Erinnern heißt kämpfen
Von Gerhard Hanloser
Am 23. Mai 2025 diskutierte Gerhard Hanloser auf Einladung von Kristin Helberg bei einer Veranstaltung der Initiative »Zeit zu Reden« mit Wolfgang Benz, Asal Dardan und Sarah El Bulbeisi unter dem Motto: »Was bedeutet ›Nie wieder ist jetzt?‹ Eine kritische Diskussion über formelles Gedenken und multiperspektivisches Erkennen«. Wir dokumentieren im folgenden das von Hanloser in diesem Zusammenhang gehaltene Referat. (jW)
Welche Erinnerungskultur braucht Deutschland in den heutigen Zeiten?» lautet eine der Fragen für diese Diskussionsrunde. Ich kann das nur kritisch beantworten, weil meine Identifikation mit dem Standort Deutschland, auch mit dem Erinnerungsstandort Deutschland, sehr gering ist. Das hat Gründe, die auch mit der Pflege eines familiären kommunikativen Gedächtnisses zu tun haben, das sehr stark durch meinen Vater geprägt worden ist. Dieser erlebte Kriegsende und Besatzung seiner Heimatstadt Konstanz am Bodensee als 14jähriger und empfand wiederum aufgrund seiner familiären Prägung die einrückenden französischen Soldaten unzweideutig als Befreier.
Mein Vater schoss am 26. April 1945 Fotos vom zentralen Platz in Konstanz, die Familie winkte französische Soldaten zu sich hoch in die Wohnung auf der Markstätte. Es war ein Freudentag. Vaters Erzählungen von den französischen Soldaten – einer schloss sich gefühlte Stunden im Badezimmer ein – und die Fotos sind fester Bestandteil unseres familiären Gedächtnisses. Dieses begreift sich als Teil einer antifaschistischen Erinnerung, obwohl mein Vater und dessen Eltern sowie meine Großeltern väterlicherseits keiner Opfergruppe angehörten.
Wir sind eine bundesrepublikanische Familie, mein Vater als Linker und Antifaschist feierte – neben dem 1. Mai – den 8. Mai. In den 1970er Jahren, in denen ich geboren bin, verschickte mein Vater zum 8. Mai als «Tag der Befreiung von Faschismus, Militarismus und Krieg» von ihm konzipierte und gedruckte Karten an seine Bekannten, auch an konservative Arbeitskollegen, um Freude über diesen Tag zu bekunden, aber auch in subversiver Absicht und Interesse an Reaktionen. Im Kontext der damaligen Bundesrepublik war mein Vater ein Außenseiter. Er erkannte sich mit seinem emotionalen und politischen Empfinden eher in der Gedenkpolitik der DDR wieder, die er freilich nur aus der Ferne rezipierte.
Ausgerechnet DDR
Warum identifizierte er sich mit dieser vielfach kritisierten und nach 1990 delegitimierten Gedenkpolitik, die – wie gemeinhin betont wird – den Opferstatus der Juden unterrezipierte und die ostdeutsche Bevölkerung entweder zu Opfern des monopolkapitalistischen Faschismus erklärte oder gar zu Widerständlern? Drei Gründe fallen mir ein:
Erstens: Attraktiv war das DDR-Gedenken aufgrund der Abwesenheit der larmoyanten Rede, man sei besiegt worden und der 8. Mai sei ein Trauertag; genau dies war nämlich die Haltung der BRD, grob gesagt bis zur Weizsäcker-Rede 1985, in der der Bundespräsident – was man nicht vergessen sollte – aber auch erklärte, dass der 8. Mai eben kein Tag zum Feiern sei. In der DDR galt, was heute gelten sollte: Der 8. Mai ist ein Tag, um zu feiern. Nicht nur für die Opfer des Nazifaschismus, sondern auch für nachgeborene Linke und Antifaschisten.
Zweitens: Jenseits der oft autoritären und mitunter antiaufklärerischen Politik der DDR-Kulturfunktionäre gab es in der DDR sozialistische Künstler und Intellektuelle, die ernsthaft an einer Auseinandersetzung mit dem Nazifaschismus arbeiteten, also verstehen wollten, wie es dazu kommen konnte. Da war nicht nur Bertolt Brecht, da waren auch viele andere. Die Filmemacher Konrad Wolf oder Heiner Carow wären zu nennen, die jüdische und kommunistische Künstlerin Lea Grundig und viele weitere. In den Zeitschriften Sinn und Form und Aufbau wurden besonders in den Anfangsjahren Debatten über das Wesen des deutschen Faschismus geführt, die hochinteressant waren und das Dimitroffsche Paradigma, wonach der Faschismus an der Macht als die «offene terroristische Diktatur» eines Teils des Finanzkapitals, nämlich der «reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente» zu begreifen sei, erweiterten. Einige Autoren sprachen von der «deutschen Misere», die darin bestand, dass hierzulande immer das Revolutionäre unterentwickelt blieb oder blutig ausgelöscht wurde. Zuweilen wurde zurückgegangen bis zum Bauernkrieg 1525. In der langen Kette der Moderne von 1848, 1918, 1923 sehen wir übermächtige Behauptungen der herrschenden Klasse, eine Vielzahl von gescheiterten oder nicht geführten Revolutionsprozessen.
Drittens: Wo man in der BRD hegemonial nach dem Zweiten Weltkrieg immer nur Opfer sein wollte – Opfer der Siegerjustiz der Alliierten, Opfer der Vertreibungen (Stichwort: Ostgebiete und Flucht der Sudetendeutschen) –, gab es in der DDR neben Tätern und Opfern eine zentrale dritte Gruppe in der Erinnerungspolitik: den Widerstand. Lange galt in der BRD der antifaschistische Widerstand in konservativen Kreisen als «kommunistisch» und wurde bereits deswegen abgelehnt. Selbst die Akteure des konservativen Widerstands um Stauffenberg und den «20. Juli» wurden noch in den 1950er und 1960er Jahren als «Verräter» angesehen. Während Widerstandskämpfern die Rente vorenthalten wurde, galten die NS-Urteile wegen Hochverrats weiterhin und wurden von der Justiz als Begründung für ihre ablehnenden Rentenentscheidungen herangezogen. Dagegen pflegte die DDR die dort gewiss auch überzeichnete Figur des antifaschistischen Widerstandskämpfers, besonders natürlich in den Reihen der KPD, der «Roten Kapelle», des Nationalkomitees Freies Deutschland. Man gedachte allerdings auch der italienischen Resistenza, der französischen Résistance und der Partisanen, die in einer Art europaweitem Klassenkampf gegen Naziherrschaft und deutsche Besatzung gekämpft hatten. Mit der Delegitimierung der DDR nach 1990 sind auch diese fortschrittlichen Traditionsbestände ins Vergessen geraten oder mit einem Tabu belegt worden.
Nürnberg und Vietnam
Erst mit der 1968er-Revolte, mit der Rezeption der Kritischen Theorie, mit den Faschismusdiskussionen in Zeitschriften wie dem Argument kam in die BRD ein frischer Wind auf. Hier wurden ernsthafte Debatten über das Wesen des Faschismus vor einem materialistischen Hintergrund geführt und das um- und fortgesetzt, was in marginalisierten Publikationen wie den Frankfurter Heften von Linkskatholiken wie Walter Dierks in den 1950er Jahren angestoßen worden war.
Der Antifaschismus der 68er-Bewegung verband sich mit einem tief empfundenen Internationalismus und Antiimperialismus. Nie wieder hieß: nie wieder imperialistischer Krieg. Der Vietnamkrieg wurde als ein Vernichtungskrieg rezipiert. Das Russell-Tribunal gegen den Vietnamkrieg, an dem sich viele linke Intellektuelle der damaligen Zeit wie Jean-Paul Sartre oder Peter Weiss beteiligten, stellte sich nicht ohne Grund in eine Traditionslinie mit dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal.
Vor dem Hintergrund der hier skizzierten familiären politischen Gedächtnisarbeit und Tradition stehe ich der deutschen Erinnerungspolitik und der hegemonialen Erinnerungskultur kritisch bis fremd gegenüber. Warum? Auch heutzutage wird der Widerstand gegen den NS-Faschismus kaum rezipiert. Das Wissen darüber droht verlorenzugehen. Zwar gibt es Ausnahmen wie den in der Öffentlichkeit durchaus beachteten Film «In Liebe, eure Hilde» von Andreas Dresen über die «Rote Kapelle». Aber gleichwohl muss man konstatieren, dass dieser reichlich verkitscht und kulturindustriell überformt ist. Da war man in der BRD schon einmal weiter. Der Dichter der antiautoritären Revolte, Peter-Paul Zahl, erinnerte in einem Theaterstück einst an den einsamen Hitler-Attentäter Johann Georg Elser und ließ das Stück in Form einer Aktualisierung für die Jetztzeit antiimperialistisch ausklingen. Wer kennt noch die Verfilmung von Franz Josef Degenhardts Roman «Zündschnüre» über Arbeiterdissidenten am Ende des Zweiten Weltkriegs, die Edelweißpiraten, das kleine Ausscheren aus der «Volksgemeinschaft»? Der Film ist ein Produkt der Nach-68er, als sich diese Bewegung in die Kulturlandschaft der BRD einschreiben konnte. Entsprechend wurde der Film des langjährigen DKP-Mitglieds Degenhardt vom WDR produziert. Heutzutage spricht man unterschiedslos von einer deutschen Tätergesellschaft, ohne notwendige Gewichtungen vorzunehmen. Die unternehmerischen Interessen und die wirklichen Profiteure von Kriegsproduktion und Krieg geraten aus dem Blick, der Verweis auf IG Farben, Krupp, Mercedes-Benz, VW und andere erscheint wie ein anachronistischer Antikapitalismus.
Deutsches Gedächtnistheater
Mittlerweile gibt es im deutschen Gedächtnistheater – um diesen treffenden Begriff von Michal Bodemann, den zuletzt Max Czollek populär gemacht hat, aufzugreifen – nur noch die Figuren des Täters und des Opfers. Seit Daniel Goldhagens Bestseller «Hitlers willige Vollstrecker», das in der deutschen Rezeptionsgemeinschaft Mitte der 1990er Jahre euphorisch aufgenommen wurde, gilt das Paradigma, sich als Nachfolger deutscher Täter zu erklären und gleichzeitig als ganz besonders geläutert erscheinen zu wollen, was sich in besonderer Weise in der Ablehnung von Antisemitismus zu zeigen habe oder gar, Stichwort «deutsche Staatsräson», in der bedingungslosen Solidarität mit Israel als Staat der Opfer. Selbst junge Menschen mit Migrationshintergrund sollen sich in dieses deutsche Passionsspiel, wie man das deutsche Gedächtnistheater auch bezeichnen könnte, einreihen – und zwar auf der Seite der geläuterten Täter, die insbesondere ihren vermeintlichen Antisemitismus abzustreifen haben. Darauf hat unlängst noch einmal Esra Özyürek in ihrem Buch «Stellvertreter der Schuld» hingewiesen, das aufzeigt, wie pädagogische Programme den Eintritt in das Einwanderungsland Deutschland an ein merkwürdiges Schuldbekenntnis von migrantischer Seite koppeln.
Was wir brauchen, ist ein Bruch mit dieser hegemonialen Erinnerungspolitik, um zu einer aktivistisch-linken, universalistischen, multidirektionalen und internationalistischen Erinnerung zu kommen. Das wäre der von Walter Benjamin angemahnte «Tigersprung unter dem freien Himmel der Geschichte». Der Tigersprung ins Vergangene finde in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert, schreibt Benjamin. Was wir also brauchen, ist eine revolutionäre Geschichtsschreibung, die den Bruch mit dem Kontinuum der Beherrschung sucht. Die deutsche Erinnerungspolitik steht dem eindeutig im Weg.
Wie kann man zu einem Bruch und dem Aufbau von etwas Neuem kommen? Meines Erachtens gibt es eine Tendenz in der postkolonialen Szene, sich für einen Abriss, eine Art Disruption in der Erinnerungspolitik auszusprechen. Diese Szene erkennt richtigerweise, dass die deutsche Erinnerungspolitik eindimensional und interessengeleitet dem Staat Israel als «Staat der Opfer» eine Sonderrolle zubilligt und die Erinnerung sehr stark auf den Antisemitismus fokussiert. Ein Bruch mit dieser offiziellen Vergangenheitspolitik Deutschlands ist unerlässlich. Aber gleichzeitig ist es geboten, alles, was in der Erinnerungsarbeit geleistet worden ist, gegen den deutschen und europaweiten Geschichtsrevisionismus zu bewahren. Das heißt: Erinnerungsarbeit harrt der Aufhebung – durchaus in einem hegelianischen Sinne.
Rekuperation durch den Staat
Um einige nicht unwesentliche Momente der Erinnerungsarbeit zu erwähnen: Es war der ehemalige Bonner 68er Hannes Heer, der als Kurator der Wehrmachtsausstellung die Verbrechen ganz normaler deutscher Männer an der Ostfront dokumentierte und sich den geballten Zorn ehemaliger Wehrmachtssoldaten und sie unterstützender konservativer Politiker zugezogen hat. Initiativen wie die Belebung der Gedenkstätten oder die «Stolperstein»-Initiative von Gunter Demnig kamen von unten, ebenso wie die Geschichtswerkstätten. Viele Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit ihren Schülerinnen und Schülern Lokalgeschichte erarbeiteten, waren als SEW- oder DKP-Mitglieder von Staatsseite im antikommunistischen Klima der Bundesrepublik von Berufsverboten bedroht gewesen. Das heißt, wenn es einen Fortschritt in der Erinnerungsarbeit gab, auch eine Ausweitung der Erinnerungs- und Gedenkarbeit, dann musste dies von unten, von betroffenen oder von linken aufklärerischen Stimmen durchgesetzt werden. Die kulturelle Hegemonie, die nun von der AfD und allen anderen Rechten bedroht wird, wurde erkämpft. Gleichzeitig ist diese hegemoniale Struktur der Erinnerungspraxis verdinglicht worden und zur Zeremonie erstarrt, so dass die Protagonisten der Erinnerungsarbeit sich und ihre Intention zuweilen selbst nicht mehr wiedererkennen. Man könnte von einer Rekuperation der Erinnerungsarbeit sprechen, indem ideologischen Staatsapparate mit ihrem Interesse und ihren Bedürfnissen sich auf gesellschaftliche Forderungen, die nicht mehr ignoriert oder unterdrückt werden konnten, draufsetzten und im Modus dieser Okkupation diesen Forderungen den kritischen Gehalt nahmen. Am Ende steht die Sonntagsrede, die allen gefällt und immer mehr Minderheiten Honig ums Maul schmiert. Aber die Mehrheits-Minderheits-Verhältnisse bleiben dessen ungeachtet genauso bestehen wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Und ein zentrales Moment der aufklärerischen Erkenntnis über die Verbrechen des Nazifaschismus, das der junge Max Horkheimer in die Worte fasste «Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen», wurde schlicht vergessen.
Erziehung, hilf!
Seit Theodor W. Adorno 1966 seinen Vortrag über «Erziehung nach Auschwitz» gehalten hat, sind die Erwartungen an Schulen und Pädagogen hoch. Doch die wenigsten scheinen Adornos Text wirklich gelesen zu haben. Er betont gerade die Grenzen der Pädagogik. Deswegen sagt er auch, dass politischer Unterricht zur Soziologie werden müsse. Auch in Hinblick auf pädagogisches Wirken gilt, dass es nichts Wahres im Falschen gibt. Was Lehrpersonen aktuell machen können, ist, die eigene Rolle zu reflektieren: Wer erzieht den Erzieher? Warum sind die Erzieher in einem Land, in dem jeder vierte eine Migrationsgeschichte hat, immer noch so deutsch und weiß?
Schule ist ein ideologischer Staatsapparat, könnte und müsste man mit Louis Althusser formulieren. Es geht um Anpassung ans System, um die Selektion für den Arbeitsmarkt. Deswegen ist in der Machtstruktur Schule auch Rebellion von Schülerseite gerechtfertigt. Das ist eine Binse, die aber nicht vergessen werden darf. Auch eine antiautoritäre Bildung ist konfrontiert mit und bricht sich an autoritären gesellschaftlichen Mustern. Gleichzeitig eröffnet uns Schule und Bildung auch viele Möglichkeiten dank eines kritischen Bildungsbegriffs, der auch als ein Ergebnis des Marsches durch die Institutionen einiger 68er begriffen werden muss. Es geht besonders im Politik- und Geschichtsunterricht um die Multiperspektivität. Nun muss man konstatieren, dass mit dem Bundestagsbeschluss gegen Antisemitismus und Israel-Hass an deutschen Schulen und Hochschulen vom Oktober 2024 diese Multiperspektivität systematisch unterlaufen wird. Jüdisches Leben wird zuweilen kurzgeschlossen mit «Synagoge» und «Israel»; linke, israelkritische, gar antizionistische Juden und jüdisch-nichtzionistische Lebenswelten werden komplett unterschlagen. Palästinenser tauchen nur an einer Stelle im Zusammenhang mit dem Schlagwort «Hamas-Terror» auf, sind also als Gefahr markiert und bleiben ansonsten unsichtbar.
Hochschüler und einige Schüler antworten darauf mit außerschulischen Aktivitäten, mit außerschulischem Lernen im Engagement. Sie kommen in Stadtteilinitiativen und -komitees zusammen, organisieren sich in Gruppen und Parteien. Das Niveau der US-amerikanischen Campusbesetzungsbewegung, die von Trump und den Rechten heftigst angegriffen wird, gibt es hierzulande nicht. Die Aufgabe von Lehrenden, Hochschullehrern wie einfachen Lehrern, besteht in einer doppelten und dreifachen Verteidigung: Verteidigung der Grundrechte, besonders der freien Rede und der Meinungsfreiheit. Als Intellektuelle in akademischen Berufen ist geistige Selbstverteidigung gegen den neuen McCarthyismus notwendig, ja nahezu existentiell. Wir kennen die Arbeit am Begriff und sind mit interessengeleiteten, aber begriffslosen Akteuren konfrontiert, die mit «Antisemitismus» Politik machen und zusehends enthemmte Hetze betreiben. Wir sind aber auch als Lehrende im Betrieb relativ privilegiert und dazu angehalten, andere, weniger Privilegierte, gegen die nun die volle Repression in Anschlag gebracht wird, zu verteidigen. Vorbilder und couragierte Kritiker gab es in der Geschichte der BRD immer, ich möchte den Sozialpsychologen und Göttinger Professor Peter Brückner erwähnen, der keine Scheu hatte, auch militante Oppositionelle in ihrem Anliegen zu verteidigen.
Aber was kann man überhaupt von der Schule erwarten? Einem kritischen Bildungsbegriff folgend kann Unterricht informieren, Wissen vermitteln und zu kritischer Reflexion und eigener autonomer Handlung anhalten. Er muss aber auch über Herrschaftsverhältnisse und Interessen aufklären. Angemessene Reflexion auf Geschichte heißt dann auch radikale Kritik der Gegenwart. Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz, so meinte Adorno, wäre Autonomie, die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen. Diese Aufforderung Adornos kann und muss begriffen werden als eine Aufforderung, dem vorherrschenden Opportunismus zu entsagen. Das kann unmöglich nur in den Bildungseinrichtungen passieren. Gerade Schulen sind ja leider immer noch vor allem Orte der Produktion von Unterwürfigkeit und – vor allem – Marktgängigkeit. Was heißt es, dem Opportunismus zu entsagen? Gesellschaftlich müsste der weitverbreiteten Indifferenz oder gar dem Zynismus widersprochen werden. Es geht um eine Kultur der Solidarität. Die herrschende Politik geht in eine andere Richtung. In perverser Weise müssen wir heute, um nichtopportunistisch zu sein, den banalisierten und instrumentell eingesetzten Antisemitismusvorwürfen widersprechen, die von rechter Seite gegen menschenrechtlich Bewegte in Anschlag gebracht werden. War der Antibolschewismus, um mit Thomas Mann zu sprechen, die Grundtorheit der Epoche des 20. Jahrhunderts, so sind wir aktuell mit der Schande eines als Herrschaftsmittel eingesetzten Antisemitismusvorwurfs konfrontiert.
Deswegen müssen wir uns mehr mit dem historischen, mit dem tatsächlichen Antisemitismus auseinandersetzen und mit dessen Folgen. Die Kritische Theorie hat die «bürgerliche Kälte» in den Blick genommen, ohne die die Vernichtungspolitik nicht derart reibungslos hätte ablaufen können. Alles hatte im Nationalsozialismus seine Ordnung. Ähnlich wie später durch Zygmunt Bauman wurde die Bürokratie ins Zentrum der Reflexion gestellt, die Täter als zuweilen leidenschaftslose Bürger, eben als Bürokraten ausgemacht.
Nie wieder Krieg!
Das irritiert Schülerinnen und Schüler noch heute bei einem Besuch in Auschwitz: die bürokratischen Abläufe der Vernichtung, die Vernutzung und Herabwürdigung der Menschen, deren Gebrauchswerte wie beispielsweise Haare man sich noch aneignete, bevor man sie umbrachte. Wie war das möglich, so die ernsthafte und erstaunte, aber auch hilflose Frage, nicht nur von Schülerseite. Warum Auschwitz? Wir kommen nicht umhin, darauf zu verweisen, dass die Tötungsfabrik nur im Kontext eines entgrenzten Krieges funktionieren konnte, eines Krieges, der als imperialistischer Krieg zur Gewinnung von Lebensraum konzipiert und geführt wurde und auch dementsprechendes präformiertes, enthumanisiertes Personal zur Betreibung dieser Tötungsfabrik fand.
Die Kritische Theorie gilt vielen als die Theorie, die den Antisemitismus verabsolutiert. Dabei darf man nicht vergessen, dass Horkheimer und Adorno im Kapitel «Elemente des Antisemitismus» in der «Dialektik der Aufklärung» das antisemitische Denken als «Ticketdenken» etikettierten, das heißt, es ist ein stereotypisierendes Denken und kann sich vom Objekt des Juden lösen. Die Feindbestimmung ist arbiträr. Und natürlich erkennen wir, wenn wir aktuelle Berichte vom Tagesspiegel bis zur B. Z. betrachten, wen die aktuelle Feindbestimmung gerade trifft: Es sind Palästinenser und mit ihnen solidarische Menschen. Wir beobachten, dass in den herrschenden Medien weitere Gruppen herabgesetzt werden; ich erinnere an das Schlagwort des «Lumpenpazifismus». Wer die Geschichte des Nazifaschismus studiert hat und kennt, seine Feier des soldatischen Mannes, seine Herabsetzung des Pazifisten, der im übrigen gerne mit der Figur des Literaten und intellektuellen Juden kombiniert wurde, fragt sich, welcher diskursiven «Zeitenwende» wir momentan eigentlich beiwohnen.
Vor kurzem gab es in Hamburg eine «Stolperstein»-Verlegung für ein Mitglied des Widerstandsnetzwerks Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe, die die deutsche Rüstungsindustrie sabotierte. Oskar Voss, ein Elektroschweißer, wurde 1944 enthauptet. Er hatte Zwangsarbeiter und sowjetische Kriegsgefangene unterstützt und sich mit ihnen organisiert. Bei der Einweihung des für ihn verlegten Stolpersteins erklärte der Historiker Karl Heinz Roth, auch ein wichtiger Protagonist der 68er-Revolte, besonders in der heutigen Zeit steigender Rüstungsausgaben und steigender Börsenkurse für Rüstungskonzerne sei es wichtiger denn je, daran zu erinnern: «Rüstungsarbeit ist Zerstörungsarbeit, die sich in der Hand der militärischen Arbeiter, den Soldaten, in Tötungsarbeit umsetzt.»
Ich bin ein Verteidiger der multidirektionalen Erinnerung im Sinne Michael Rothbergs, denke aber, dass diese Aufforderung zum Erinnerungsdiskurs zwischen Opfern, sollte sie nicht in eine Kakophonie von Geltungsansprüchen münden, als linke und aufklärerische einem Vierklang zu folgen hat: Sie muss das Erbe des historischen Antifaschismus, der antikolonialen Kämpfe, des utopischen Antikapitalismus und des praktischen Antimilitarismus miteinander verbinden – mit dem Ziel einer Gesellschaft, in der die heteronome Instrumentalisierung der Vergangenheit sich erübrigt haben wird.
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