Die Not ist echt
Von Kristian Stemmler
Von Medien und Politikern werden sie unverdrossen als »faule Arbeitslose« und »Leistungsverweigerer« hingestellt. Die tägliche Realität der gut 5,5 Millionen Bezieher von sogenanntem Bürgergeld sieht anders aus: Es ist ein Leben geprägt von Verzicht, Ausgrenzung und Scham. Knapp zwei Jahre nach der »Reform« des Bürgergelds hat der Verein »Sanktionsfrei« am Montag in Berlin die Ergebnisse einer Umfrage unter 1.014 Betroffenen vorgelegt, die das sehr deutlich zeigen. »Das Bürgergeld war nie eine echte Überwindung von Hartz IV«, konstatierte Vereinsvorstand Helena Steinhaus bei der Präsentation der Studie. Es sei »immer eine Notversorgung geblieben« mit einem Regelsatz, »der fernab jeglicher Realität errechnet wird«.
Die Nöte sind nur zu real. So gaben 54 Prozent der befragten Eltern an, regelmäßig auf Essen zu verzichten, damit ihre Kinder satt werden. 72 Prozent aller Befragten erklärten, der Regelsatz von 563 Euro im Monat reiche nicht aus, um ein Leben in Würde zu führen. Nur neun Prozent bekundeten, eine gesunde Ernährung mit diesem Regelsatz für möglich zu halten. Bürgergeld sei aber Steinhaus zufolge »nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein emotionales Desaster«. 42 Prozent gaben an, dass sie sich schämen, überhaupt Leistungen zu beziehen. 72 Prozent erklärten ihre Angst vor weiteren Verschärfungen. Und nur zwölf Prozent der Befragten fühlen sich demnach als Teil der Gesellschaft.
Da laufe etwas »grundlegend falsch«, erklärte Steinhaus. Doch statt das zu ändern, würden die politisch Verantwortlichen neue Verschärfungen beim Bürgergeld planen und immer noch darüber diskutieren, ob der Regelsatz zu hoch sei. Die »Sanktionsfrei«-Vorsitzende forderte eine Höhe von 813 Euro. Sie kritisierte Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), die in einem Interview von »mafiösen Strukturen« beim Bürgergeldbezug gesprochen hatte. Es gebe keinerlei Beleg dafür, »dass Sozialleistungsbetrug ein strukturelles Problem wäre«. »Wer nach systemischem Missbrauch sucht, sollte bei Cum-Ex und Steuervermeidung anfangen«, empfahl sie.
Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung kritisierte ebenfalls die »schwarz-rote« Bundesregierung. Der Plan, Leistungen zu beschneiden und Sanktionen zu verschärfen, sei »ein gefährlicher Irrweg«. Kürzungen beraubten die Menschen ihrer Würde und vertieften die Armut in Deutschland. Die Jobcenter müssten besser ausgestattet werden, um den Menschen bei der Integration in den Arbeitsmarkt wirklich helfen zu können.
Das forderte auch Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, in einer Mitteilung vom Montag. Die Studienergebnisse belegen laut Bentele klar, »dass eine überwältigende Mehrheit von 74 Prozent möglichst schnell das Bürgergeld verlassen und eine existenzsichernde Arbeit aufnehmen möchte«. Doch mehr als die Hälfte der Befragten sei gesundheitlich eingeschränkt und benötige »dringend mehr Unterstützung durch die Jobcenter«.
Unterdessen wurde bekannt, dass der Staat im vergangenen Jahr rund 826.000 Erwerbstätigen zusätzlich Bürgergeld gezahlt hat, weil ihr Einkommen nicht zum Leben reichte. Die Kosten dieser Lohnsubvention lagen bei rund sieben Milliarden Euro. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Linke-Abgeordneten Cem Ince hervor, aus der dpa am Montag zitierte. Demnach ist die Zahl der sogenannten Aufstocker erstmals seit 2015 wieder gestiegen.
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