Gemischte Gefühle
Von Holger Römers
Als am Sonntag die 88. Tour de Suisse begann, ging das 77. Critérium du Dauphiné gerade zu Ende. Dessen Teilnehmerliste führte eindrucksvoll vor Augen, wie sich zwischen diesen einwöchigen Veranstaltungen, die traditionell der Vorbereitung auf die Tour de France dienen, die Gewichte verschoben haben: Alle Podiumsplazierten der letzten Frankreich-Rundfahrt waren in der Dauphiné vertreten.
Nun dürften Tadej Pogačar (UAE Team Emirates – XRG), Jonas Vingegaard (Team Visma – Lease a Bike) und Remco Evenepoel (Soudal Quick-Step) mit gemischten Gefühlen auf die vergangene Woche zurückblicken, auch wenn beim Toursieger von 2024, 2021 und 2020 die Bilanz nur einen Schönheitsfehler ausweist. Pogačar siegte bei zwei Bergankünften und hätte wohl auch am abschließenden Sonntag den 21jährigen französischen Ausreißer Lenny Martinez (Bahrain – Victorious) um den Etappensieg bringen können – wenn er es denn unbedingt gewollt hätte. Allerdings war dem 26jährigen Slowenen der Gesamtsieg auf den letzten steilen Kilometern bereits sicher, weshalb er auf einen vierten Tageserfolg verzichten mochte. Den ersten hatte er beim Auftaktverbucht, als Jonathan Milan (Lidl – Trek) für einen Sprintsieg prädestiniert schien. Der 24jährige Italiener musste sich schließlich mit dem Sieg am Folgetag begnügen, da eine weitere Sprintankunft überraschend vom ein Jahr älteren Briten Jake Stewart (Israel – Premier Tech) gewonnen wurde.
Dass der Massensprint auf der ersten Etappe ausblieb, hatte indes Vingegaard erzwungen, indem er am letzten Hügel vorm Ziel so intensiv beschleunigte, dass kaum jemand folgen konnte. Dass der 28jährige Däne sich dann im Sprint einer hochkarätigen Gruppe nur knapp seiner Nemesis geschlagen geben musste, unterstrich seine gesteigerte Explosivität, die er in den Bergen freilich nicht so lange aufrechterhalten konnte wie sein Hauptkonkurrent. Zuversichtlich dürfte den Toursieger von 2023 und 2022 jedoch stimmen, dass er als Zweiter des Zeitfahrens Pogačar auf nur 17 Kilometern um fast eine halbe Minute distanzierte.
Sieger im Kampf gegen die Uhr war Evenepoel. Dass er als Weltmeister und Olympiasieger in dieser Spezialdisziplin die Erwartungen erfüllt hatte, benannte der 25jährige Belgier im Interview als einzigen Gesichtspunkt, unter dem seine Vorbereitung auf die Frankreich-Rundfahrt im Soll liege. Allerdings steht das selbstkritische Fazit unter einem Fragezeichen, da schwer einzuschätzen ist, inwieweit sein Abrutschen auf den vierten Gesamtrang dadurch bedingt war, dass er am Donnerstag in der allerletzten Kurve buchstäblich unter die Räder gekommen war.
Hinter Vingegaard schnappte sich Florian Lipowitz (Red Bull – Bora – Hansgrohe) den dritten Gesamtrang, der um so höher zu bewerten ist, als er nicht entscheidend der Anwesenheit des 24jährigen in jener Fluchtgruppe geschuldet war, aus der am Dienstag der 21jährige Spanier Iván Romeo (Movistar Team) solo gewann. Nach seinem siebten Rang bei der letzten Vuelta a España, Platz zwei bei Paris–Nizza und Platz vier bei der Baskenlandrundfahrt untermauerte Lipowitz seinen Status als zur Zeit bester deutscher Klassementfahrer. Bei der am 5. Juli beginnenden Frankreich-Rundfahrt dürfte ihm freilich die Rolle eines Edelhelfers für Primož Roglič zufallen.
In dessen Diensten wird dann wohl auch Alexander Wlassow stehen. Bei der Tour des Suisse, wo kaum nennenswerte Klassementfahrer im Einsatz sind, darf der 29jährige Russe dagegen auf eigene Rechnung fahren. Dasselbe gilt für João Almeida, der bei der Frankreich-Rundfahrt zu Pogačars Domestiken gehören dürfte, aber als Topfavorit für das Schweizer Rennen gehandelt wird. Als wichtigsten Gegner muss der 26jährige Portugiese Ben O’Connor (Team Jayco AlUla) betrachten, der bei der letzten Vuelta einen als Ausreißer errungenen Etappensieg in einen zweiten Gesamtplatz umgemünzt hatte. Deshalb musste man Almeida mal wieder taktische Schlafmützigkeit attestieren, als er am Sonntag den 28jährigen Australier gleich in einer großen Ausreißergruppe entschlüpfen ließ. Nach dieser Auftaktetappe, die vom 22jährigen Franzosen Romain Grégoire (Groupama – FDJ) solo gewonnen wurde, hatte O’Connor schon über zwei Minuten Vorsprung auf Almeida und etwas mehr auf Wlassow.
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