Konflikt ohne Vorgeschichte
Von Karl Wimmler
Es gab einmal eine Zeit, da schauten manche Journalisten führender westdeutscher Blätter noch mit kritischem Blick auf ihr eigenes Tun. Cordt Schnibben reiste ab 1984 für die Zeit jährlich nach Kambodscha, bevor er 1989 zum Spiegel wechselte. Im selben Jahr geriet Schnibben noch in einen Tross von Auslandskorrespondenten, die von offizieller Seite eingeladen waren, den Abzug der vietnamesischen Truppen aus Kambodscha nach zehn Jahren Besatzung zu beobachten. Unter anderem schrieb er darüber:
»Was machen knapp hundert Journalisten, die noch vier Tage Zeit haben, dann läuft das Visum ab, um exklusiv die Wahrheit über die Lage in Kampuchea herauszubekommen? Sie irren, vor ihren Betreuern und den Rikschafahrern flüchtend, durch die Straßen, Hotels, Restaurants und Bahnhofssalons auf der Suche nach Informanten. Später in ihren Berichten werden diese – erfindungsreich – heißen: ›Ein in Phnom Penh ansässiger Osteuropäer‹ (Stuttgarter Zeitung), ›one analyst‹ (Times), ›un expert occidental‹ (Liberation), ›ein Intellektueller‹ (Die Zeit), ›Western aid official‹ (Time Magazin), ›foreign diplomats‹ (Far Eastern Economic Review), ›Americans‹ (New York Times), ›westliche Beobachter in Südostasien‹ (dpa). (…) So obskur die Quellen, so mysteriös die Informationen, die sprudeln. Wie viele vietnamesische Soldaten kämpften und kämpfen noch in Kampuchea? 200.000 seien dagewesen, schreibt die New York Times, 85.000 seien jetzt noch im Lande. Zwei Wochen später meldet das Blatt, 120.000 seien ursprünglich dagewesen, ein Drittel sei abgerückt. Der Guardian hat den Abzug von drei Vierteln der Besatzertruppen beobachtet, die Stuttgarter Zeitung hat, von Thailand aus, lediglich Umgruppierungen festgestellt, nach wie vor seien mehr als 100.000 Besatzer im Land. AP zählt 50.000 Uniformierte auf fremdem Boden. Time registriert 75.000 von ursprünglich 150.000 Soldaten, Le Monde ebenso wie Reuters 50.000 von ehemals 200.000. Die Zeit hat noch 100.000 Okkupanten ausgemacht, die Frankfurter Allgemeine Zeitung 50.000 bis 60.000 und Geo – Weltrekord! – ›Hunderttausende Besatzer‹.«
Die Macht der Korrespondenten
Soweit Cordt Schnibben im Jahr 1989 über die Seriosität der Berichterstattung seiner Kollegen und ihrer renommierten Blätter. Aber damit nicht genug, auch über die wirtschaftliche Lage in dem südostasiatischen Land herrschte im Jahr 1989 völlige publizistische Klarheit: »Der Lebensstandard sei höher als in Vietnam, meint The Independent. In Kampuchea habe man mehr zu essen und könne besser leben, zitiert Far Eastern Economic Review die Umsiedler. ›Beachtliche Aufbauleistung‹ registriert Die Welt. ›Zehn Jahre vietnamesischer Besatzung haben Kampuchea ruiniert‹, urteilt dagegen Geo und sieht einen Zug von Verelendeten in die Hauptstadt ziehen, die auf 1,5 Millionen Einwohner angeschwollen sei. Mit 700.000 Einwohnern rechnet Newsweek in Phnom Penh und bemerkt, wie Le Monde, Neuansiedlungen auf dem Lande. ›Das ländliche Anwesen, die Felder werden geplündert und verkommen‹, klagt Geo jedoch und sorgt sich. ›Wer erzeugt eigentlich noch den Reis, den Fisch, das Gemüse?‹ Dank der Anreize für die Bauern, urteilt Far Eastern Economic Review, könnte die laufende Reisernte die größte seit zwei Jahrzehnten werden. ›Heiteren Optimismus‹, bemerkt die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Phnom Penh, ›zu dem auch die wirtschaftliche Liberalisierung und das Gefühl größerer Unabhängigkeit beitragen‹.«
Und so weiter. So dass Schnibben schnippisch, aber zutreffend zusammenfasste: »Offenbar liegt die Macht in einem Land wie Kampuchea nicht in den Händen der Regierung, sondern in den Händen der Korrespondenten des Auslands. Sie bestimmen, ob das Volk hungert oder nicht, ob die Menschen in die Städte flüchten oder aufs Land ziehen und wie viele von ihnen sterben, ob die Khmer ihre Regierung mögen oder hassen, ob sie fremde Soldaten verfluchen oder vermissen, ob geschossen wird oder nicht.«
Aus der heutigen Sicht einförmiger und weitgehend gleichlautender internationaler Berichterstattung nicht nur über dieses Land klingen solche Sätze wie Häresie. Man sollte sie allerdings immer im Hinterkopf behalten, wenn die feststehenden Urteile und angeblichen Fakten medial verkündet werden. Zwischen 1970, dem US-inszenierten Putsch gegen die Regierung des Norodom Sihanouk (König, Prinz, Ministerpräsident), und 1979, dem Einmarsch der vietnamesischen Besatzer, die das seit 1975 installierte Regime der von Pol Pot (Saloth Sar) geführten »Roten Khmer« großteils, aber nicht restlos beseitigten, bereisten so gut wie gar keine westlichen Journalisten das Land, danach bis 1989 wenige von ihnen allenfalls die Hauptstadt Phnom Penh oder die Provinzstadt Battambang. Übrigens stellte noch 1998 Ieng Sary, früher Stellvertreter Pol Pots, dem Spiegel-Reporter Alexander Smoltczyk Pol Pots greise Witwe in einem von ihm und seinen Leuten beherrschten an Thailand grenzenden Distrikt Kambodschas vor. (Spiegel 15/1998; Schnibben nannte das Land in seinen Berichten »Kampuchea«, nach der Benennung in der ein halbes Jahr nach der Befreiung verkündeten Verfassung. Der geringfügig davon abweichende, von der französischen Kolonialbezeichnung »Cambodge« abgeleitete Name Kambodscha wurde abgelehnt, und »Kampuchea« war eine Zeit lang auch international gebräuchlich.)
Peter Scholl-Latour war einer der ersten westlichen Journalisten, die nach dem Sturz der »Roten Khmer« 1979 ins Land kamen. Er hatte sich bereits 1972, unter der Herrschaft des von den USA an die Macht geputschten Generals Lon Nol, im Land kundig gemacht, nicht nur in den Städten, sondern auch im Dschungel. Einer von zwei französischen Archäologen, die sich um verfallende Khmertempel verdient machen wollten, hatte ihm gegenüber 1972 behauptet: »Jetzt kommt das große Entsetzen auf uns zu.« Er hätte, so Scholl-Latour, »am liebsten Henry Kissinger (ab 1968 Berater Präsident Nixons und zwischen 1973 und 1977 US-Außenminister; jW) als Kriegsverbrecher verurteilt gesehen« und gemeint: »Für den Überfall auf Kambodscha gibt es keine mildernden Umstände. Das war der blanke Zynismus Kissingers.«
Problem »Indochina«
Nun hat der notwendige Verweis auf den Krieg der USA gegen Kambodscha nichts damit zu tun, begangene Verbrechen des auf die Befreiung folgenden Regimes der »Roten Khmer« zu leugnen; allerdings folgt man einer jahrzehntelangen Kolonialerzählung, wenn man behauptet, dass erst mit dem Sieg gegen die US-Armee und ihre neokolonialen Statthalter am 17. April 1975 »Kambodscha in den Abgrund gerissen wurde«, wie man am 16. April 2025 auch in der jungen Welt lesen konnte. Der vom Vichy-Regime Frankreichs 1941 als König inthronisierte Norodom Sihanouk (1922–2012) genoss zwar Jahrzehnte später zu Recht internationale Reputation, da er das Land neutral und als Teil der Blockfreienbewegung positionierte. 1953 hatte er die Unabhängigkeit Kambodschas erklärt, nachdem er zwischen Frankreich und dem Viet Minh, der die »Indochina«-Konstruktion bevorzugte, manövriert hatte; im Land selbst verblieben jedoch feudale und neokoloniale Verhältnisse, die den Großteil der Bevölkerung in Armut und Abhängigkeit hielten, vermischt mit dörflichem Gemeineigentum und kollektiver Produktion.
Vor dem Putsch Lon Nols 1970 (er starb im November 1985 in einem kalifornischen Krankenhaus) war die maoistisch orientierte Kommunistische Partei Kambodschas, der Sihanouk den Namen »Rote Khmer« gab, eine nicht zu ignorierende, aber winzige Partei, deren Führung aus Intellektuellen bestand, die einige Jahre in Paris studiert hatten. Am bekanntesten von ihnen war Khieu Samphan, der von 1962 bis 1963 als Staatssekretär für Wirtschaftsfragen in der Regierung Sihanouk fungierte, offiziell erst 1969 der Partei beitrat und später zwischen 1976 und 1978 als Staatsoberhaupt des »Demokratischen Kampuchea« fungierte. Nach der Niederschlagung von Bauernrevolten durch die Sihanouk-Regierung 1967 und durch die »Vietnamisierung des Indochinakrieges« sowie insbesondere den Putsch 1970 wurde Kambodscha zum offenen Kriegsschauplatz und die »Roten Khmer« in Verbindung mit Sihanouk zur unangefochtenen Widerstandspartei. Wobei es Sihanouk war, der am Tag nach dem Putsch in einer Rundfunkansprache zum Generalaufstand der »Roten Khmer« gegen die Urheber des Putsches aufrief.
Lange Zeit fand ein anderer Umstand wenig Beachtung, auch durch die weltweite Anti-US-Solidaritätsbewegung: »Indochina« mit den Ländern Vietnam, Laos und Kambodscha war ein Kolonialgebilde, das die Jahrhunderte alte Kulturscheide zwischen dem indisierten »Hinterindien«, wozu Laos und Kambodscha gehören, und dem sinisierten Vietnam zukleisterte. Hinzu kam, dass Frankreich Vietnamesen als Kolonialfunktionäre in Kambodscha benutzte, so dass nach dem Zweiten Weltkrieg ein Drittel der Einwohner Phnom Penhs aus Vietnamesen bestand (Die Bevölkerung Vietnams umfasste 1970 über 40 Millionen Menschen, Kambodscha hatte etwa sieben Millionen). Auch daher rührt die an Rassismus grenzende Abneigung vieler Khmer gegenüber Vietnam und Vietnamesen. »Wir sind wie Kätzchen angesichts des vietnamesischen Löwen«, bemerkte Sihanouk einmal. Hinzu kommt, dass der Grenzverlauf zwischen dem Süden Vietnams und Kambodscha im fruchtbaren Mekongdelta jahrzehntelang strittig war; das Lon-Nol-Regime geriet vor 1975 mit der südvietnamesischen Diktatur ebenso militärisch aneinander wie das »Demokratische Kampuchea« der »Roten Khmer« mit der »Sozialistischen Republik Vietnam«, und bis heute ist der Grenzverlauf nicht endgültig geklärt.
Mehr Bomben als auf Japan
Der britische Journalist William Showcross, Autor unter anderem für Time, Newsweek, International Herald Tribune, The Spectator und The Washington Post, legte 1979 eine umfangreiche Studie vor, in deren Zentrum das Jahrzehnt von 1969 bis 1979 steht: »Schattenkrieg. Kissinger, Nixon und die Zerstörung Kambodschas«. Er konnte sich dabei auf amtliche Akten stützen, die nach der »Watergate«-Affäre freigegeben werden mussten; andere klagte er frei. Im Folgenden erwähne ich nur einige Einzelheiten seiner Darstellung der US-Kriegführung gegen Kambodscha: »Im ganzen Jahr 1972 hatten die B-52 (Langstreckenbomber von Boeing, jW) etwas weniger als 37.000 Tonnen Bomben auf Kambodscha abgeworfen. Im März 1973 warfen sie mehr als 24.000 Tonnen ab, im April ungefähr 35.000 und im Mai nahezu 36.000 Tonnen. (…) Aus Karten einer offiziellen, als geheim klassifizierten Geschichte der B-52-Einsätze jenes Jahres geht hervor, dass viele dieser Bomben auf die am dichtesten besiedelten Gebiete Kambodschas fielen. (…) Die Bombardierung Kambodschas war jetzt so intensiv, dass sich die Siebente US-Luftflotte ernsten logistischen Schwierigkeiten gegenübersah. In einer Phase wurden bis zu einundachtzig B-52-Einsätze pro Tag geflogen. Das Maximum in Vietnam hatte bei sechzig pro Tag gelegen. (…) Bis zum 15. August (…) hatte die (…) abgeworfene Gesamttonnage die Zahl 539.129 erreicht. Beinahe die Hälfte dieser Bomben, nämlich 257.465 Tonnen, war in den letzten sechs Monaten gefallen. (Während des Zweiten Weltkrieges wurden 160.000 Tonnen auf Japan abgeworfen.) Auf Luftwaffenkarten von Kambodscha sind Tausende von Quadratkilometern dicht bevölkerten, fruchtbaren Landes schwarz schraffiert von dieser Flut.« Mehr als 600.000 Kambodschaner wurden dabei getötet, so der australische Dokumentarfilmer und Journalist John Pilger in der britischen Tageszeitung The Guardian (21. Februar 2009).
Phnom Penh hatte im Jahr 1970 laut CIA 600.000, laut UN etwa 900.000 Einwohner. Aber schon ein halbes Jahr später war die Einwohnerzahl durch Flüchtlinge auf 1,2 Millionen angestiegen, und mit der Kapitulation des Lon-Nol-Regimes und dem Sieg der »Roten Khmer« war Phnom Penh ein Hexenkessel mit – unterschiedlichen Angaben zufolge – zweieinhalb bis drei Millionen Menschen. »Achtzig Prozent der Vorkriegsreisfelder waren verlassen worden«, so dass bis zuletzt die Versorgung in Phnom Penh vorzugsweise durch die USA aus der Luft stattfand, mit im Durchschnitt 543 Tonnen am Tag, während laut »der Behörde für Internationale Entwicklung etwa 1.000 Tonnen notwendig gewesen wären«, so dass sich Hunger ausbreitete, der als erstes Kinder traf. Mit dem Sieg der »Roten Khmer« fiel die Versorgung aus der Luft weg. Wie nun diese Massen ernähren? – Pete McCloskey, liberaler Republikaner, der vor dem Sieg der »Roten Khmer« Phnom Penh besucht hatte, resümierte vor dem Ausschuss des Repräsentantenhauses im Jahr 1975: »Was sie (die Verantwortlichen des US-Außen- und Verteidigungsministeriums; K. W.) dem Land angetan haben, ist sehr viel schlimmer, als was wir jedem anderen Land in der Welt angetan haben, und zwar gänzlich grundlos.«
Dazu kam noch die Besonderheit, dass die »Roten Khmer« zwar als Armee (Höchststand 70.000) letztlich stark genug waren, das Lon-Nol-Regime zu stürzen, aber die Parteikader »waren immer noch nicht zahlreich. Pung Peng Cheng, Sihanouks chef de cabinet, schätzte, dass sie Ende des Krieges rund 1.000 zählten«, so dieser in einem Interview mit dem britischen Journalisten William Shawcross im Jahr 1976 – ideale Voraussetzungen dafür, dass eine sektiererische Politik in Terrorismus gegen die eigene Bevölkerung ausartet. So wurde schließlich Phnom Penh und die zweite größere Stadt Battambang faktisch von heute auf morgen in völligem Chaos evakuiert und die Menschen zu landwirtschaftlicher Kollektivproduktion »verurteilt«, ohne deshalb für ihre ausreichende Ernährung sorgen zu können. Wie viele jener in die weitgehend zerstörten Landgebiete verfrachteten Menschen in den darauffolgenden Monaten und Jahren verhungerten, weiß niemand; zugleich wurden durch Intellektuellenfeindlichkeit sowie generelle Feindseligkeit gegen Stadtbevölkerungen in einem Furor der Ahnungslosigkeit und Brutalität auch jene Kräfte unterdrückt und teilweise vernichtet, die zur Linderung der Probleme hätten beitragen können.
Washington exkulpiert
Es ist unredlich, wie es in der Folge geschah, mit möglichst hohen Opferzahlen das Unbegreifbare mit Pathos anzuklagen, vor allem dann, wenn die Jahre vor 1975 ausgeblendet werden. Zu Letzterem musste schließlich auch das Kino herhalten. »The Killing Fields« hieß der britische Spielfilm aus dem Jahr 1984, der schließlich den Code dafür lieferte. Seitdem weiß die ganze (westliche) Welt, dass mit »Killing Fields« nur die »Roten Khmer« gemeint sein können. Die Handlung beginnt 1975 und endet 1979, wobei die Hauptpersonen Journalisten sind, ein US-amerikanischer und ein kambodschanischer – mit persönlichem Happyend. Der Film wurde mit Preisen überhäuft, darunter drei Oscars und eine Nominierung für die beste Regie. Niemand käme seither auf die Idee, mit »Killing Fields« auch das Land von 1970 bis 1975 zu meinen, womit sich die USA und insbesondere Kissinger und Nixon exkulpiert wähnen konnten.
Da Kambodscha zwischen 1975 und 1979 abgeschottet war und außer ein paar chinesischen Technikern kaum jemand ins Land kam, sind die nachträglich gelieferten Zahlenangaben im wesentlichen unseriös. Die Abgrenzung jener vor 1975 zu Hunderttausenden zu Tode gekommenen und mindestens ebenso vielen Verletzten von jenen danach muss weitgehend willkürlich erscheinen. Dass die Opfer des vor 1975 geführten Krieges heutzutage medial nicht existieren, ist ein eigenes Kapitel. Laut Wikipedia »kamen 1975–1979 je nach Schätzung zwischen 750.000 und mehr als zwei Millionen Einwohner Kambodschas durch Hinrichtung in den Killing Fields, Zwangsarbeit, Hunger und mangelhafte medizinische Versorgung ums Leben«. Wer wann was schätzte und worauf diese Schätzungen beruhen, bleibt im Dunkeln. Der ehemalige US-Präsident Richard Nixon wusste in seinen 1978 erschienenen Memoiren von »500.000 Toten und anderthalb Millionen in Umsiedlungszentren« zu berichten, verursacht durch angeblich »hochorganisierte Rote Khmer«. Weithin festgesetzt hat sich danach die Zahl von zwei Millionen Opfern in der Regierungszeit der »Roten Khmer«, wobei die FAZ (am 24. August 996) nicht nur von ums Leben Gekommenen sprach, sondern wusste, dass »während der Regierungszeit (der «Roten Khmer»; K. W.) zwischen 1975 und 1979 zwei Millionen Menschen umgebracht worden sind«. – Ihr Wissen stammte sicherlich nicht von Cordt Schnibben, es entsprang wohl eher ihrer Werbeparole »Dahinter steht immer ein kluger Kopf«.
Zum Schluss ganz ohne Ironie und Zynismus: Nicht alle Katastrophen in ehemaligen Kolonialländern sind ausschließlich die Folge imperialer Politik. Wenn im Kongo in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als zehn, wenn nicht zwanzig Millionen Menschen umgekommen sind – Noam Chomsky sprach schon vor mehr als einem Dutzend Jahren von fünf Millionen –, liegt das sicherlich auch an korrupten kongolesischen Warlords und Politikern und nicht nur an der kolonialen Vergangenheit und den neokolonialen imperialen Interventionen seit dem Sturz und der Ermordung Patrice Lumumbas. So haben auch die »Roten Khmer« Kambodschas unfassbare Schuld auf sich geladen und dazu beigetragen, die Befreiung ins Gegenteil zu verkehren. Die Katastrophe Kambodschas aber auf die vier Jahre ihrer Herrschaft zu reduzieren und dahinter den französischen und US-amerikanischen Imperialismus verschwinden zu lassen, darf man diesem nicht durchgehen lassen.
Der »Mayaguez«-Zwischenfall vom Mai 1975
Es ist weithin unbekannt, dass nach der Befreiung Südvietnams und Kambodschas zwischen den beiden unabhängigen Staaten ein regelrechter Krieg um vorgelagerte Inseln beider Staaten geführt wurde. Dennoch fuhr, ohne dass Washington eine Warnung an die Schiffahrt erlassen hatte, das amerikanische Containerschiff »S. S. Mayaguez« von Saigon durch dieses Gebiet in Richtung Thailand mit einer Ladung Material der US-Regierung. Am 12. Mai 1975 feuerte ein kambodschanisches Patrouillenboot Schüsse vor den Bug der »Mayaguez«, und das Schiff wurde geentert. Der Nationale Sicherheitsrat der USA trat zusammen, und Kissinger verlangte den sofortigen Einsatz von Gewalt. Die chinesische Regierung wurde gebeten, Kambodscha ein auf 24 Stunden beschränktes Ultimatum zur sofortigen Freigabe des Schiffes zu übergeben.
Als tags darauf die Besatzung der »Mayaguez« auf einem Fischerboot in Richtung Festland entdeckt wurde, griffen US-Flugzeuge das Boot an, konnten es aber nicht stoppen. (Zahlreiche Matrosen der »Mayaguez« erlitten dauerhafte Gesundheitsschäden und verklagten später die USA.) Daraufhin wurden sieben kambodschanische Schiffe im Umkreis versenkt und am 15. Mai durch Marineinfanteristen erfolglos die Insel Koh Tang angegriffen, worauf Radio Phnom Penh versprach, das Schiff freizugeben; in einem thailändischen Fischerboot wurde die Besatzung auf dem Weg zurück von der US-Flotte aufgenommen.
Unmittelbar danach begann eine neue Welle von Bombardements des Festlandes: In Kompong Som (heute Sihanoukville) wurde der Bahnhof, der Hafen, die Ölraffinerie und der Flughafen zerstört. Im Flottenstützpunkt von Rem wurden 364 Gebäude dem Erdboden gleichgemacht, neun Schiffe wurden auf See versenkt. Wesentliches Ziel war außer »Bestrafung« die Neubestätigung der US-Kampflust, die durch den Fall von Phnom Penh und Saigon angeschlagen war. Der Senator und fachismusaffine Rassist Barry Goldwater kommentierte: »Es ist wunderbar, es beweist, dass wir in diesem Land noch immer am Ball geblieben sind.« Die New York Times zitierte am 17. Mai 1975 Henry Kissinger: »Diese Wucht sollte klarmachen, dass es Grenzen gibt, jenseits derer die Vereinigten Staaten nicht gedrängt werden können.«
Der britische Journalist William Shawcross fasste die Ereignisse so zusammen: »Seitdem machte (Präsident; K. W.) Ford die ›Mayaguez‹-Affaire stets als seinen größten außenpolitischen Erfolg geltend. (…) Man müsste aber auch erwähnen, dass bei der ›Rettung‹ von 40 amerikanischen Seeleuten 41 amerikanische Soldaten starben und 49 weitere verletzt wurden. Es gibt keine zuverlässigen Angaben über die Zahl der Kambodschaner, die bei dem Angriff auf Koh Tang oder bei den erneuten Bombardierungen des Festlandes starben. Man kann auch nur Vermutungen anstellen über die Auswirkungen dieser Angriffe auf die Paranoia der Roten Khmer gegenüber ihren Feinden.«
Karl Wimmler ist Schriftsteller. Vom ihm erschien zuletzt »Nach Odessa. Die Formierte Gesellschaft reloaded. Graz 2024
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Leserbrief von Doris Prato (23. Juni 2025 um 14:53 Uhr)In Kambodscha, das unter seinem Staatschef Prinz Norodom Sihanouk im US-Krieg gegen Vietnam zwar eine neutrale Position bezog, aber seine Sympathien für die DRV und den Befreiungskampf im Süden, wie auch in Laos nicht verheimlichte, befürchtete man immer, dass das Land ein ähnliches Schicksal wie Vietnam erleiden könnte. Am 18. März 1970 war es dann soweit. Ein von der CIA-Station in Phnom Penh inszenierter Putsch stürzte die Regierung Sihanouk und hob ein proamerikanisches Regime unter General Lon Nol in den Sattel. Nach dem Umsturz wurden Zehntausende Angehörige der vietnamesischen Minderheit, die man verdächtigte, Viet-Cong-Kontakte zu unterhalten, bestialisch umgebracht. Ein Bericht der Frankfurter Rundschau beschrieb am 23. April 1970 ein »Bild des Grauens«, das sich am Mekong zeigte. »Im gelblichen Wasser treiben Leichen dem chinesischen Meer zu. Alle Toten haben die Hände auf dem Rücken gefesselt, und manche sind zu Gruppen bis zu zehn Mann gebündelt.« Da sich gegen Lon Nol Widerstand selbst in den kambodschanischen Streitkräften formierte, gab US-Präsident Nixon grünes Licht für eine Invasion. Am 1. Mai fielen blitzartig 15.000 Mann US- und Saigoner Truppen von Südvietnam aus in Kambodscha ein oder wurden von Transportmaschinen und Hubschraubern abgesetzt. Vor der Küste verhängten Kriegsschiffe der 7. US-Flotte und der Saigoner Marine eine Seeblockade. Zur Tarnung seines Terrorregimes proklamierte Lon Nol im Oktober eine »Khmer-Republik«. 1972 rief er sich zu ihrem Staatschef aus. Im Widerstand gegen ihn rissen die sogenannten Roten Khmer die Führung an sich. Washington ließ Lon Nol fallen und unterstützte die »Roten Khmer«, die nach dem Sieg der FNL und der DRV im April 1975 Front gegen diese bezogen, mit Geld und Waffen. So konnten diese im Dezember 1975 unter ihrem Führer Pol Pot die Macht ergreifen. Nach dem Sieg der Befreiungskämpfer in Saigon konnten südvietnamesische Truppen sich unter die Fittiche der »Roten Khmer« ins kambodschanische Grenzgebiet flüchten. Mit ständigen Überfällen auf das befreite Südvietnam, die schließlich in einen regelrechten Grenzkrieg übergingen, versuchte das Pol-Pot-Regime die friedliche Entwicklung des befreiten Nachbarlandes zu stören und aufzuhalten. Anfang Januar 1979 marschierte deshalb die vietnamesische Volksarmee in Kambodscha ein und stürzte, unterstützt von der »Einheitsfront für die nationale Rettung Kambodschas«, das Terrorregime der »Roten Khmer«. Der Führer der Einheitsfront, Heng Samrin, rief am 8. Januar die Volksrepublik Kampuchea aus, zu deren Staatschef er 1981 gewählt wurde. Bezeichnenderweise anerkannte sogar die UNO noch lange Zeit das verbrecherische Pol-Pot-Regime als »legitimen Vertreter des kambodschanischen Volkes« an.
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