Bahnhof zur Hölle
Von Hartmut Sommerschuh
Heiligabend 1956. Der Weihnachtsmann wartete schon, als ich mit den Eltern in die Stube der Großeltern trat. Kniehohe Fellstiefel, dicke Felljacke und Fellmütze, eine Maske mit Zotteln. Auf dem alten Foto sieht er noch heute zum Fürchten aus. Nicht wie sonst, mit rotem Mantel und weißem Bart.
Ich war fünfeinhalb, stammelte an Mutters Hand den Spruch mit der Rute und fragte neugierig: »Bist du Opa? Woher hast du die Stiefel und die große Mütze?« Großvater schwieg überrascht, fühlte sich enttarnt. Ich hatte ihm den Spaß verdorben. Etwas verärgert reagierte er aber, als auch mein Vater staunte: »Mitgebracht aus dem Felde. Hat mir eine nette Russenfrau geschenkt, beim Teetrinken. Schön warm.«
Das Übliche. Waschen in Unschuld. Dabei blieb es auch, wenn ich später in der Bodenkammer die Fellsachen hängen sah und noch mal fragte. Sechs Jahre war Großvater im Krieg, auf der zugefrorenen Ostsee, in Belgien, in Russland, als Monteur auf Feldflugplätzen. Mehr erfuhren wir nie. Auch nicht, wie er überlebt hatte. Das deutsche Schweigen.
KindheitsbilderDann enthüllten Vater und Großvater in der Weihnachtsstube für mich eine Platte auf Böcken. Zwei Gleise mit Weichen, ein Berg, eine Lokomotive, einige Personen- und Güterwagen, ein kleiner Bahnhof. Blitzpulver zischte für ein Foto. Großmutter löschte das Stubenlicht. Ich schaute entzückt auf die kleinen Lampen, durfte am Trafo drehen. Bei jeder Vorbeifahrt ließen die hellen Fenster der Personenwagen eine Schrift am Bahnhof aufleuchten. Ich konnte sie noch nicht lesen. »Jacobsthal!« sagte die Mutter.
Ach ja, da fuhren wir manchmal hin. Bis Döbeln, umsteigen nach Riesa, dann Richtung Falkenberg, bald kam Jacobsthal. Drei Geschwister, zwei Frauen und ihr Bruder, ein Bauernhof. Freunde der Großeltern. Da gab es Kuchen, drei Kühe und zwei Pferde. Mit denen pflügten sie weit draußen ihr Feld und holten uns auf einem Hänger vom einsamen Bahnhof ab. Jacobsthal, ein 300-Seelen-Dorf mit Bauernhöfen, Teich, Kirche und einer selten ausführlichen Chronik bei Wikipedia. Der Bahnhof entstand schon, als 1847 eine Strecke von Röderau bei Riesa über Falkenberg bis Jüterbog und weiter nach Berlin gebaut wurde. Da konnten sich Betriebe und Militäreinrichtungen ansiedeln.
Manchmal durfte ich vorn die Zügel halten. Die baumlose Straße, die damals noch durch kleine Einzelbauernfelder ging, war schön lang. Zwei Kilometer. Noch heute steht der Bahnhof wie ein Würfel weit außerhalb einsam an der Strecke. Wenn alle auf dem Hänger saßen, hieß es: »Leise, dahinten sind die Russen!« Onkel Kurt, der Bauer, meinte die sowjetische Garnison auf dem alten Truppenübungsplatz. Ich verstand das alles noch nicht. Bei Kaffee und Kuchen in der kleinen Stube wurde weiter geflüstert: »Pilze sammeln gehen wir am anderen Dorfende. Der Wald beim Bahnhof ist Sperrgebiet. Und vorn sind die Russengräber.«
Was war das mit den »Russen«? Zu Hause in meiner kleinen Heimatstadt Leisnig gab es viele in den einstigen Wehrmachtskasernen. Wir Kinder eilten gern zum Bahnhof, wenn Soldaten die Kohle ausluden. Manchmal zogen sie ein Bonbon aus der Hosentasche. Ihre verschwitzten Gesichter schauten freundlich. Sie setzten uns auf die Motorhaube, wenn der Vorgesetzte abseits rauchte, weil er keine der kurzen Zigaretten abgeben wollte. Einfache Soldaten hatten zu schaufeln. Wir Kinder spürten ihre Armut, kamen aber wegen ihrer Herzlichkeit. Die Erwachsenen fragten abends: Wart ihr schon wieder beim Iwan? Egal, woher die jungen Männer kamen und wie sie aussahen. Alle waren »Russen«. Russen waren »schrecklich«, hießen deshalb »Iwan«. Die Nazibilder sickerten auch durch die DDR ins Heute.
Später hatte ich ein sowjetisches Kofferradio »Alpinist« und zwei Uhren. Sonntags klingelten die Offiziere an den deutschen Wohnungen, um etwas zu verkaufen. Sie durften mit ihren Frauen und Kindern raus. Einfache Soldaten nicht. Die erlebten wir wieder sehr warmherzig, als später unsere Russischlehrerin mit der Klasse zu einer Theateraufführung in die »Garnison« geladen wurde. Nun mit einem roten Stern über dem Wachposten. Die abgetragenen Uniformen der sowjetischen Soldaten rochen nach Petroleum. Aber sie lachten mit. Endlich mal, im rüden Kasernenalltag. Es waren ihre Kameraden, die auf der Bühne als Laien etwas aus Gogols »Nase« spielten, in Stiefeln tanzten, selbst gedichtete Verse zur Harmonika sangen.
Die Beerdigung
Das Blitzlichtfoto mit der Modelleisenbahn blieb lange mein Lieblingsbild. Dann starb 2007 in Jacobsthal die letzte der beiden Schwestern. Ich war viele Jahre nicht dort gewesen, kam von Berlin mit dem Auto. Auf der Strecke Falkenberg–Röderau–Riesa fuhr kein Zug mehr. Nach der Trauerfeier gab es wie früher in der Stube noch einmal Kaffee und Kuchen. Die Erben hatten eingeladen. Ein paar greise Nachbarn waren gekommen und alte Bekannte aus der einstigen LPG. Belanglose Gespräche wie häufig nach Beerdigungen. Mir fiel der Bahnhof ein, ich erzählte vom Abholen in der Kindheit, fragte, ob er noch steht.
»Die Russen sind schon lange weg«, sagte jemand, »seit 1994. Da verluden sie ihre Panzer. Haben uns nichts getan, manchmal bei der Ernte geholfen. Wir hatten wenig Kontakt. Einer hat mal mit dem Bajonett auf den Bahnwärter eingestochen. Vor Wut. Seitdem ist der Dienstraum vom Bahnhof vergittert.«
Eine alte Frau unterbrach: »Vielleicht war jemand aus seiner Familie im Lager? Wir hatten in meiner Schulzeit, es muss einundvierzig gewesen sein, mal kurz Gefangene in der Scheune. Sie wollten sich aufwärmen, arme Schweine. Hausten unter freiem Himmel. Da standen am Bahnhof die Baracken noch nicht. Mutter gab heimlich ein paar Kartoffeln, wenn die Aufpasser wegschauten. Manche von uns Kindern sind zu den Gruben gelaufen, die Toten anschauen. Naja, Schwamm drüber.«
Das kurze Gespräch endete abrupt, als jemand noch Kaffee wollte.
Die Soldatenlandschaft
Auf der Rückfahrt bereute ich, nicht am Bahnhof vorbeigefahren zu sein. Was war das mit dem »Lager«? Natürlich kannten wir als Sachsen die Geschichte vom »Lustlager bei Zeithain« von 1730. Eine grandiose Truppenschau der sächsischen Armee unter August dem Starken nach dem Nordischen Krieg. Mit 28.000 Soldaten und vielen eingeladenen europäischen Fürsten. Ein Jahrhundertereignis, das nach Wochen als spektakuläres Barockfest endete. In einem stundenlangen Feuerwerk und dem Jubel über einen meterlangen Riesenstollen aus Dresden. Bis heute wird es mit Uniformen und Böllerschüssen nachgefeiert. Aber sonst?
Wer wusste schon, dass die flache Landschaft zwischen Dresden und Berlin dann überhaupt Militärgebiet wurde? Hier entstand 1874 der erste sächsische Truppenübungsplatz. Als man ihn 1875 erweiterte, so ist heute nachzulesen, mussten die Jacobsthaler Bauern Felder hergeben.
Von einer »Gedenkstätte Zeithain«, die mittendrin liegt, hatten wir zwar gelegentlich in der DDR-Presse gelesen. Wenn dort, wie vielerorts, allgemein den »Opfern des Faschismus« gedacht wurde. Dass es da seit 1949 ein Mahnmal und seit 1985 eine Ausstellung zum Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener gab, unter dem Pauschalthema »antifaschistischer Widerstandskampf«, wusste kaum jemand. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in Jacobsthal vor der »Wende« war davon nicht die Rede.
Natürlich gehörte es zum DDR-Schulbuchwissen, dass schon der Überfall auf Polen »mit aller Härte« der Beginn eines Vernichtungskrieges war. Vollendet im »Plan Barbarossa« gegen die Sowjetunion, gegen das »bolschewistische Untermenschentum«, für neuen Lebensraum im Osten. Die 1981 im Berliner Verlag der Nationen erschienene »Deutsche Chronik 1939–1945« von Heinz Bergschicker war mit ihren 1.400 Fotos, 500 Dokumenten und 100 Chroniken eine der umfangreichsten und erschütterndsten DDR Dokumentationen zum Zweiten Weltkrieg und den deutschen Verbrechen. Sie listete auf, was unsere Großväter in der Sowjetunion zerstört hatten: 1.710 Städte, 70.000 Dörfer, 31.850 Industriebetriebe, 7.632 Krankenhäuser, 82.000 Schulen, 2.766 Kirchen, 4.100 Bahnhöfe. Dazu 27 Millionen Tote.
Doch als ich 2007, zurück von der Trauerfeier, im Verzeichnis dieser Chronik nach Gefangenenlagern für sowjetische Kriegsgefangene suchte, wie Zeithain oder Mühlberg, fand ich nichts. Keine Fotos, keine Karten, nur einige winzige Dokumente im Kapitel »Die Kriegsführung«. Zum Beispiel aus einer Vernehmung des 2. Rapportführers Gustav Sorge nach der Befreiung des KZ Sachsenhausen. Frage des Staatsanwaltes: »Haben Sie gefragt, ob sie die sowjetischen Kriegsgefangenen in Listen eintragen sollen?« Antwort von Sorge: »Diese Frage wurde verneint, und es wurde Anweisung gegeben, diese Leute zu vernichten.« Staatsanwalt: Wieviel Mann waren das? Sorge: »Etwa 6.000 beim ersten Transport.«
Und noch ein zweites kleines Dokument ließ wenigstens ahnen, was erst nach der »Wende« aufgearbeitet wurde: Wiedergegeben war der Ausschnitt einer Besprechung mit dem Generalstabschef des Oberkommandos des Heeres, Franz Halder, vom 13. November 1941 im besetzten belarussischen Orscha zur Frage der Ernährung von Kriegsgefangenen: »Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern.«
Ich begann, mehr über die Gedenkstätte »Ehrenhain Zeithain« zu lesen, über den Förderverein, der sich nach der »Wende« gegründet hatte, über die alte, dann überarbeitete Ausstellung, über die schon 2002 auf dem Gelände eingerichtete Arbeitsstelle der »Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft«, über die 2003 neu eröffnete Dauerausstellung. Und natürlich über die Geschichte des »Lagers« und die entsetzlichen Opferzahlen.
Bereits vor dem Überfall auf die Sowjetunion hatte das Oberkommando der Wehrmacht beschlossen, etwa 60 Lager für sowjetische Kriegsgefangene einzurichten. Die meisten in den besetzten Gebieten. Vierzehn davon in Deutschland. Für jeweils 30.000 Gefangene. Auf dem Truppenübungsplatz bei Jacobsthal, so las ich, abgeschottet als militärisches Sperrgebiet, entstand eines der schrecklichsten. Als zentrales Aufnahme- und Verteilungslager. Der einsame, abgeschirmte Bahnhof war ideal dafür geeignet. Und doch war Zeithain nur eines von sieben Lagern im Wehrkreis IV der Provinz Sachsen. Es nannte sich »Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager Stalag 304 (IV H) Zeithain«. Ab September 1942 wurde es ein Zweiglager des Stalag IV B im benachbarten Mühlberg. Ab Februar 1943 ein Kriegsgefangenen-Reservelazarett, in Wahrheit ein Sterbelager. Heute ist Zeithain die größte Kriegsgräberstätte auf deutschem Boden. Zwischen 25.000 und 30.000 Menschen kamen dort ums Leben.
Das »Russenlager«
Im April 1941 begannen auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Zeithain bei Jacobsthal die Vorbereitungen zum Lagerbau. Ab Juli 1941 errichteten 2.000 französische und jugoslawische Gefangene zunächst zwölf Baracken für Wachmannschaften und ein Wirtschaftsgebäude. Da kamen aber schon die ersten 2.000 sowjetischen Kriegsgefangenen an. Tausende folgten. Sie alle hatten die erste Hölle hinter sich: vom Ort der Gefangennahme zur Gefangenensammelstelle, dann zum Divisionsdurchgangslager (Dulag) im rückwärtigen Heeresgebiet, von da ins Kriegsgefangenenlager (Stalag) in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und Polens. Endlose Fußmärsche bis zu 500 Kilometer, Unterernährung, Krankheit, alles unter freiem Himmel. Am Ende wochenlange Eisenbahnfahrten ins Reichsgebiet. Wie nach Zeithain oder Mühlberg. Ankunft über Falkenberg am Bahnhof Jacobsthal. Sie fuhren wie die Juden in Viehwaggons, in Lumpen, halb verhungert und verdurstet, fielen entlang einer langen Rampe aus den endlich geöffneten Türen.
Als ich das zum ersten Mal las, konnte ich es doch nicht fassen. An diesem kleinen Bahnhof? An dem auf meiner Modelleisenbahn? Zehntausende!
Sie campierten bis in den kalten Herbst hinein unter freiem Himmel. Denn noch immer standen keine Baracken. Sie mussten sie selbst bauen. Noch vor dem eiskalten Winter war auf der Suche nach etwas Essbarem jeder Grashalm ausgerissen. Nur noch Schlamm. Warum wurde darüber nie von den Alten in Jacobsthal erzählt? Bis zur »Wende«? Was hatte die greise Frau 2007 beim Kaffee nach der Trauerfeier gemeint mit der Scheune? Was hieß, das Lager sei gleich am Bahnhof gewesen?
Wegen dieser Hölle und grassierender Ruhr- und Fleckfieberepidemie starb im Winter 1941/42 in diesem »Russenlager« die Mehrheit der Gefangenen. Auf der Website der Gedenkstätte »Ehrenhain Zeithain« ist zu lesen: »Man hatte die inneren Tore einfach geschlossen, die jungen Männer sich selbst überlassen. Lebten vor der Quarantäne noch 10.677 Gefangene im Lager, waren es nach ihrem Ende im April 1942 nur noch 3.729. Neuzugänge hatte es in dieser Zeit nicht gegeben.« War das alles nicht zu sehen aus den Dörfern ringsum?
Im Sommer 1942 kamen nochmals Tausende gefangene Rotarmisten nach Zeithain. Im September wurden etwa 10.000 sowjetische Kriegsgefangene nach Loewen (Leuven) in Belgien verlegt, wo sie bis zur Befreiung durch die Alliierten 1944 in der belgischen und nordfranzösischen Steinkohlenindustrie schuften mussten.
Erschütternde Fotos
Im Herbst 2015 hatte ich zum ersten Mal Kontakt zur Gedenkstätte Zeithain. Ich bat eine Mitarbeiterin um einige Fotos aus dem »Russenlager«. Sie schickte eine Handvoll. Leichenberge auf Waldwegen, auf Lkw-Hängern oder wild hingeworfen. Elende Gestalten schaufelten bei Frost mühevoll Massengräber. Die noch Lebenden schichteten die nackten Toten. Keiner hatte wie Großvater an dem Weihnachtsabend meiner Kindheit warme russische Fellstiefel an, eine Felljacke, eine große Fellmütze. Zerrissene Reste von Sommeruniformen hingen an dürren Körpern.
Die Fotos waren kaum bekannt. Als Redakteur einer Fernsehredaktion im RBB recherchierte ich für eine Sendung über »Das Fremde«, über die Frage, wie Hass entsteht. Gegen Ausländer, zwischen Menschen wie Völkern. Monate zuvor hatte Mechthild Klingenburg-Vogel, eine Fachärztin für Psychoanalytik aus Kiel mit dreißig Jahren Berufserfahrung, an der Freien Universität Berlin einen Vortrag gehalten. Auch als engagiertes Mitglied des Vereins »Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW). Der Titel ihres Vortrages hieß: »Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?«
Ich hatte mir wichtige Thesen und Fragen notiert: Feindbilder gründen sich auf der Dehumanisierung des Anderen. Wir schweigen über das Gewesene und leugnen die eigene Mitschuld. Warum?
In einem Interview zu ihrem Vortrag beschrieb sie das staatliche Schweigen, das schon lange vor dem Ukraine-Krieg herrschte: »In der Bundesrepublik fordert das kollektive Schuldtrauma Auschwitz ein unbedingtes ›Nie wieder!‹. Dieses wurde 1999 missbräuchlich instrumentalisiert, um im Kosovokrieg die Bereitschaft für eine erstmalige deutsche Beteiligung an einem Kriegseinsatz der NATO, noch dazu ohne UN-Mandat, zu rechtfertigen. Angesichts der erst spät diskutierten Verbrechen der Wehrmacht im Osten fällt auf, dass es zu keiner vergleichbaren Anerkennung von Schuld gegenüber der Sowjetunion kam. 17 Millionen Zivilisten und die Hälfte der 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen starben an Hunger und Kälte, was beabsichtigt war.«
Seit meinem ersten Kontakt mit der Gedenkstätte Zeithain 2015 bekam ich immer wieder Einladungen zu jährlichen Gedenkveranstaltungen. Diesmal zum 80. Jahrestag der Befreiung am 23. April 1945. Doch ich war krank, konnte nicht, fand im Netz ein Video mit den üblichen Gedenkreden, beschloss aber, bald zu fahren. Noch vor der Reise fand ich im Internet ein Alliiertenluftbild vom April 1945. Das »Russenlager« Jacobsthal von oben. Ich legte es mit Photoshop, um 20 Grad gekippt, auf eine Karte von Google Maps, bis alle Straßenanschlüsse passten. Zwischen Strehla und Zeithain im Süden, Mühlberg im Nordosten und Gröditz im Nordwesten – Jacobsthal.
Das große Barackengelände auf dem Schwarzweißbild stieß tatsächlich unmittelbar an den kleinen einsamen Bahnhof. Die Zugangsstraße bildete den oberen Rand des Lagers, dahinter kamen sofort jene Handtuchfelder, durch die wir bei unseren Besuchen in den 50er Jahren vom Bahnhof ins Dorf fuhren. Kein Baum, kein Strauch. Es war also freie Sicht auf das Lager!
Natürlich erklärte ich mir das Schweigen in Jacobsthal auch damit, dass bis zum Abzug der Roten Armee 1994 alles Sperrgebiet, das einstige Lager Übungsgelände für Panzer war. Vor allem aber, weil unter Stalin die eigenen Soldaten nach einer Gefangenschaft in deutschen Lagern als Verräter galten. Sie hätten kämpfend sterben sollen, nicht sich ergeben. Die Überlebenden wurden verfolgt, überprüft, bis nach Sibirien mit neuer Lagerhaft bestraft. Die DDR übernahm lange das Schweigen darüber. So war die Zeit nach 1945 überdeckt. Doch vorher, gleich nach der Befreiung, als noch alles zugänglich und sichtbar war? Blieb von diesen deutschen Verbrechen gegen alle Konventionen nichts in den Köpfen?
Mein Besuch
Endlich meldete ich mich im »Ehrenhain Zeithain« persönlich an. Große Windräder unmittelbar neben dem Gelände warfen gleichgültige Schatten. Rollt wieder Zeit über alles hinweg? Ein feierlicher Torbogen aus Granit, eine Allee, an ihrem Ende ein Obelisk. Es ist das sowjetische Mahnmal von 1949 und einer der Friedhöfe. Er entstand hier neben einem Seuchenlazarett und war bis 1994 der einzige, der nicht im Sperrgebiet lag. Vom Lager am Bahnhof Jacobsthal bis hierher waren es für die Kranken über sechs Kilometer. Die Gräber links und rechts wurden später eingeebnet, sind nur noch Wiese. Sie trägt aber neue rostrote Tafeln mit vielen Namen, die im Militärarchiv Podolsk, südlich von Moskau, aufbewahrt werden.
Ich hatte mich verabredet mit Nora Manukjan, Referentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte. Sie erzählte von den Forschungen, die schon im Sommer 1946 begannen. Als eine Expertenkommission unter dem sowjetischen Generalmajor Chorun mit deutschen und sowjetischen Gerichtsmedizinern stichprobenhaft die Massengräber öffnete, ehemalige Angehörige der Wachmannschaften verhörte, Berichte der Reichsbahn über die am Bahnhof Jacobsthal angekommenen Transporte untersuchte.
Wir sprachen auch über das Schweigen und Verschweigen. Sie verwies auf die Gefangenen anderer Nationen, auf Polen nach dem Warschauer Aufstand, Serben, Franzosen, von denen früher kaum die Rede war. Auch die Italiener wurden hier so unmenschlich behandelt wie die sowjetischen Gefangenen. Über 900 von ihnen verstarben ebenfalls.
Nora Manukjan erinnerte auch an den Weg der Wehrmacht nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Wie Stalin Hitlers Pläne unterschätzt hatte und deshalb gleich am Anfang die Zahl der Gefangenen so hoch war. Junge Burschen aus der Ukraine, aus Belorussland, die völlig unvorbereitet, schlecht ausgerüstet, fast wehrlos vom deutschen Einmarsch überrascht wurden. Wir sprachen über ein Buch, in dem sich das spiegelt. Der Christoph-Links-Verlag aus Berlin veröffentlichte es 2007. Sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der Verein Kontakte e. V. bei einer Spendenaktion ehemalige sowjetische Kriegsgefangene angeschrieben und sie gebeten, ihre Erinnerungen aus der Gefangenschaft zu schildern. Über tausend Briefe kamen als Antwort. Sechzig davon wurden im Buch veröffentlicht. Sie erzählen von der unfassbaren Brutalität auf den Transporten und in den Lagern, von der nochmaligen Verschleppung in Gulags nach ihrer Befreiung, aber auch von den »guten Deutschen«, den wenigen, die es selbst unter den Wachmannschaften gab: »Die uns gestatteten, ein paar Kartoffeln oder Rüben vom Feld aufzulesen.«
Die Initiatoren von Kontakte e. V., Hilde Schramm und Eberhard Radzuweit, fassten im Nachwort die Stimmung vieler Briefe zusammen. Den immer wieder vorgetragenen Wunsch nach Frieden und Verständigung. Zwar seien viele Briefe voller Bitterkeit und Schmerz, aber sie hätten keinen gefunden, der voller Hass auf alle Deutschen war.
Das Schweigen am Bahnhof
In der Baracke des Ehrenhains gibt es einen stillen Raum, ringsum in Glasvitrinen Dokumente, Fundstücke, Kopien von Personenkarten Gefangener.
Auf einem Monitor abrufbar Zeitzeugeninterviews, Filme. Schon Ende August 1941 besuchte Goebbels das Lager Zeithain. Die Kamera erfasste seltene Momente in seinem Gesicht. Er schaut die Gefangenen, die man ihm vorführt – einen Jungen, der in einem leeren Blechnapf kratzt, einen elend aussehenden Bärtigen, der aber mit ihm spricht – fast scheu an. Verwundert darüber, so der Kommentar, »dass es noch so viel menschlich aussehende Russen gibt«.
Ich nutzte die Gelegenheit und besuchte rasch das Grab der beiden Schwestern auf dem Jacobsthaler Friedhof. Jemand schien es noch zu pflegen, frische Blumen leuchteten. Ich war berührt und fuhr zum Bahnhof. Zum ersten Mal seit meiner Kindheit und mit dem Wissen um das einstige Lager. Da stand er, der gelbe Würfel. Etwas zugewachsen. Hinten am Rest des einst langen Bahnsteigs saß eine Frau in der Sonne. Vor neuen, glänzenden Schienen. Der Bahnhof sei verkauft, der alte noch immer vergitterte Schaltraum aber angemietet. Für diese Ersatzstrecke nach Berlin. Von hier aus bediene sie noch die Schranken dort an der Straße.
Ich schaute hinüber. Wie auf dem alten Luftbild gabelt sich gleich nach dem Bahnübergang noch immer die Straße. Richtung Jacobsthal und zum einstigen Lagereingang. Doch bis auf ein kleines Gestell mit einem Foto und verwelkten Blumen, offenbar privat, fand ich nichts. Keine Gedenktafel am Bahnhof, keine am Weg, keine am ehemaligen »Russenlager«. Es ist umzäunt, wächst langsam zu. Zwischen Büschen leuchten junge Birken. Nur der Weg zum Friedhof II mittendrin, einst »Russenfriedhof« genannt, ist markiert. Auch auf ihm stehen heute rostrote Tafeln mit vielen Namen. Hier liegen die meisten Toten. Wenigstens hier gibt es auch Texte zur Geschichte. Dann sah ich doch noch einige Schilder, die außen um das Gelände stehen: »Naturschutzgebiet Gohrischheide und Elbniederterrasse Zeithain. Betreten verboten. Ehemaliges militärisches Gelände. Lebensgefahr.« Auch so lässt sich Vergangenheit löschen. Die Gedenkstätte hat hier keinen Einfluss. Seit Jahren bemüht sie sich um einen Lehrpfad. Bislang vergeblich.
Hartmut Sommerschuh schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. April 2025 gemeinsam mit Iris Berndt über die Jubiläumsausstellung zu Caspar David Friedrich in der Sankt Petersburger Eremitage: »Russlands Hilfe«.
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Leserbrief von Werner W. (13. Juni 2025 um 10:22 Uhr)Sehr geehrter Hartmut Sommerschuh, vielen Dank für diesen sehr berührenden und nachdenklich machenden Beitrag. Verschweigen und Verleugnen gehört zur deutschen DNA. In der Nähe von Leipzig liegt die ehemalige Industriegemeinde Espenhain. Dort unterhielt die ASW über die gesamte Zeit des Zweiten Weltkrieges ein Lager für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene usw. Die Opferzahlen sind zwar nicht vergleichbar mit Zeithain, aber auch hier erinnert bisher nichts an die Verbrechen der Nazis. Vor einer noch aktiven Produktionsstätte steht lediglich ein Gedenkstein, der an die großen technischen Leistungen erinnert. Die Opfer waren hier nicht nur sowjetische Kriegsgefangene. Pfingsten 1944 starben bei einem Luftangriff der Amerikaner 128 französische Kriegsgefangene. Für sie gab es keinerlei Schutzräume im Lager. Für solche Ereignisse gibt es übrigens auch in Frankreich keine wirkliche Erinnerungskultur. Bemühungen, offizielle französische Stellen für das Thema zu interessieren, liefen ins Leere. Viele Grüße WeWi
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