Explosive Sozialproteste in Bolivien
Von Volker Hermsdorf
Gut zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen am 17. August steht Bolivien vor einer sozialen und politischen Zerreißprobe. Das südamerikanische Land wird nicht nur von einer akuten Wirtschaftskrise erschüttert, sondern auch von einem eskalierenden Machtkampf innerhalb des progressiven Lagers. Neben der explosiven politischen Lage spitzt sich dadurch auch die wirtschaftliche Situation weiter zu. Seit Anfang Juni lähmen landesweite Straßenblockaden den Alltag, verschärfen Versorgungsengpässe und fordern Todesopfer. Bei Zusammenstößen im Südwesten des Landes wurden am Dienstag (Ortszeit) zahlreiche Demonstranten verletzt, drei Polizisten kamen ums Leben. Während die soziale Unzufriedenheit angesichts steigenden Inflation, Treibstoff- und Devisenmangels wächst, verursachen die Blockaden laut Regierungsangaben weitere Millionenschäden in der Landwirtschaft und im Tourismussektor.
Ursprünglicher Auslöser des Konflikts war die Entscheidung des Verfassungsgerichts, das im Mai eine erneute Kandidatur von Expräsident Evo Morales (2006–2019) für 2025 endgültig ausgeschlossen hatte. Am vergangenen Freitag veröffentlichte das Oberste Wahlgericht (TSE) eine Liste mit neun Kandidaten, ohne Morales. Dessen Unterstützer blockieren seither Verkehrswege, fordern seine Rückkehr ins Rennen und werfen Luis Arce Verrat am »Proceso de Cambio« vor, einem 2006 eingeleiteten politischen Wandel. Morales behauptet, Arce würde zu einem neoliberalen Wirtschaftsmodell zurückkehren und damit die Krise verschärfen. Er kritisierte den Einsatz des Militärs gegen Demonstranten, warnte vor einer Verletzung der Verfassung und einer »gefährlichen autoritären Entwicklung«. Dies, so Morales, diene der Unterdrückung legitimer Proteste und verkenne die soziale Verzweiflung der Bevölkerung angesichts der Energiekrise und der dramatischen Teuerung. Die höchste Inflation der letzten 40 Jahre und der fehlende Zugang zu Dollar-Devisen seien Folgen einer wirtschaftspolitischen Sackgasse.
In dieser angespannten Situation eskalierten die Proteste. Morales-Anhänger legten Baumstämme auf die Straßen und verbrannten Reifen. Der Minister für ländliche Entwicklung, Juan Yamil Flores, klagte daraufhin, dass der Agrarsektor durch die Straßenblockaden etwa 50,2 Millionen US-Dollar (rund 43,9 Millionen Euro) verloren habe. Der Vizeminister für Tourismus, Hiver Flores, ergänzte, dass in diesem Zweig durch Einnahmeausfälle bei Verpflegung, Transport und Unterkunft Verluste von 4,7 Millionen US-Dollar eingetreten seien. Die Regierung warf den Protestierenden außerdem vor, den Durchkommen von Rettungswagen, Lebensmitteln und Treibstoff zu verhindern. Durch die Aktionen seien in den vergangenen Tagen über 50 Menschen verletzt worden, darunter Polizisten, Ärzte und Zivilisten. Örtlichen Medien zufolge gibt es in der zentralen Region Cochabamba zehn Blockaden auf Straßen, die den Westen mit dem Osten Boliviens verbinden. Bauern und Viehzüchter schlugen Alarm, dass wegen ausbleibender Futterlieferungen der Tod von über einer Million Hühnern drohe. Die spanische Agentur Efe berichtete über Zusammenstöße zwischen Morales-Anhängern und Bewohnern der Stadt Llallagua im Norden der Andenregion Potosí. Am Mittwoch (Ortszeit) kündigte die Arce-Regierung an, die Blockaden mit Hilfe von Polizei und Militär zu räumen.
Ein Ende des Konflikts ist damit jedoch nicht in Sicht. »Wir sind verärgert, wir sind im Kampfmodus. Diese Regierung hat es nicht verstanden, die Wirtschaft zu führen, und weiß nicht, wie sie uns aus der Krise herausführen soll. Das ganze Volk sollte sich diesem würdigen Kampf anschließen«, sagte einer der Demonstranten gegenüber Efe. Angesichts der explosiven Lage, von der bei den Wahlen die rechte Opposition profitieren könnte, rief das regionale linke Staatenbündnis ALBA-TCP alle Beteiligten in Bolivien zur Mäßigung auf. In einer Erklärung warnte das Bündnis zugleich vor einer Einmischung externer Akteure und betonte, dass das bolivianische Volk mit seiner »historisch antikolonialen, indigenen und volksnahen Haltung« das unveräußerliche Recht habe, seine Zukunft selbst zu gestalten.
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