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Aus: Ausgabe vom 24.06.2025, Seite 12 / Thema
Portugal

Der iberische Messias

Rassistische Hetze und ein bisschen von allem. Die Chega-Partei in Portugal verdankt ihren Erfolg ganz ihrem Anführer André Ventura
Von Nikolas Sisic
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Portugal retten. André Ventura inszenierte sich im Wahlkampf erfolgreich als Bekämpfer von Dekadenz und Korruption (Lissabon, 19.5.2025)

Bei den portugiesischen Parlamentswahlen 2025 erzielte Chega (»Genug«) ein beispielloses Ergebnis. Die Partei durchbrach erstmals die fünfzigjährige Dominanz der Sozialistischen Partei (PS) und der Sozialdemokratischen Partei (PSD), indem sie sich als wichtigste Oppositionskraft gegen die neue Regierung der Demokratischen Allianz (DA), einer Koalition zwischen PSD und den Christdemokraten (CDS), etablierte und die PS überholte. Chega erhielt 23,74 Prozent der Stimmen und zieht mit 60 Abgeordneten ins Parlament ein.

Eine bemerkenswerte Entwicklung für eine Partei, die 2019 gegründet wurde, dem Jahr, in dem sie erstmals einen einzigen Abgeordneten ins Parlament entsandte. Dementsprechend stolz verkündete André Ventura, ihr Vorsitzender, am Wahlabend des 18. Mai in seiner charakteristischen theatralischen Art: »Nichts wird mehr so sein wie vorher.«

Drang in die Öffentlichkeit

Da Chega überwiegend Venturas persönliches Projekt ist, ist ein Überblick über seine Karriere unerlässlich, um die Partei zu verstehen. 1983 geboren, begann Ventura, Professor für Strafrecht, Finanzberater und ehemaliger Priesterseminarist, seine politische Laufbahn innerhalb der ungeachtet ihres Namens konservativ-liberalen Sozialdemokratischen Partei (PSD), deren Jugendorganisation er als Teenager beitrat. Nach einem gescheiterten Versuch, der portugiesische Michel Houellebecq zu werden, indem er einen antiislamischen apokalyptischen Thriller veröffentlichte, erlangte er erstmals Bekanntheit als Fernsehkommentator und Zeitungskolumnist mit den Schwerpunkten Fußball und Kriminalität. Die dadurch erlangte Öffentlichkeit ermöglichte ihm, sich nach jahrelangem Streben nach Aufstieg innerhalb der Partei die Nominierung als Spitzenkandidat der »Primeiro Loures«-Koalition zu sichern, eines Bündnisses, das PSD, Christdemokraten (CDS) und Monarchistische Volkspartei (PPM) für die Kommunalwahlen im Oktober 2017 geschlossen hatten.

Loures, eine der größten Schlafstädte auf der Lissabonner Halbinsel, hat eine lange Tradition linker Militanz. 2017 wurde Loures von der Kommunistischen Partei regiert und von der Rechten weithin als hoffnungsloser Fall betrachtet. Angeblich auf Anraten seines Spindoktors nutzte Ventura die Gelegenheit, sich öffentlich zu profilieren, indem er eine aggressive Law-and-Order-Kampagne führte, die sich nahezu ausschließlich darauf konzentrierte, die lokale Roma-Bevölkerung als eine »privilegierte Minderheit (…), die über dem Gesetz lebt«, zu diffamieren und so einen nationalen Skandal auszulösen. Antiziganismus ist zwar tief in der portugiesischen Gesellschaft verwurzelt, wird meistens aber in versteckteren Formen ausgedrückt. Venturas kompromisslose Tiraden gegen »Zigeuner, (die) fast ausschließlich von staatlichen Zuschüssen leben«, führten zu einer Spaltung der Wahlkoalition, als sich die CDS weigerte, ihn weiter als Kandidaten zu unterstützen. Dank der Kontroverse wurde die Sozialdemokratische Partei zur drittstärksten Kraft und verbuchte ihr bestes Ergebnis seit 20 Jahren, während Ventura zu nationaler Bekanntheit aufstieg.

»Hinterrücks erdolcht«

Das positive Ergebnis in Loures sowie das nahezu desaströse Scheitern des PSD im restlichen Land bestärkten Ventura in seinen politischen Ambitionen. Unmittelbar darauf erklärte er seine Bereitschaft, bei der bevorstehenden Wahl für die Parteiführung zu kandidieren. Ihm fehlte allerdings eine Machtbasis, und er sah sich gezwungen, seine Ambitionen zurückzustellen und das Feld dem erfahrenen Pedro Santana Lopes zu überlassen. Nachdem der zentristische Kandidat, der »verkappte Sozialist« (Ventura) Rui Rio, im Januar 2018 die Wahl gewonnen hatte, gründete Ventura einige Monate später die interne Oppositionsbewegung »Movimento Chega«. Er bekundete erneut seine Absicht, zu kandidieren, verband diese jedoch mit der Bereitschaft, zugunsten von Luís Montenegro, dem Führer des rechten Parteiflügels und derzeit amtierenden Premierminister, zurückzutreten.

Für Ventura war es an der Zeit, dass der PSD eine »andere Sprache und eine größere Offenheit für die Diskussion von derzeit tabuisierten Themen« entwickelt. Es sei erforderlich, »soziale Wunden anzusprechen, die der PSD bisher nicht den Mut hatte zu thematisieren, wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Terrorismus, Justiz und ethnische Minderheiten«. Sein Vorhaben stieß zwar auf moderaten Zuspruch an der Parteibasis, jedoch distanzierten sich einflussreiche Gegner um Rui Rio von einer Unterstützung, wodurch die Initiative scheiterte. Im Anschluss behauptete Ventura, die Kampagne erst nach einer Zusage Montenegros begonnen zu haben, und erklärte, er sei »verraten, hinterrücks erdolcht und getäuscht« worden.

Rui Rios Annäherung an die Sozialisten ebnete einer rechten Partei den Weg, die – im Gegensatz zur christdemokratischen CDS, der es nie gelang, ihr Image als Partei der Eliten abzulegen – für sämtliche sozialen Schichten Portugals ansprechend war. Im Oktober 2018 trat Ventura aus dem PSD aus. Im April 2019 wurde Chega offiziell als 24. politische Partei Portugals registriert. Der Gründungsgruppe, deren Mitglieder nahezu ausschließlich durch ihre persönliche Beziehung zu Ventura verbunden waren, fehlte es an ideologischer Geschlossenheit. Ihr gehörte Jorge Castela an, den Ventura als seinen »Steve Bannon« bezeichnete, ein Wirtschaftsprofessor und Hayek-Bewunderer, selbsternannter Chefideologe mit strikt antieuropäischer Haltung sowie Verbindungen zu diversen faschistischen Kleingruppen. Des weiteren zählten ehemalige PSD-Parteifunktionäre dazu, etwa Nuno Afonso, ein Berufspolitiker, der sich – wie Castela – zum Neoliberalismus bekannte, aber zugleich die Europäische Union befürwortete, oder Diogo Pacheco de Amorim, prägende Figur vom faschistischen Flügel des CDS sowie des PND (Partei der Neuen Demokratie) und ehemaliges Mitglied der Todesschwadron MDLP (Demokratische Befreiungsbewegung Portugals). Auch die Evangelikalen, deren Präsenz in Portugal seit Mitte der 2010er Jahre stetig zugenommen hat, waren vertreten, namentlich durch die Missionarin Lucinda Ribeiro. Komplettiert wurde das reaktionäre Ensemble durch die antiislamische Aktivistin Patrícia Sousa Uva sowie mehrere Personen ohne vorherige politische Bindungen, deren einzige Auszeichnung darin bestand, mit André Ventura in Kontakt zu stehen.

Der intensive portugiesische Wahlkalender der vergangenen sechs Jahre ermöglichte Chega ein schnelles Wachstum seiner Unterstützerbasis und seines Stimmenanteils. Schon kurz nach der Gründung nahm die Partei an den Wahlen zum EU-Parlament im Mai 2019 in Koalition mit dem PPM, der Partei der Bürgerschaft und der Christdemokratie (PPV/CDC) sowie Democracy 21 teil, erzielte 1,49 Prozent der Stimmen, gewann jedoch kein Mandat. Der erste Durchbruch gelang Chega bei den Parlamentswahlen im Oktober 2019: Erneut in Allianz mit dem PPV/CDC, erreichte sie 1,3 Prozent der Stimmen, was Venturas Einzug ins Parlament für den Wahlkreis Lissabon ermöglichte. Der erste regionale Erfolg folgte im Oktober 2020 auf den Azoren, wo die Partei fortan zwei Abgeordnete stellte und ein parlamentarisches Abkommen mit dem PSD und rechtsgerichteten Parteien aushandelte. Ventura selbst untermauerte diesen Aufstieg bei der Präsidentschaftswahl im Januar 2021, als er mit 11,9 Prozent der Stimmen den dritten Platz belegte. Auf kommunaler Ebene, bei den Wahlen im Mai 2021, erreichte Chega zwar landesweit 4,19 Prozent, konnte aber in keiner Gemeinde den Bürgermeister stellen. Den Höhepunkt dieses Aufstiegs markierte die Wahl nach dem Sturz von António Costas Kabinett im März 2024, bei der Chega fünfzig Mandate gewann, ihren Stimmenanteil um 11,5 Prozentpunkte auf 18,9 Prozent steigerte und zur drittgrößten Fraktion im Parlament wurde.

Wählerzusammensetzung

Im Laufe der Jahre hat Chega hauptsächlich im Süden Portugals, im ruralen Alentejo, an Einfluss gewonnen, der traditionellen Bastion der Sozialisten (SP) und der Kommunistischen Partei (KP). Da die KP seit 2019 tatsächlich Stimmen verliert, verleitete dieser Umstand manche Hufeisentheoretiker zu der Annahme, der Chega-Aufstieg lasse sich durch eine massenhafte Wählerwanderung vom kommunistischen Lager erklären. Zwar ist es durchaus möglich, dass einige KP-Wähler zu Chega gewechselt sind, doch die Statistik zeigt, dass wenigstens bei der diesjährigen Wahl die Hauptlast der Verluste nicht die Kommunisten, sondern die Sozialisten trugen, von deren Wählerschaft Chega 10,2 Prozent abwerben konnte.

Das Profil der Chega-Wähler widerspricht auch dem gängigen Narrativ über den Populismus als Bewegung einer reaktionär gewordenen Arbeiterklasse. Ihr Bildungsstand liegt über dem portugiesischen Durchschnitt, wenngleich sich diese Situation bei den letzten Wahlen verändert hat; statt reaktionärer »Boomer« stellen die Chega-Wählerinnen und Wähler mittlerweile die jüngste Wählerschaft aller Parteien. Einige Studien zeigen auch eine positive Korrelation zwischen Stimmen für Chega und Gebieten mit höherer Arbeitslosigkeit und einem großen Anteil von Sozialhilfeempfängern sowie einer höheren Dichte der Roma-Bevölkerung. Die Partei scheint zudem auch Angestellte anzusprechen, während Arbeiter hingegen wenig Interesse an Chegas Angebot zu haben scheinen, denn je höher die industrielle Beschäftigungsquote in einer Region ist, desto geringer fällt der Stimmenanteil für Chega aus. Nur eines lässt sich mit einiger Sicherheit sagen: Junge Männer fühlen sich von der Partei besonders angesprochen. Die Hufeisentheorie steht dazu in einem deutlichen Widerspruch, denn kommunistische Wähler sind im Schnitt deutlich älter.

Neben dem unerschütterlichen Bekenntnis zum rassistischen Tabubruch und dem allgegenwärtigen Ventura ist das Fehlen eines klar definierten politisch-ökonomischen Programms das vielleicht bemerkenswerteste Merkmal von Chegas Werdegang. Die Widersprüche treten noch schärfer hervor angesichts der raschen Abfolge von Wahlprogrammen, die das unberechenbare portugiesische Wahlgeschehen mit sich bringt. Hatte sich die Partei in ihrem Gründungsmanifest noch als »eine nationale, konservative, liberale und personalistische Partei« definiert, die »geschaffen worden (sei), um den Staat auf seine wesentlichen Minimalfunktionen zu reduzieren, mit einer drastischen Reduzierung seiner erstickenden Präsenz im Leben der Republik, da er derzeit der Hauptverantwortliche für die Bürokratisierung der Wirtschaft ist«, so fingen die »Chega-Chicago Boys« schon 2021 an, in Richtung Freiburg abzubiegen, also sich dem Ordoliberalismus zu nähern. In ihrem jüngsten Programm definierte sich die Partei schließlich als »wahrer Rivale der ultraliberalen Vision«, »die sich durch ein Wirtschaftsmodell auszeichnet, das Marktfreiheit mit einem strategischen Staat verbindet, der die nationalen Interessen schützt«, und stellte fest, dass »die Präsenz des Staates in strategischen Sektoren und in Partnerschaft mit dem Privatsektor unter der Aufsicht unabhängiger und unparteiischer Regulierungsbehörden gerechtfertigt sein kann«.

In der Außenpolitik schlägt Chega eine Abkehr von Europa vor und favorisiert die transatlantische Allianz. Im Gegensatz zu ihrem populistischen Schwesterparteien, zumindest jenen die noch nicht an die Regierung gelangt sind, bekennt sich Chega offen zur NATO und betrachtet »das Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika und die Freundschaft mit dem Vereinigten Königreich (als) unveränderliche Achse der portugiesischen Außenpolitik und wesentlich für die Bewahrung unserer Souveränität«. Hinsichtlich der früheren Kolonien will die Partei, »das aufstrebende Potenzial des Südatlantiks erkennen und sich darin als grundlegender Akteur neu positionieren; den Raum der Lusophonie (der portugiesische Sprachraum, jW) und der Portugalität entwickeln und mit praktischer Bedeutung ausstatten«. Zur EU hat die Partei wenig von Substanz zu sagen, sie vertritt einen europäischen Antiföderalismus, indem sie »die derzeitige föderalistische Entwicklung« entschieden ablehnt, die »Bedeutung einer Europäischen Union souveräner Vaterländer« bekräftigt und die Außengrenzen der Union gestärkt sehen will.

Konkrete außenpolitische Vorschläge bleiben allerdings aus. Während frühere Programme ein eindeutiges Bekenntnis zur Verteidigung der Existenz des Staates Israel »mit dem Ziel, die portugiesische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen« sowie die »Stärkung bilateraler Beziehungen zu den Ländern der Visegrád-Gruppe« vorsahen, beschränkte sich Chega bei den jüngsten Wahlen auf vage Empfehlungen, wie der Forderung nach der »Unterzeichnung eines neuen europäischen Vertrags« der »das Gewicht Portugals bei Entscheidungsprozessen erheblich erhöht«.

Person statt Programm

Angesichts der mangelnden ideologischen Geschlossenheit, besonders bei Fragen zur EU und zur Wirtschaft, ist es wenig überraschend, dass nur wenige Gründungsmitglieder in der Partei verblieben sind. Die erste Gruppierung, die Chega verließ, war die »nationalliberale« Fraktion um Jorge Castela, die bereits vor den Wahlen zum EU-Parlament 2019 von den »Gemäßigten« um Nuno Afonso verdrängt worden war; Jahre später beschrieb Castela André Ventura als »im Kern Sozial-Demokrat« und seine Ideologie als »pro-europäisch«. Afonso selbst sagte sich 2023 nach einem erbitterten Streit von der Partei los und beklagte bei seinem Austritt den Opportunismus Venturas: »André Ventura kann zwar in der Opposition sein, aber er wird niemals eine Alternative sein, denn es gibt keine ideologische Linie. Wir haben den Wirtschaftsliberalismus verteidigt, die unternehmerische Initiative, Anreize für Unternehmen, und jetzt will die Partei bereits Gewinne besteuern und Preisobergrenzen einführen.« Ab 2021 wurde zudem die evangelikale Fraktion, die maßgeblich zum frühen Wachstum beigetragen hatte, schrittweise aus den Parteistrukturen entfernt, woraufhin ihre Mitglieder allmählich zur konkurrierenden Nationalen Demokratischen Alternative (ADN) übergingen, während eine dem Opus Dei nahestehende katholische Fraktion an ihre Stelle trat. Seither ist die Lage im wesentlichen unverändert geblieben, und die Partei verzeichnet einen kontinuierlichen Verlust an Führungspersonal. Dass diese Entwicklung die operative Funktionsfähigkeit der Partei bislang nicht beeinträchtigt hat, lässt sich auf zwei Faktoren zurückführen: den stetigen Zulauf neuer Mitglieder sowie die Tatsache, dass die Partei vollständig in der Person André Venturas aufgeht.

Sich allein auf das schwammige Programm und Venturas Opportunismus zu konzentrieren, wäre deshalb fatal. Seine Figur ist wichtiger als jeder ideologische Grundsatz. Chega vertritt widersprüchliche Positionen, sofern sie nur neue Unterstützer anziehen. Denn Chega ist vor allem eines: das Vehikel für Venturas Projekt einer nationalen Erneuerung. Und bevor Portugal in der Welt wieder tätig werden kann, muss es »gesäubert« und »gerettet« werden. Ventura sieht sich deshalb vor allem als »geliebter Anführer«, der sein Volk, die ehrbaren und tugendhaften »guten Portugiesen«, einer neuen Nation entgegenführen wird, frei von der »enormen Fäulnis, die sich vom Norden bis zum Süden des Landes ausgebreitet hat«, »die die Institutionen diskreditiert und unsere Jugend zur Auswanderung treibt, während das Land Menschen aus uns völlig fremden Kulturen und Zivilisationen importiert und damit den Fortbestand der portugiesischen Kultur und Traditionen gefährdet.« Dabei sieht sich Ventura durchaus direkt von Gott beauftragt. 2020 twitterte er: »Gott hat mir die schwierige, aber ehrenvolle Mission anvertraut, Portugal zu transformieren. Und ich werde die Portugiesen nicht im Stich lassen, ganz gleich, wie viele Fallen mir in den Weg gelegt werden.«

Gesäuberte Republik

Für Chega ist klar, die Nation ist von Korruption durchdrungen: »Korruptionsfälle reihen sich aneinander und untergraben die Regierung der Republik, die Gemeinden und die Regionalregierungen. Systemische Korruption wächst in den öffentlichen Institutionen wie ein giftiges Element, das Tag für Tag, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt das Vertrauen der Portugiesen in die Institutionen und Politiker aushöhlt.«

Angesichts des »Zustands der Dekadenz und des Verfalls«, in dem sich der portugiesische Staat infolge »jahrzehntelanger verfehlter Politik, die die portugiesische Bevölkerung in (…) wirtschaftliche und soziale Armut gestürzt hat«, befinde, hält Chega die Errichtung einer »IV. Republik« für notwendig. Konzipiert als Bruch mit der politischen Ordnung, die seit dem 25. November 1975 herrscht, soll die neue Republik das portugiesische Volk endlich von den Fesseln der »Relikte ideologischer Kämpfe der 60er und 70er Jahre« befreien.

Hierzu hat die Partei einen Vorschlag zur Verfassungsrevision ausgearbeitet, der folgende Maßnahmen enthält: die Streichung ideologischer Begriffe wie »Sozialismus« oder »Faschismus« aus der Präambel, Überbleibsel einer »Zeit des revolutionären Radikalismus«; Stärkung der Befugnisse des Präsidenten; eine Parlamentsreform, die zu weniger Abgeordneten führen soll; Änderungen der Wahlkreise, die Einführung einer Wahlpflicht; die weitere Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen sowie in der Landwirtschaft; ein Wechsel in der Steuerpolitik von einer progressiven zu einer proportionalen Besteuerung; die Beschränkung von Sozialleistungen ausschließlich auf portugiesische Staatsbürger und die Abschaffung des staatlich geförderten sozialen Wohnungsbaus.

Keiner dieser Vorschläge ist neu. Die portugiesische Rechte, vom CDS über die Liberale Initiative (IL) bis hin zum derzeit regierenden PSD, hat eigene Verfassungsreformvorschläge vorgelegt, die jeweils ähnliche Aspekte aufgreifen: Liberalisierung der Wirtschaft, Ausweitung der präsidialen Befugnisse und Parlamentsreform.

Es gibt jedoch einige Unterschiede. Rhetorisch ist keine Partei außer Chega bereit, absichtlich mit den etablierten Normen der portugiesischen demokratischen Kultur zu brechen. Dem nationalen Konsens, der sich nach dem konterrevolutionären Putsch vom 25. November 1975 gebildet und ein bereinigtes und idealisiertes Bild des Militärputsches vom 25. April 1974 – »in dem die ›Demokraten‹ am Rande des Abgrunds wandelten, während die ›heulenden Radikalen‹ auf den Straßen frei herumliefen« – als Gründungsmythos der portugiesischen bürgerlich-demokratischen Ordnung verankert hat, erteilt Ventura eine klare Absage: »Chega wird nicht an Paraden auf den Alleen der Freiheit teilnehmen, noch an Paraden auf irgendeiner anderen Allee des Landes, denn nicht mit symbolischen Paraden, mit Nelken in der Hand, werden die Probleme der Korruption, der Gehälter und des Gesundheitswesens in Portugal gelöst.«

Schließlich – und im Gegensatz zu ihren rechten Konkurrenten – fordert die Partei die Wiedereinführung der lebenslangen Freiheitsstrafe, die Einführung der chemischen Kastration, Zwangsarbeit für Häftlinge, die Umkehr der Beweislast in Korruptionsverfahren gegen politische Persönlichkeiten und die Aufhebung der parlamentarischen Immunität und zeigt damit ihre Bereitschaft, Portugal endgültig »zu säubern«. Wer diese Arbeit übernehmen soll, steht fest: »Es ist zwingend erforderlich, konkrete und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die die Stärkung der Sicherheitskräfte (…) sicherstellen und nicht nur ihre Effizienz, sondern auch ihre Wertschätzung, Würdigung und den Respekt gewährleisten«. »Vorschriften für den Einsatz von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen« werden revidiert, um »die Handlungs- und Reaktionsfähigkeit der Sicherheitskräfte« zu steigern, und als Ansporn zum Waffeneinsatz wird eine »Amnestie für alle Polizisten« gefordert, »die im Dienst ihre Waffe einsetzten oder Gewalt anwenden mussten«.

Schuld sind die Fremden

In einem Land, in dem nahezu jeder Politiker Freimaurer oder Mitglied von Opus Dei ist – Ventura selbst steht dieser mafiösen Struktur nahe – bildet die Mobilisierung gegen das politische Establishment die ideale Plattform für eine Partei wie Chega. Sie war niemals an der Macht und bleibt daher unbefleckt von den Verdächtigungen, die binnen eines Jahrs zwei Regierungen zu Fall brachten. Hinzu kommt, dass die Demütigung, vom Status einer Kolonialmacht zu einem blossen Anhängsel des franko-deutschen imperialistischen Projekts herabgesunken zu sein, für viele weiterhin spürbar ist. Während frühere Kolonien wie Brasilien international führende Positionen einnehmen, bleibt Portugal im Abseits. Da wirkt die Vorstellung einer nationalen Wiederaufrichtung anziehend.

Aber nicht nur der Staat muss »gerettet« werden, bevor Portugal »überall auf der Welt mit erhobenem Haupt auftreten kann«, sondern auch das portugiesische Volk, denn die Zukunft Portugals ist auf dessen Mobilisierung »für Arbeit, Einsatz und Leistung« angewiesen. Chega verspricht, Unternehmer von »übermäßigen Steuern« zu befreien wie von der lokalen und Brüsseler »Bürokratie« sowie von »chinesischem und ausländischem Dumping«. Zugleich wird den Arbeitern »ein Arbeitsmarkt (…), der Leistung, Engagement und Einsatz der Portugiesen wertschätzt und ihnen faire und würdige Arbeitsbedingungen garantiert«, versprochen. Das Elend beider Gruppen sieht Chega als »direkte Folge sozialistischer und kollektivistischer Politiken«. Deshalb sei eine »tiefgreifende Reform des Sozialsystems« notwendig, um »die Kultur des Laissez-faire und des Wohlfahrtsstaates zu bekämpfen«. Vor allem aber leide das Volk an einer »überwältigenden Welle von Einwanderern (…), die unsere Sprache, unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Traditionen infrage stellen«. Ob Wohnungsmangel, schlechte Gesundheitsversorgung, Niedriglöhne, Kriminalität oder Frauenrechte, die Ursache steht immer schon fest: »Immigranten, die sich nicht integrieren wollen, die darauf abzielen, uns zu transformieren und uns kulturell zu unterwerfen, und die unsere Traditionen nicht respektieren«. Das ideologische Gerüst bildet die »globalistischen, neomarxistischen ›Woke‹-Agenda«.

Am Wahlabend verkündete Ventura versöhnlich, dass er nicht »Anführer der Zerstörung« oder der »billigen Kritik« sein werde. Für ihn gebe es »drei oder vier Bereiche der Souveränität, in denen wir keine politische Spielchen oder politische Konflikte austragen dürfen«. Premierminister Montenegro seinerseits kündigte bereits kurz nach seiner Ernennung, Streikgesetzesänderungen, verschärfte Vorschriften für Einwanderung und Sozialhilfe sowie restriktivere Staatsangehörigkeitsbestimmungen an. Bei der Vorstellung seines Regierungsprogramms erklärte er, der Anstieg der Einwanderer bedrohe den »gesellschaftlichen Zusammenhalt des Landes«, insbesondere weil sie aus Regionen mit »unterschiedlichen Kulturen, Bräuchen und Religionen« stammten. Einige Tage später wurde dies im Parlament mit den Stimmen von SP, IL, CDS, Chega und der ledigich auf der autonomen Insel Madeira präsenten Partei JPP (Gemeinsam für das Volk) bestätigt.

Die Frage ob Ventura seinen »heiligen« Auftrag jemals erfüllen wird, erübrigt sich damit eigentlich, denn er wird bereits, wenn nicht vollständig, so doch teilweise durchgesetzt. Sollte das portugiesische Volk mit den Ergebnissen unzufrieden bleiben, wird Ventura seine Chance bekommen. Und dann soll aufgeräumt werden.

Nikolas Sisic schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. März 2025 über einen Putschversuch rechter Militärs in Portugal vor 50 Jahren: »Verblühende Nelken«

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