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Aus: Ausgabe vom 17.06.2025, Seite 12 / Thema
Sowjetische Geschichte

Sozialistisch im Inhalt, national in der Form

Stalin und das Ukrainische: Über die Umbrüche sowjetischer Sprachpolitik in den 1930er Jahren. Von Joshua Relko
Von Joshua Relko
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Nach der Oktoberrevolution kam es zu einem Aufschwung der vorher unterdrückten ukrainischen Sprache – Alphabetisierungskurs in Borodjanka, westlich von Kiew (5.9.1928)

Während die Regierenden in der Ukraine seit einigen Jahren ihr erklärtes Ziel, die russische Sprache im Land mehr und mehr zu verdrängen, gesetzlich umsetzen, verbannt der russische Staat in den von ihm besetzten Gebieten die ukrainische Sprache aus Bildung und Verwaltung. Zumeist oberflächliche Vergleiche zwischen der heutigen russischen und der früheren sowjetischen Führung, zwischen heutigen Annexionen und früheren Sowjetrepubliken, zwischen Putin und Stalin sind weitverbreitet. Aber finden die heutigen Ukrainisierungs- bzw. Russifizierungskampagnen der miteinander im Krieg stehenden Staaten wirklich ein Abbild in der sowjetischen Sprachpolitik? War es wirklich die Stalin-Zeit, in der das Ukrainische verdrängt wurde, ganz so, wie es Moskau heute vorschweben soll? Ein Blick auf die Maßnahmen der 1920er und 1930er Jahre lohnt sich, um die Unterschiede im Umgang mit Sprachen in kapitalistischen und sozialistischen Ländern am historischen Beispiel nachzuvollziehen.

Die Unterjochung der zum »kleinrussischen« Dialekt deklassierten ukrainischen Sprache war Alltag im Zarismus. Erst mit der sozialistischen Oktoberrevolution 1917 fand Ukrainisch seine Anerkennung als die eigenständige Sprache in der Gruppe der ostslawischen Sprachen, die es linguistisch zweifellos ist. Die neue Sowjetmacht etablierte die rechtliche Gleichstellung aller in ihren Grenzen genutzten Sprachen, Ukrainisch gehörte dazu. Im allgemeinen vermieden es die Revolutionäre aber, von Staatssprachen zu sprechen – sowohl auf Unionsebene als auch in den einzelnen Republiken. Stalin selbst betonte Ende der 1920er die Gleichheit aller Sprachen und die freie Sprachwahl in jeder Region. Auf die Gründung der Sowjetunion 1922 folgte der Beginn der sogenannten Korenisazija (sinnhaft zu übersetzen mit: Verwurzelung), die die Nationalitätenpolitik im sowjetischen Vielvölkerstaat von da an bestimmen sollte. Es folgten sprachpolitische Kampagnen, die darauf abzielten, die gemeinsame Verständigung innerhalb der verschiedenen Sprachgemeinschaften und zwischen diesen zu vertiefen: Standardisierungen, die Alphabetisierung der Bevölkerung im großen Stil und sogar Versuche, alle Sprachen der Union in lateinische Schrift zu transkribieren. Letzteres ist heute fast vergessen und war auch so abwegig, dass bald davon Abstand genommen wurde. Schriftlose Sprachen sollten jedoch eine Schrift bekommen – nicht zuletzt war das eine wichtige Grundlage für das Erlernen von Fremdsprachen und somit auch zur Unterstützung der unionsweiten Verständigung. Ein wichtiges strategisches Ziel der neuen sozialistischen Macht war die Förderung des Zusammenwachsens der Arbeiterklasse aller Nationen – oder zunächst wenigstens jener Teile im sowjetischen Bund. Die Stärkung der Nationalitäten sollte zugleich die Identifikation mit der UdSSR forcieren, nationale Emanzipation war für die Bolschewiki kein Selbstzweck.

Ukrainisierungspolitik

Die Ukraine selbst als zweitgrößte Sowjetrepublik und Heimat der zweitgrößten Sprachgruppe nach den Russischerstsprachlern war ein zentraler Schauplatz der Politik der Korenisazija. Als im Laufe der 1920er eine allgemeine Förderung der ukrainischen Sprache einsetzte, kam es zu einem außergewöhnlichen Anstieg ukrainischsprachiger Publikationen. Hier zeigt sich auch ein gewisser Nachholeffekt: Die im Zarismus stark eingeschränkte Veröffentlichung ukrainischsprachiger Texte war plötzlich vollumfänglich möglich geworden. Während 1913 gerade einmal 725.585 Bücher in ukrainischer Sprache zirkulierten, waren es 1927, zehn Jahre nach der Revolution, über 16 Millionen, ein Anstieg von über 2.000 Prozent. Der Anteil ukrainischsprachiger Publikationen stieg bis 1928 auf über die Hälfte aller Publikationen in der ukrainischen Sowjetrepublik. Dieser Anteil war immer noch verhältnismäßig gering, wenn man sich die reale Bevölkerungsverteilung in Erinnerung ruft: Bei einer Volkszählung von 1926 deklarierten sich 76,6 Prozent der in der Ukraine befragten Menschen als Ukrainer und nur 4,9 Prozent als Russen. Zudem bestand die ukrainischsprachige Publizistik zu einem großen Teil aus Agitationsliteratur, entstammten also dem Bereich, den die Revolutionäre selbst unmittelbar bedienten.

Ein anderes Bild ergeben die Zahlen zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen: Zwischen 1918 und 1929 waren insgesamt 856 Publikationen bei der allukrainischen Akademie der Wissenschaften zu verzeichnen, davon lediglich 72 in nichtukrainischen Sprachen (nur 16 davon in russischer Sprache). Auch im Bildungsbereich hatte die sowjetische Sprachpolitik spürbare Auswirkungen. Während 1923 61 Prozent der Grundschulen Ukrainisch als Unterrichtssprache vorwiesen, waren es 1925 schon 71 Prozent. Diese Tendenz hielt auch in den 1930er Jahren an, so dass 1937 83 Prozent aller Schulen ukrainischsprachig waren. Doch je spezialisierter bzw. höher die Bildungseinrichtungen waren, um so größer war die Bedeutung des Russischen als Unterrichtssprache. Auch gab es Bereiche, in denen Russisch als Verständigungssprache dominant blieb, etwa im Partei- und Staatsapparat. Trotzdem lässt sich festhalten, dass der ukrainischen Sprache unter der Sowjetmacht eine wachsende Bedeutung zuteil wurde.

Nationalismus und Sprache

Im Zuge der sich vertiefenden Integration der Republiken und Regionen in die Sowjetunion wurde eine gemeinsame Sprache zur Verständigung immer nötiger. Den Versuch, diese Herausforderung mit der Förderung der verschiedenen Unionssprachen zusammenzubringen, formulierte Stalin als horizontalen Multilingualismus, der die Anerkennung aller gesprochenen Sprachen ausdrücken sollte, in Verbindung mit einem vertikalen Bilingualismus, der die innersowjetische Kommunikation mit Hilfe der russischen Sprache gewährleisten sollte.¹

Warum fiel die Wahl auf Russisch als Sprache zur innersowjetischen Kommunikation? Zum einen war es die Erstsprache der Mehrheit der Sowjetbürger, zum anderen war es die Sprache, die auch in der westlichen Welt am ehesten bekannt war. Außerdem konnte man daran anknüpfen, dass Russisch bereits im Zarenreich die (damals allerdings häufig erzwungene) Verständigungssprache war. Somit war die Entscheidung für Russisch naheliegend, auch wenn dem gegenüber sein teilweise schlechter Ruf als Sprache des zaristischen Jochs stand. Der historische Vorsprung des Russischen zog in vielerlei Hinsicht (abgesehen von der Verständigung innerhalb der Bevölkerung) eine eingeschränkte Rolle des Ukrainischen nach sich. Dieses Ungleichgewicht blieb bestehen, wie beispielsweise der Rückgang ukrainischsprachiger Buchveröffentlichungen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zeigt.

Als Wendepunkt der sowjetischen Sprach- und Nationalitätenpolitik in der Ukraine werden in der Debatte des öfteren der XVII. Parteitag der Kommunistischen Allunions-Partei (Bolschewiki) 1934 und die dort getroffenen Aussagen Stalins herangezogen. Es handelt sich hier um Interpretationsfragen, da Stalin selbst der fortgesetzten Ukrainisierungspolitik in keinem Wort widersprach. Allerdings problematisierte Stalin den Nationalismus, der sich ihm zufolge im Windschatten der Nationalitätenpolitik entwickelt hatte: »In der Ukraine war noch vor ganz kurzem die Abweichung zum ukrainischen Nationalismus nicht die Hauptgefahr; als man aber aufhörte, gegen sie zu kämpfen, und sie so weit anwachsen ließ, dass sie mit den Interventionisten gemeinsame Sache machte, da wurde diese Abweichung zur Hauptgefahr.«²

Die Diskussion um eine außer Kontrolle geratene Ukrainisierung war allerdings bereits auf dem XVI. Parteitag vier Jahre zuvor ausgebrochen. Seither wurde die Frage des Kampfes gegen die »Spielarten des bürgerlichen Nationalismus« in den Fokus gerückt. In einem Brief warnte Stalin bereits 1926 vor einer aufgesetzten, voluntaristischen Ukrainisierung: »Der Apparat unserer Partei, des Staates und anderer Organe, die der Bevölkerung dienen, kann und soll ukrainisiert werden, wobei ein angemessenes Tempo einzuhalten ist. Aber es ist unmöglich, das Proletariat von oben zu ukrainisieren. Der Versuch, diesen spontanen Prozess durch die gewaltsame Ukrainisierung des Proletariats von oben zu ersetzen, wäre eine utopische und schädliche Politik, die geeignet ist, den antiukrainischen Chauvinismus unter den nichtukrainischen Teilen des Proletariats in der Ukraine zu schüren.«³

Diese Aussage kann als Vorläufer der Debatten über lokalen (hier: ukrainischen) und großrussischen Nationalismus der 1930er Jahre gelten. Die Bolschewiki erhoben gegenüber lokalen nationalistischen Kräften den Vorwurf, diese würden den Minderheiten die Ukrainisierung überstülpen. Plausibel scheint daher die Einschätzung, dass die Kampagnen gegen den Nationalismus sich nicht gegen eine Ukrainisierung richten sollten, es aber zum Teil faktisch taten, weil sie dazu führten, dass die Ukrainisierung vernachlässigt wurde bzw. unter politischen Verdacht geriet. Eine relativ hohe Zahl ukrainischer Intellektueller, darunter Literaten und Poeten, wurde im Laufe der 1930er Jahre verfolgt und zum Teil verhaftet oder getötet. Auch innerhalb der Apparate folgte den (sprach-)politischen Auseinandersetzungen eine Fahndung nach Personen, die des Nationalismus bezichtigt wurden.

Pflichtfach Russisch

Alle Republiken und Regionen der UdSSR hatten eine planwirtschaftlich-sozialistische Entwicklung gemeinsam. Der Widerspruch zu lokalen nationalistischen Kräften, die statt dessen auf Separation drängten, war offensichtlich. Eine noch größere Herausforderung stellte jedoch die Umsetzung der Sprachenpolitik dar. Der angestrebte Bilingualismus, mit dem Russisch als Verständigungssprache der Union etabliert werden sollte, erforderte konkrete Maßnahmen. So kam es 1938 zum Beschluss des ZK der KPdSU sowie des Rates der Volkskommissare »Über das obligatorische Lernen der russischen Sprache an Schulen der nationalen Republiken und Regionen«. Darin wurde bemängelt, dass der Russischunterricht in der Union unbefriedigend sei, was nicht zuletzt als subversives Werk von Konterrevolutionären verstanden wurde. Verpflichtender Russischunterricht nach festgelegtem Umfang sollte aus drei zentralen Gründen eingeführt werden: Erstens erschien die Kenntnis des Russischen als wirksames Mittel der Kommunikation und des Dialogs zwischen den Völkern der UdSSR, zweitens sollte sie zur Förderung von wissenschaftlichem und technischem Fachpersonal aus den verschiedenen Nationen beitragen, drittens galt sie als notwendige Voraussetzung für den Dienst in der Roten Armee.

Der Beschluss und seine Begründung spiegelten in erster Linie wider, wie die sowjetische Führung auf Russisch als gemeinsames Kommunikationsmittel drängte. Aber damit stand der obligatorische Russischunterricht auf Geheiß »aus Moskau« nun schwarz auf weiß. Der gesamtsowjetische Beschluss wurde in den einzelnen Republiken und Regionen umgesetzt, so auch vom ukrainischen Rat der Volkskommissare. Noch im selben Jahr wurde dort außerdem die Reform »Über die Reorganisation der Bildungseinrichtungen für nationale Minderheiten« auf den Weg gebracht. Darin wurde nicht weniger als die Umwandlung von Schulen der nationalen Minderheiten in Schulen mit russischer oder ukrainischer Unterrichtssprache festgelegt, auch dies unter Verweis auf die antinationalistische Orientierung. Im Hintergrund stand auch hier die Integration in die Sowjetallianz.

Die Umsetzung dieser Schulreformen in der Ukraine ist nicht zu trennen vom Antritt Nikita Chruschtschows als erstem Parteisekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine im selben Jahr. Dieser erhob schwere Vorwürfe gegen die Ukrainisierung: »Die Feinde des Volkes und die bürgerlichen Nationalisten erkannten die Macht und den Einfluss der russischen Sprache und Kultur. Sie wussten, dass dies der Einfluss des Bolschewismus war, der Einfluss der Lehren von Lenin-Stalin in den Köpfen des ukrainischen Volkes, der ukrainischen Arbeiter und Bauern. Deshalb wurde die russische Sprache aus den Schulen verdrängt. In vielen ukrainischen Schulen wurden Deutsch, Französisch, Polnisch und andere Sprachen gelernt, aber nicht Russisch. (…) Genossen! Von heute an werden alle Völker die russische Sprache lernen.«⁴

Der Unterschied zwischen Stalins Warnungen und Chruschtschows Forderungen ist deutlich erkennbar: Während ersterer tatsächlich noch die eigenständige Entwicklung der Republiken und Regionen anerkannte, legte Chruschtschow eine Haltung, die sich einseitig am Russischen orientierte, an den Tag, dass unter dem Stichwort der Einheit der Sowjetunion die anderen Sprachen von Verdrängung bedroht schienen. Was die Förderung des Russischunterrichts betraf, war eine teils bessere Bezahlung der Russisch- gegenüber den Ukrainischlehrenden sowie ein allgemeiner Lehrmittelmangel bei letzteren zu verzeichnen. Hier zeigt sich wieder die bereits erwähnte Bedeutung des Russischen für einen gesellschaftlichen Aufstieg in der ukrainischen Sowjetrepublik wie in der ganzen UdSSR.

Es sollte daher bedacht werden, dass unabhängig von der Reform des Jahres 1938 Russisch für viele Lernende sowieso faktisch obligatorisch war – aufgrund all der Vorteile, die die Sprache durch ihre universelle Verwendung stets hatte. Dennoch bedeutet Bilingualismus nicht zwangsläufig eine Verdrängung der anderen lokalen oder nationalen Erstsprachen (zum Beispiel stellt der obligatorische Englischunterricht an deutschen Schulen offensichtlich Deutsch als Erstsprache nicht in Frage). Festzuhalten ist im Gegenteil, dass die Möglichkeiten der Verbreitung der ukrainischen Sprache, etwa durch das Erlernen als Erstsprache in Bildungseinrichtungen, nach Gründung der Sowjetunion deutlich besser waren als zuvor. Dies blieb auch in den 1930er Jahren so. Nicht zu leugnen ist auch, dass es nationalistische, konterrevolutionäre Tendenzen in verschiedenen Regionen der Sowjetunion gab, die tatsächlich in Teilen von separatistischen Triebkräften antisowjetischer Einstellungen beeinflusst waren. Ideologisch und sprachpolitisch hatten die Bolschewiki ihnen den Kampf angesagt und dabei im Laufe der Jahre mitunter ihre Erklärungen zur Befreiung der Nationen zurückgestellt.

Spannungen schienen unvermeidlich, wenn die nationalen Sprachen aufleben sollten und gleichzeitig Russisch als universelle Verständigungssprache, als Sprache der sowjetischen Einheit, gelten sollte. Bei allen Verwurzelungsaktionen und Ukrainisierungskampagnen dürfen außerdem die weiterhin in Teilen des Staates und der Gesellschaft schlummernden »großrussischen« Ansichten nicht vernachlässigt werden. Darunter fällt auch Chruschtschows Haltung 1938, die im Widerspruch zu seiner späteren Politik des »Tauwetters« (wie die Phase nach Stalins Tod bezeichnet wird) steht, die neben dem Streben nach Frieden mit dem internationalen Imperialismus nicht zuletzt auch Lockerungen für zuvor verdächtigte ukrainische Sprachakteure brachte.

Von Korenisazija zur Russifizierung?

Trotz all der genannten Spannungen kann in bezug auf die 1930er Jahre nicht wie in Zeiten des Zarismus von einer bewussten oder gar geplanten Russifizierung auf dem Gebiet der Ukraine gesprochen werden. Vielmehr muss dieses Jahrzehnt als wichtige Konsolidierungsphase der Sowjetunion und ihrer Republiken verstanden werden: Die Diskussionen über die Umsetzung und Neugestaltung der Korenisazija in der Stalin-Zeit waren vielmehr Ausdruck der gewachsenen wirtschaftlichen und politischen Einheit, die die Bedeutung des Russischen zur gemeinsamen Verständigung in den Vordergrund rückte. Im Zuge dieser Herausforderungen wurden die Ukrainisierung und die Frage der Repräsentanz der ukrainischen Sprache zu sekundären – oder nach Stalin: langfristigen – Angelegenheiten erklärt.

Der möglicherweise wichtigste Schritt in dieser Entwicklung war die Einführung des obligatorischen Russischsprachunterrichts auf Basis der Beschlüsse der Sowjetmacht von 1938. Das allein ist aber kein hinreichender Beleg für eine geplante Russifizierung, höchstens für den gewünschten Bilingualismus. Die Reform der Bildungseinrichtungen der nationalen Minderheiten, die im gleichen Jahr in der Ukraine folgte, stellte einen Schritt zur Einschränkung der Minderheitensprachen dar, allerdings lässt sich auch hier nicht direkt auf eine Russifizierung schließen, da die Reform einer Stärkung sowohl des Russischen als auch des Ukrainischen gleichkam. Es handelte sich also maximal um einen Schritt zur besseren Verständigung innerhalb der Ukraine.

Der tatsächliche Bruch zwischen den 1920er und 1930er Jahren in der sowjetischen Sprachpolitik bestand in einer Verschiebung des Fokus von der Entwicklung der Kommunikation innerhalb der Nationen hin zur Kommunikation zwischen den Nationen der Sowjetunion. Die 1920er Jahre waren davon geprägt, ein neues gesellschaftliches System durchzusetzen und dabei nach Möglichkeit alle Völker der neuen Union einzubeziehen, um die Sowjetmacht zu stärken. Alphabetisierungskampagnen und Ukrainisierung sollten zunächst die Identifizierung mit der eigenen Sowjetrepublik stärken – als Voraussetzung einer Identifizierung mit der Sowjetunion insgesamt. Letzteres wurde spätestens Anfang der 1930er Jahre um so wichtiger, je mehr die Zentralisierung einerseits und reale äußere Bedrohungen andererseits zunahmen. Der neue sprachpolitische Fokus sollte über die 1930er Jahre hinaus anhalten und sich im Laufe der Jahrzehnte noch verstärken. Er hob die Sprachvielfalt in der Union nicht auf – noch 1950 betonte Stalin in Richtung jener, die wie Chruschtschow Russisch als die revolutionäre Sprache schlechthin ansahen: »Wissen diese Genossen nicht, dass die nationale Sprache eine Form der nationalen Kultur ist, dass eine nationale Sprache sowohl der bürgerlichen als auch der sozialistischen Kultur dienen kann? Kennen unsere Genossen nicht die bekannte Formel der Marxisten, dass die heutige russische, ukrainische, weißrussische und andere Kultur sozialistisch im Inhalt und national in der Form, das heißt in der Sprache, ist?«⁵

Relativ gesehen verloren die anderen Sprachen in der Sowjetunion – auch das Ukrainische – dennoch im Laufe der Zeit sichtbar an Bedeutung – ohne dabei je russifiziert worden zu sein. Heutzutage wird die Gleichberechtigung der Sprachen vom ukrainischen wie vom russischen Staat auf unterschiedliche Weise offen in Frage gestellt. Die Suche nach Parallelen der aktuellen sprachpolitischen Entwicklungen und den Jahren des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion läuft letztendlich ins Leere. Bei allen Unzulänglichkeiten im Rahmen der Verwurzelungspolitik, bei allen großrussischen oder nationalistischen Überresten aus der alten Gesellschaft, die in der Union und ihren Republiken fortwirkten, garantierte die Sowjetmacht auch in den 1930er Jahren die rechtliche Gleichheit der Sprachen und ihre grundlegend freie Entfaltung. Während sie den Nationalismus schon aus eigenem Staatsinteresse zurückzudrängen versuchte, stellen die Einschränkungen von Russisch bzw. Ukrainisch heute nicht einmal eine Seltenheit dar im Umgang bürgerlicher Staaten mit Sprache: Statt die Entwicklung nationaler Sprachen im Sinne der Bevölkerung zu fördern und parallel eine gemeinsame Verständigung zu stärken, dient ersteres lediglich zur Abgrenzung. Die je eigene Sprache soll im Zuge des Krieges durchgesetzt werden. Statt teils jahrhundertealte Gräben der sprachpolitischen Benachteiligung oder Bevorteilung zu schließen, werden neue aufgerissen. Letztlich ist es der Klassencharakter einer Gesellschaft, der ihren Umgang mit Sprache bestimmt.

Anmerkungen

1 Vgl. Michael G. Smith: The Tenacity of Forms: Language, Nation, Stalin. In: Craig Brandist/Katya Chown (Hg.): Politics and the Theory of Language in the USSR 1917–1938. The Birth of Sociological Linguistics. London 2010, S. 105–122, hier: S. 119

2 Josef Stalin: Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU (B), 26. Januar 1934. In: ders.: Fragen des Leninismus. Dietz, Berlin 1951, S. 513–589, hier: S. 575

3 Josef Stalin: To Comrade Kaganovich and the Other Members of the Political Bureau of the Central Committee, Ukraine C.P.(B.). 26. April 1926, https://www.marxists.org/reference/archive/stalin/works/1926/04/26.htm#1 (Übersetzung aus dem Eng­lischen: JR)

4 Chruschtschow zum XIV. Parteitag der KP(B)U, zit. n.: Roman Solchanyk: Language Politics in the Ukraine. In: Isabelle T. Kreindler (Hg.): Sociolinguistic perspectives on Soviet national languages. Their Past, Present and Future. Berlin 1985, S. 57–105, hier: S. 72 (Übersetzung aus dem Englischen: JR)

5 Josef Stalin: Marxism and linguistics, 20. Juni 1950, https://www.marxists.org/reference/archive/stalin/works/1950/jun/20.htm?) (Übersetzung aus dem Englischen: JR)

Joshua Relko schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. Mai 2024 über die »Berlin-Blockade«: »Beginn eines Mythos«

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (23. Juni 2025 um 15:30 Uhr)
    Mit seiner Kritik an der mangelhaften Einführung des Russischunterrichts in der Sowjetukraine hatte Chruschtschow m. E. völlig recht. Die bundesstaatliche Struktur der UdSSR stand dem nie im Wege. Seit der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine ist es mit der Frage der Sprachen der nationalen Minderheiten sehr viel schwieriger geworden. Wer Karriere machen will, muss die ukrainische »Mowa« beherrschen, die Staatssprache. Russisch als zweite Sprache hatte im Osten und Süden viele Anhänger, aber eben nur dort. Selbst im Donbass beantworteten viele Bewohner die Frage, welchem Ethnos sie sich zurechnen, mit »Ukrainer«, großenteils aus taktischen Gründen.
    Von ihnen aber antworteten viele bereits vor 2014 auf die Sprache nach der eigenen Sprache mit »Russisch«. Beispiele (nach en.wikipedia, die deutsche Ausgabe unterschlaegt die Angaben zum Sprachgebrauch): In Donezk sprachen 88 Prozent der Einwohner Russisch, doch nur 47 Prozent erklärten, Russen zu sein; in Luhansk/Lugansk sprachen 85 Prozent der Einwohner Russisch, 47 Prozent sagten, sie seien Russen.
    Oder um mal zwei bekannte kleinere Orte zu nehmen: in Debalzewe/Debalzewo sprachen 82 Prozent Russisch, doch nur 33 Prozent gaben sich als Russen zu erkennen, in Ilowaisk gaben 83 Prozent an, Russisch zu sprechen, aber nur 40 Prozent wollten Russen sein, 57 Prozent Ukrainer. Es geht nicht um die »universelle Verständigungssprache«, sondern Russisch wurde und wird im Osten der Ukraine als »rodnoj jasyk« angegeben, die eigene Sprache in den eigenen vier Wänden. Auf den Märkten dient es da erst recht als »lingua franca«. Im Gegensatz zur »Mowa«, der ukrainischen Staatssprache. So wie dereinst Gogol, schreiben und dichten viele der Staatsangehörigkeit nach ukrainische Autorinnen und Autoren heute in Russisch, so erreichen sie eine weit größeren Leserzahl. Als Irland unabhängig wurde, hatten viele Nationalisten die Vorstellung, das gaelische Irisch müsse wieder zur Staatssprache werden. Daraus wurde bekanntlich nichts. Das verbindende Element waren der spezielle irische Tonfall des dortigen Englisch, vor allem aber die katholische Religion. Nur wenige beherrschen weiterhin die irische Sprache. Wer hat also die Ukraine gespalten, indem er Russisch – die Sprache der Osthälfte der Ukraine – komplett verbot?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert L. aus M (16. Juni 2025 um 20:45 Uhr)
    Der Autor belegt nicht, inwieweit es heute in den von Russland übernommenen Gebieten eine forcierte Russifizierung geben soll. Auf der Krim gibt jedenfalls seit 2014 drei offizielle Sprachen: das Russische, das Ukrainische und das Krimtatarische. Wie es in der Ukraine mit Sprachen aussieht, dürfte allgemein bekannt sein.

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