Nach 21 Milliarden Euro im April erreichten sie für das laufende Jahr mittlerweile bereits 35 Milliarden Euro. Enthalten seien darin unter anderem neun Milliarden Euro aus dem deutschen Staatshaushalt. Hohe Summen gebe es auch aus Norwegen (sieben Milliarden Euro) und aus Großbritannien (fünf Milliarden Euro). Er sei zuversichtlich, dass man bis Jahresende das Level des Vorjahres – 50 Milliarden Euro inklusive US-Gelder – erreiche.
Für Mittwoch nachmittag war – ein weiteres kleines Trostpflaster für Kiew – noch ein Treffen zwischen Selenskij und US-Präsident Donald Trump geplant. Beim G7-Gipfel in Kananaskis hatte Trump Selenskij im Regen stehen lassen: Er war vor dem geplanten Treffen abgereist. (jk)
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Leserbrief von Wilfried Schubert aus Güstrow (26. Juni 2025 um 13:55 Uhr)Die NATO handelt strikt nach dem Motiv: Noch mehr überholen, ohne einzuholen. Fünf Prozent des BIP sollen künftig die Militärausgaben der NATO-Staaten betragen. Zum Scheine teilt man auf, 3,5 Prozent für Militärausgaben und 1,5 Prozent für generelle Sicherungsaufgaben. Präsident Trump hat guten Grund zur Freude. Kanada und die europäischen NATO-Staaten kaufen künftig bedeutend mehr Waffen von der US-Rüstungsindustrie. Obwohl die europäischen NATO-Staaten bei Kampfpanzern 4.200, bei Artillerie 10.000 oder bei Kampfflugzeugen 1.053 mehr als Russland haben. Die Rüstung von NATO und Russland zeigt, von wem die tatsächliche Gefahr ausgeht. So ist das atomare Schild, Russlands eigentliche Lebensversicherung.
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Leserbrief von Christian Helms aus Dresden (26. Juni 2025 um 13:53 Uhr)Fünf Prozent des BIP sollen die europäischen NATO-Staaten für die Rüstung ausgeben. So ihre Staatschefs in Den Haag. An der Bedrohung durch Putin kann es nicht liegen. Auch wenn sie von den üblichen Verdächtigen immer wieder beschworen wird. Denn die Rüstungsausgaben allein der europäischen NATO-Staaten liegen schon jetzt ein Mehrfaches über denen Russlands, analysiert das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI. Zudem offenbart der Ukraine-Krieg überraschend Schwächen des russischen Militärs. Warum also diese ruinösen Rüstungsausgaben? Mit der Frage, wohin die europäischen Steuer- und Schuldenmilliarden fließen, kommt man der Antwort näher. So steigerte Deutschland im vergangenen Jahr seine Rüstungseinfuhren um 334 Prozent. 70 Prozent der Lieferungen stammen aus den USA. Fünf Prozent des BIP Deutschlands entsprechen etwa 225 Milliarden Euro. Bleibt man bei den 70 Prozent USA-Anteil und den fünf Prozent Rüstungsausgaben, so fließen allein 157 Milliarden in die USA. Entsprechend wird es bei den anderen europäischen NATO-Ländern aussehen. Aber das ist noch nicht alles. Beispielsweise besitzt BlackRock in erheblichem Umfang Rheinmetall-Aktien. Auch diese mit der Fünfprozentaufrüstung rasant steigenden Rüstungsgewinne fließen in die USA . Das Fünfprozentziel dient vor allem den Interessen des militärisch-industriellen Komplexes der USA, den globalen Rüstungsindustrien und ihren Aktionären. Angesichts der existentiellen Probleme (Klima), vor denen die Welt steht, eine ungeheure und verantwortungslose Verschwendung von Ressourcen. Beschlossen von den Staatschefs in Den Haag. Trump ist zufrieden.
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Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (26. Juni 2025 um 08:38 Uhr)Wir sollten dringend vermeiden, der für diesen Wahnsinn festgelegten Sprachregelung zu folgen, es handele sich hier um ein »Ziel«. Das Wort »Ziel« suggeriert Erstrebenswertes, es hat einen guten Klang und einen positiven Nachhall. Sich Ziele zu setzen deutet auf Strebsamkeit, Ausdauer, schlicht auf Charakter hin. Was hat das mit dem Vorhaben zu tun, künftig fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zu vergeuden, um die Gesellschaft konsequent auf Zerstörung und Krieg vorzubereiten? Es wäre ein wirkliches Ziel, Armut und Hunger besiegen zu wollen, bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen, ein funktionierendes Netz der sozialen Absicherung, der Fürsorge für die Alten und Kranken oder eine Kultur, die die Menschen fördert, statt sie gegeneinander aufzuhetzen. Das Vorhaben, fünf Prozent der geschaffenen Werte für Rüstung und Militär aus dem Fenster zu werfen, wird die Verwirklichung dieser Ziele mit absoluter Sicherheit verhindern. Denn die Kasse, aus denen das Lobenswerte zu verwirklichen wäre, ist nun vom Militär beschlagnahmt. Das giert förmlich danach, die Grundlagen unserer Zivilisation endlich zerstören zu können. Aus seiner Sicht hat es völlig recht: Wozu braucht es noch Bildung, Wohnung, Fürsorge oder Kultur, wenn eh alles in Scherben fallen soll?
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Leserbrief von Heinrich Hopfmüller aus Hjörring (25. Juni 2025 um 21:32 Uhr)Warum Produktion beschleunigen? Preiserhöhung ist sehr viel einfacher, erfüllt den Zweck, das Geld auszugeben und ist systemverträglich.
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