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Aus: Ausgabe vom 11.06.2025, Seite 1 / Titel
Repression

Die üblichen Verdächtigen

Inlandsgeheimdienst sieht sich von »Extremisten« aus dem In- und Ausland umzingelt; junge Welt erneut im Verfassungsschutz­bericht
Von Nick Brauns
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Geheimdienstvize Sinan Selen und Innenminister Alexander Dobrindt präsentieren ihren Spitzelreport in Berlin

Immer mehr Menschen werden in Deutschland vom Inlandsgeheimdienst mit dem in der Konsequenz durchaus existenzgefährdenden Stigma »Extremist« versehen. Das zeigte sich am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes für das Jahr 2024 durch Bundesinnenminister Alexander Dobrindt und den Vizechef des Bundesamts für Verfassungsschutz Sinan Selen. »Die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland ist fast täglich Angriffen ausgesetzt«, behauptete Dobrindt unter Verweis auf eine Zunahme von Angriffen aus dem In- und Ausland. Sich selbst hat der CSU-Minister, der an rechtswidrigen Zurückweisungen von Flüchtlingen an den Grenzen festhalten will, dabei nicht in Blick. Es gehe vielmehr um Spionage, Sabotage, Cyberangriffe und Desinformation durch Russland, China und Iran, aber auch durch den NATO-Partner Türkei sowie um rechts, links oder islamistisch motivierte »Extremisten«. Russland schrecke nicht vor Sabotage durch »Wegwerfagenten« zurück, sagte Dobrindt und verwies auf bislang ungeklärte Brandanschläge auf Frachtflieger.

Die Zahl von »Rechtsextremisten« ist laut Geheimdienst innerhalb eines Jahres um knapp ein Viertel auf über 50.250 Personen angestiegen. Der Anstieg ergibt sich insbesondere aus dem Zuwachs der AfD, in der jedes dritte Mitglied als gesicherter Verfassungsfeind gilt, sowie der erstmaligen Nennung der faschistisch-separatistischen »Freien Sachsen«.

Bei »extremistischen« Linken sieht der Geheimdienst ein leichtes Wachstum um 2,7 Prozent auf 38.000 Personen. Der größte beobachtete Zusammenschluss ist hier die Schutz- und Solidaritätsvereinigung Rote Hilfe mit inzwischen 14.400 Mitgliedern. Als Beleg für deren Extremismus wird etwa eine Gala zum 100. Jubiläum ihrer von Kommunisten 1924 gegründeten Vorläuferin angeführt.

Besonders perfide aus Sicht des Verfassungsschutzes: »Im Alltag ist linksextremistisches Handeln oftmals nicht sofort erkennbar.« So suchten Linke über gesellschaftliche Debatten und Proteste, durch Gewerkschaftsarbeit oder Hilfsangebote im Alltag Anschluss an das demokratische Spektrum. Sie bemühten sich etwa beim Klimaschutz um Diskursverschiebung in Richtung Antikapitalismus. Der Nahostkonflikt werde instrumentalisiert, »um das Vertrauen in den demokratischen Staat und seine Institutionen zu untergraben sowie staatliches Handeln als ›rassistisch‹, ›imperialistisch‹ und ›repressiv‹ zu delegitimieren«. Gemeint sind wohl Proteste gegen deutsche Waffenlieferungen an Israel sowie der Verweis auf Polizeigewalt gegen propalästinensische Demonstrationen. Erstmals genannt wird die Vereinigung »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« als »gesichert extremistisch«.

Im Blick hat der Verfassungsschutz inzwischen selbst linke Podcasts wie »99 zu eins« und die »Kommunisten-Kneipe«. Die junge Welt wird erneut als das »bedeutendste und auflagenstärkste Medium im Linksextremismus« genannt. Damit zielt die Bundesregierung nach eigenem Bekunden darauf, der Zeitung den »Nährboden zu entziehen«. Eine Folge: Der RBB stoppte 2022 einen vereinbarten Spot der jungen Welt mitten in einer laufenden Werbekampagne unter Verweis auf die Klage der Zeitung gegen den Geheimdienst und richtete damit erheblichen ökonomischen Schaden an. In dieser Sache entscheidet das Berliner Amtsgericht am Freitag nächster Woche.

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