Über den Betriebsrand hinaus
Von Werner Fritz Winkler
Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) und die unter seinem Dach vereinten 16 Einzelgewerkschaften waren die mit Abstand größte und vermögendste Massenorganisation der DDR. 1989 zählte er noch 8,9 Millionen Mitglieder, der Organisationsgrad lag bei rund 97 Prozent. Sein Vermögen wurde auf dem Sonderkongress im Januar 1990 mit 4,2 Milliarden DDR-Mark beziffert. Seine über 1.000 Liegenschaften entsprachen etwa der Fläche des Stadtbezirkes Berlin-Mitte. Der FDGB ist Teil der Lebensleistung der ostdeutschen Generationen vor der »Wende«.
Bereits drei Wochen vor Ende des Zweiten Weltkrieges, am 18. März 1945, fand die Gründung eines »FDGB Aachen« statt. Dieses Datum ist jedoch zu vernachlässigen, denn von den westlichen Alliierten wurden in ihrer Einflusssphäre bis zum Herbst 1949 nur Einzelgewerkschaften erlaubt, der »FDGB Aachen« blieb eine lokale Organisation. Die Gründung des westdeutschen Dachverbandes Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) fand daher auch erst am 12. Oktober 1949 in München statt.
Anders in der sowjetischen Besatzungszone: Dort ebnete bereits am 10. Juni 1945 der Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration den Weg zu einem vereinten Gewerkschaftsbund. Am 15. Juni 1945 unterschrieben acht Gewerkschaften, die vor 1933 verschiedenen politischen Richtungen angehört hatten, den Aufruf des vorbereitenden Gewerkschaftsausschusses für Groß-Berlin, neue freie Gewerkschaften zu bilden. Als historische Lehre aus der deutschen Geschichte riefen sie dazu auf, eine Einheitsgewerkschaft zu bilden und das Organisationsprinzip »Ein Betrieb – eine Gewerkschaft« durchzusetzen.
Dieser Prozess wurde mit dem 1. FDGB-Kongress, der vom 9. bis 11. Februar 1946 stattfand, abgeschlossen. Gemäß der Leninschen Theorie wurde der FDGB nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert und zu einem Transmissionsriemen der SED entwickelt. Seine langjährigen Vorsitzenden Herbert Warnke (1948–1975) und Harry Tisch (1975–1989) waren gleichzeitig auch Mitglieder des Politbüros der SED. Die konsequente Einbindung in diese Führungsstrukturen setzte sich über die Bezirke bis in die Parteileitungen der Betriebe und Einrichtungen fort. Im ZK der SED gab es eine Abteilung »Gewerkschaften und Sozialpolitik«, die Arbeitsschwerpunkte setzte. Die Sekretäre für Wirtschaft des ZK sowie der Bezirks- und Kreisleitungen der SED waren Mitglieder des Bundes- sowie der Bezirks- und Kreisvorstände des FDGB. Alle wichtigen Kaderentscheidungen wurden durch SED-Gremien vorab bestätigt.
Der FDGB hatte im politischen System der DDR eine stützende Rolle. Er bekannte sich zum Marxismus-Leninismus als der weltanschaulichen Grundlage der Gewerkschaftsarbeit und zur führenden Rolle der SED. Nach westlichem Demokratieverständnis war er zentralistisch und undemokratisch organisiert, kein Bund freier und selbstständiger Einzelgewerkschaften. In der DDR-Verfassung von 1949 war das Streikrecht der Gewerkschaften im Artikel 14 (2) noch niedergeschrieben. In den Fassungen von 1968 und 1974 fehlte dieses Grundrecht. Auch bei den tariflichen Schwerpunkten, bei Lohn, Arbeitszeit und Urlaub gab die SED-Führung die Entwicklung vor. Die Tarifhoheit besaßen weder der FDGB noch die Einzelgewerkschaften.
Apparat und Ehrenamt
Nach der vor 35 Jahren erfolgten Abwicklung des FDGB ist aber eine differenziertere Betrachtung überfällig. Keine andere Organisation war so eng mit dem Leben der Menschen im Osten verbunden. Eine Reduzierung der gewerkschaftlichen Arbeit auf die von der SED vorgegebenen ideologischen Schwerpunkte »Sozialistischer Wettbewerb« und »Schulen der sozialistischen Arbeit« geht ebenso an der historischen Realität vorbei wie eine nur anhand der kilometerlangen Bestände von archivierten offiziellen Gewerkschaftsberichten vorgenommene Analyse. Ein differenzierteres und vielseitigeres Bild zeigt dagegen zum Beispiel ein Blick in Brigadetagebücher.
In der Regel war ein Arbeitskollektiv identisch mit einer Gewerkschaftsgruppe. Rund 1,6 Millionen Vertrauensleute und weitere Ehrenamtliche gab es in den Gewerkschaftsgruppen. Sie wurden auf Mitgliederversammlungen in offener Abstimmung gewählt. Die Wahl der rund 570.000 Gewerkschafter, die in den Abteilungs- und Betriebsgewerkschafts- sowie Schulgewerkschaftsleitungen tätig waren, erfolgte nach der Satzung in direkter und geheimer Wahl. Nach dem gleichen Verfahren wurden auf Delegiertenkonferenzen die Vorstände und Delegierten für die nächsthöhere Organisationsebene gewählt. Insgesamt waren rund 2,4 Millionen der Mitglieder ehrenamtlich für »ihre« Gewerkschaft tätig. Sie waren mehrheitlich keine SED-Mitglieder.
Vor allem die Ehrenamtlichen waren es, die die oft mühevolle Kleinarbeit vor Ort leisteten. Sie stellten sich der Aufgabe, die man aus heutiger Sicht auch als »Reparaturbeauftragte« und »Schlichter« im Arbeits- und Freizeitalltag der DDR-Bürger bezeichnen kann. Es ging um Erklärungsversuche und Kompromisse im Dauerkonflikt zwischen den verkündeten politischen Zielen und den davon zum Teil weit entfernten Realitäten des Alltags. Diese Aufgabe hatte eine Bandbreite, die von der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Betrieben, einschließlich des Angebotes in den Betriebskantinen, bis zu den Lebensbedingungen in den Kommunen, vor allem der Wohnsituation, reichte. Aufgrund der sehr hohen arbeitsrechtlichen Standards in der DDR wurde die kostenlose Rechtshilfe bei arbeitsrechtlichen Verfahren dagegen wenig genutzt. Pro Jahr wurde diese Leistung nur etwa 2.800mal in Anspruch genommen. Jährlich schrieben die Bürger allerdings etwa eine Dreiviertelmillion Eingaben, ein Großteil davon wurde an den FDGB zur Bearbeitung weitergereicht.
Der hauptamtliche Apparat des FDGB umfasste rund 16.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Beschäftigten im Feriendienst, den Arbeitsschutzinspektionen und bei der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten (SV) kamen noch hinzu. Insgesamt waren es etwa 40.000, die unter dem Dach des FDGB arbeiteten. Seit 1951 befand sich die SV in der Trägerschaft des FDGB. Damit waren die Gewerkschaften für die Geld- und Sachleistungen von mehr als 85 Prozent der DDR-Bürger von der Wiege bis zur Bahre verantwortlich. Jährlich wurden über die gewerkschaftlichen Kurkommissionen circa 330.000 Kuren im In- und Ausland vergeben. Eine Mitgliedschaft im FDGB war dafür keine Voraussetzung. Im Jahr 1989 tätigte die Sozialversicherung Ausgaben in Höhe von 32,4 Milliarden Mark, die Hälfte davon stellte der DDR-Staatshaushalt bereit.
Anfang 1958 wurde dem FDGB die Kontrolle über den Arbeitsschutz übertragen. Bei den 15 Bezirksvorständen des FDGB wurden Arbeitsschutzinspektionen geschaffen, die mit circa 1.000 hauptamtlichen Inspekteuren besetzt waren. Ihre umfangreichen Rechte waren im Arbeitsgesetzbuch der DDR festgeschrieben. Sie waren jederzeit berechtigt, die Betriebe und Einrichtungen zu betreten, Unterlagen einzusehen und Ermittlungen über Ursachen von Gefährdungen für Leben und Gesundheit, von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Krankheiten durchzuführen. Wurden sie dabei behindert, konnten sie Ordnungsstrafen bis zu 1.000 Mark veranlassen. Sie durften den Betriebsleitern Auflagen erteilen und wenn erforderlich, sie mit der Stilllegung von Betriebsanlagen beauftragen.
Für die fachliche Aus- und Weiterbildung stand in Jena-Lobeda eine Spezialschule für Arbeitsschutz zur Verfügung, die jährlich von etwa 2.000 Personen besucht wurde. Dafür und für die Aufklärungsarbeit zur Förderung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes wurden vom FDGB jährlich 20 Millionen Mark bereitgestellt. In den Betrieben gab es ehrenamtliche Arbeitsschutzkommissionen und die Gewerkschaftsgruppen wählten ihre eigenen Arbeitsschutzobleute. Insgesamt waren in der Industrie, Landwirtschaft und Verwaltung rund 360.000 Gewerkschafter ehrenamtlich für die Einhaltung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes tätig. Mit den wachsenden Problemen der DDR-Wirtschaft in den 1980er Jahren klafften aber auch hier Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinander.
Dem Menschen dienen
Der FDGB war in der DDR mit seinem Feriendienst der wichtigste Anbieter von Urlaubsplätzen. Im Jahr 1989 verfügte er über 694 eigene und 371 vertraglich genutzte Ferienobjekte. Hinzu kamen 76.000 betriebliche Ferieneinrichtungen, die von Campingwagen, Zelten und Bungalows bis zu Ferienhotels reichten. Das entsprach einer jährlichen Gesamtkapazität von 5,1 Millionen Ferienreisen. Deren Vergabe erfolgte über die gewerkschaftlichen Ferienkommissionen der Betriebe. Für diese Reisen mussten lediglich 25 bis 35 Prozent der tatsächlichen Kosten für die Unterbringung und Verpflegung aufgebracht werden. Für Kinder bis zum Abschluss der 10. Klasse kostete ein 13tägiger Aufenthalt einheitlich 30 Mark. Wer die Deutsche Reichsbahn zur Reise zum Urlaubsort und zurück nutzte, der bekam einmal jährlich eine Fahrpreisermäßigung von 33 Prozent. Aus dem Staatshaushalt wurde der Feriendienst des FDGB jährlich etwa mit einer halben Milliarde Mark unterstützt. Die gewerkschaftseigenen Ferienheime zählten rund 18.000 Beschäftigte. Hinzu kamen in den Ferienorten von Rügen bis zum Fichtelberg einige tausend ehrenamtliche Unterstützer.
Ähnliches lässt sich über die Arbeit der 356 gewerkschaftlichen Kulturhäuser und die Auftragsvergabe an Künstler aller Genres ausführen. Die Auftragskunst der DDR wurde fast ausschließlich vom FDGB finanziert. Selbst der Karate- und Peter Maffay-Hit »Über sieben Brücken« hat seinen Ursprung in der Vergabe einer Reportage über den Bau des Kraftwerkes Thierbach an den jungen Leipziger Schriftsteller Helmut Richter. Er schrieb für den gleichnamigen TV-Film das Szenarium und den Text des Titelsongs, der einer der erfolgreichsten deutschen Rockballaden wurde. Viele Fußballfans aus dem Osten werden sich außerdem noch an den FDGB-Pokal erinnern. Er war das Pendant zum DFB-Pokal. Der gesamte Breitensport der DDR war über die Betriebssportgemeinschaften sehr stark an die Gewerkschaften und deren finanzielle Unterstützung gebunden.
Bis zum 30. September 1990 verfügte der FDGB in Bernau bei Berlin über eine Hochschule. Dafür genutzt wurde die am 4. Mai 1930 im dortigen Ortsteil Waldfrieden eröffnete Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB). Sie war nach den Plänen des »roten« Bauhausdirektors Hannes Meyer und unter der Mitarbeit seines Bauhauskollegen Hans Wittwer errichtet worden; 1933 folgten Verbot und Enteignung durch die Nazis. Ab 1947 unterhielt der FDGB dort eine Gewerkschaftsschule mit dem Namen »Theodor Leipert« (von 1921 bis 1933 Vorsitzender des ADGB). Mit der Umwandlung in eine Hochschule wurde ihr am 6. Januar 1952 der Name des Kommunisten und Gewerkschafters Fritz Heckert verliehen. Zunächst wurden ausschließlich Diplomwirtschaftler ausgebildet, ab 1957 wurde der Abschluss Diplomgesellschaftswissenschaftler etabliert. Die Zahl der in- und ausländischen Absolventen betrug rund 15.000.
Der Niedergang
Noch vor dem offiziellen Ende der DDR löste sich der FDGB zum 30. September 1990 auf. Innerhalb von nicht einmal zwölf Monaten hatte sich eine Dynamik entwickelt, die eng mit dem Niedergang der DDR und deren Staatspartei, der SED, verbunden war. Innergewerkschaftlich hatten der für DDR-Verhältnisse luxuriöse Lebensstil des Vorsitzenden Harry Tisch und der Korruptionsskandal um ihn und weitere Spitzenfunktionäre sowie die Millionenspenden an die FDJ für deren Pfingsttreffen im 40. Jahr der DDR ein übriges getan – eine eindeutige Veruntreuung von Mitgliedsbeiträgen, die nicht zu rechtfertigen war. Die Führungsriege des FDGB entfernte sich weiter von den Alltagssorgen ihrer Mitglieder. Grotesk war beispielsweise auch, dass die gewerkschaftliche Anrede »Kollege Tisch« nur für die normalen Gewerkschaftsmitglieder erlaubt war, im Apparat ließ er sich als »Genosse Vorsitzender« anreden. All das hat maßgeblich zum Verschwinden des einst so großen und reichen FDGB von der gesellschaftlichen Bühne geführt. Die Mitglieder hatten den letzten Rest an Vertrauen verloren und stimmten mit den Füßen ab – ausgerechnet in einer Zeit, wo alles, was man als soziale Sicherheiten bezeichnete, durch das Überstülpen des westdeutschen Wirtschafts- und Rechtssystems zerstört wurde.
Hätte es das West-Ost-Gefälle bei Löhnen, Gehältern und Renten auch gegeben, wenn der Osten der Republik im Vereinigungsprozess schlagkräftiger gewerkschaftlich organisiert gewesen wäre? Dem standen jedoch die politischen Bewertungen des FDGB durch die DGB-Führung, die westdeutsche Öffentlichkeit und die DDR-Oppositionsgruppen entgegen. So forderten letztere beispielsweise am Runden Tisch, dass das traditionsreiche Gewerkschaftshaus in Leipzig der Sitz eines Arbeitsamtes werden sollte, da der FDGB zuviel Vertrauen verspielt habe. Der damalige DGB-Vorsitzende Ernst Breit vertrat bereits Anfang 1990 die Auffassung, dass der FDGB von einer »menschenverachtenden Tätigkeit« geprägt sei. Wenige Monate davor, am 15. September 1989, hatte er in Stuttgart mit Harry Tisch noch eine Neunpunktevereinbarung zwischen DGB und FDGB besiegelt. Am 27. April 1990 verkündete Ernst Breit auf einem Empfang des NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau aber unwiderruflich: »Keine Vereinigung mit dem FDGB.« Das enttäuschte die vielen ostdeutschen Gewerkschafter, die ehrlichen Herzens ihre Organisation grundlegend reformieren und sie selbstbewusst unter das Dach des DGB führen wollten.
1990/91 waren noch knapp vier Millionen der ostdeutschen Arbeiterinnen und Arbeiter Gewerkschaftsmitglieder. Dadurch stieg die Anzahl der Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften, die immer noch mit den Nachwehen des »Neue Heimat«-Skandals von 1982 (als dem in DGB-Hand befindlichen Wohnungsbaukonzern »Neue Heimat« Missmanagement und Korruption nachgewiesen wurden; jW) zu kämpfen hatten, auf 11,8 Millionen Mitglieder und einen Organisationsgrad von rund 30 Prozent an. 2024 zählte der DGB nur noch rund 5,6 Millionen Mitglieder.
Die Deutungshoheit zum Umgang mit dem Geld- und Immobilienvermögen des FDGB, einschließlich seines Feriendienstes, hatte die von westdeutschem Personal dominierte Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR (UKPV). Diese wurde am 1. Juni 1990 auf der Grundlage eines Gesetzes der DDR-Volkskammer durch Ministerpräsident Lothar de Maizière eingesetzt und anschließend in den Einigungsvertrag übernommen. Einen detaillierten Einblick gibt der UKPV-Bericht vom 24. August 1998 an den Deutschen Bundestag (Drucksache 13/11353).
Ausschlaggebend für die Gesamtbewertung des FDGB-Vermögens war der von der UKPV erbrachte Nachweis, dass dieses nicht nur aus Mitgliedsbeiträgen gebildet wurde. Im Zeitraum 1980 bis 1989 flossen jährlich zwischen 207 und 384 Millionen Mark aus dem Staatshaushalt dem FDGB zu. Diese Zuwendungen waren zweckgebunden für Feriendienst, Arbeitsschutz, Sterbe- und Unfallsterbegeld sowie für das Bildungszentrum der Sozialversicherung und den Berliner Künstlerklub »Die Möwe«. Dem gegenüber standen Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen von jährlich zwischen 759 und 974 Millionen Mark. Mit den staatlichen Zuwendungen, die durchschnittlich 35 Prozent der FDGB-Einkünfte betrugen, wurde die materielle Abhängigkeit vom politischen System der DDR begründet und mit den »ideologisch belasteten Werten des FDGB« das bundesrepublikanische Vorgehen gegen den Gewerkschaftsbund legitimiert.
Was bleibt?
Der DGB trat aus diesem Grund das Erbe nicht an. Im Juli 1992 schloss er allerdings im Einvernehmen mit der UKPV einen Vergleich über 36 ehemalige FDGB-Gewerkschaftshäuser, die aus dem Altvermögen der Gewerkschaften in der Weimarer Republik stammten. Darunter befanden sich auch Objekte wie das älteste deutsche Gewerkschaftshaus in Leipzig, das 1933 von den Nazis beschlagnahmt worden war. Trotz der Historie dieser Häuser musste der DGB für diesen »Handel« noch 77 Millionen D-Mark zahlen und das Risiko einer Rückgabeforderung von 27 Millionen D-Mark tragen. 2006 geriet der DGB in eine finanzielle Schieflage und verkaufte zehn dieser ostdeutschen Gewerkschaftshäuser – begleitet von starken Protesten – an den New Yorker Investmentfonds Cerberus Capital Management. Das Volkshaus in Leipzig wurde 2006 von Verdi zurückgekauft. Der Gebäudekomplex »Märkisches Ufer/Brückenstraße« – letzter Sitz des FDGB-Bundesvorstandes – wurde 1998 für 27,5 Millionen D-Mark an die Volksrepublik China verkauft, die ihn als Botschaftsgebäude nutzt. Der DGB-Bundesvorstand bezog im Mai 2023 in der Berliner Keithstraße ein neuerrichtetes Bürohochhaus, dessen Baukosten auf rund 80 Millionen Euro beziffert werden.
Was von dem ehemals gewaltigen Vermögen des FDGB nach Abzug der Kosten für Sozialplanleistungen, Vergleiche, Verwaltungsarbeit (das Sekretariat der UKPV hatte bis zu 85 Mitarbeiter) und Gerichtskosten usw. übrig blieb, wurde von der Treuhandnachfolgerin Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS) in ein dem Finanzministerium zugeordnetes Sondervermögen überführt. Als ein Schwerpunkt der Verwendung des dort zusammengefassten Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR wurde der Denkmalschutz in Ostdeutschland festgelegt. Darüber hinaus landeten über 4.600 Kunstgegenstände in den Depots und wurden bisher weitgehend der Öffentlichkeit vorenthalten. Eine 1990 angestrebte Übereignung des Kur- und Erholungsheimes Graal-Müritz an das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF lehnte die UKPV ab. Sie favorisierte den Verkauf des Objektes für sechs Millionen D-Mark an eine spanische Hotelkette, die dort bis heute ein Viersternehotel mit Spabereich betreibt. Die Spanier kauften auch die ehemaligen FDGB-Feriendomizile in Binz auf Rügen und Schöneck im Voigtland.
Die gewerkschaftseigene Hochschule in Bernau wurde zum 30. September 1990 geschlossen. Alle 195 Lehrkräfte sowie 345 Angestellte und gewerblich-technisch Beschäftigte wurden entlassen. Der DGB zeigte kein Interesse an dem schon damals in großen Teilen unter Denkmalschutz stehenden Gebäudekomplex. Seine Zukunft war mehrere Jahre ungewiss. Es gab Leerstand und Schäden an der Bausubstanz. Nach einer Zeit von mehr oder weniger gelungenen Nutzungsversuchen übernahm die Handwerkskammer Berlin im September 2001 auf der Grundlage eines Erbpachtvertrages die denkmalgeschützten Bereiche. Es begannen umfangreiche Sanierungsarbeiten. Im Juli 2017 erfolgte die Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste. Neben der Handwerkskammer Berlin ist das Barnim-Gymnasium Bernau heute Hauptnutzer.
Der DGB hält still
In Ostdeutschland dauerte es über zwei Jahrzehnte, bis langsam die Erkenntnis einsetzte, dass in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise gewerkschaftliche Abstinenz ein Problem ist. Das Misstrauen im Osten gegenüber Gewerkschaften lässt sich nicht allein mit der Rolle des FDGB im politischen System der DDR erklären. Zur historischen Wahrheit gehört, dass der DGB und seine Einzelgewerkschaften versagten, als im Osten die Enteignung vom Volkseigentum begann und Millionen ihren Arbeitsplatz verloren. Als es Anfang der 1990er Jahre große Demonstrationen, Betriebsbesetzungen und Attacken auf die Treuhandanstalt gab, hielten die großen und mächtigen BRD-Gewerkschaften die Füße still. Lediglich die IG Metall versuchte, unter dem Motto »Leipzig macht Druck auf Bonn«, den solidarischen Schulterschluss mit ihren Ostmitgliedern. Als 1993 das Kaliwerk in Bischofferode wegen einer Fusion mit der westdeutschen Kali-Industrie geschlossen wurde, zeigte sich die einseitige Interessensvertretung der zuständigen IG Bergbau und Energie. Sie opferte die Arbeitsplätze in Thüringen zu Gunsten derer in den westdeutschen Gruben.
All das bestätigte den ostdeutschen Gewerkschaftern, dass die Handlungsspielräume und der politische Veränderungswille von Gewerkschaften im Kapitalismus beschränkt sind und immer die Gefahr besteht, dass konservative Regierungen im Interesse des Kapitals versuchen werden, die Rechte der Beschäftigten weiter einzuschränken und die Gewerkschaften zu schwächen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Vernichtungsfeldzug von Margaret Thatcher gegen die einst so mächtigen britischen Gewerkschaften. Die Interessenvertretung der DGB-Gewerkschaften beschränkt sich hauptsächlich auf das Aushandeln von Löhnen, Gehältern, Arbeitszeiten und Sozialplänen bei Massenentlassungen, einschließlich der Nutzung des Streikrechts zur Durchsetzung dieser Ziele sowie auf die kostenlose Beratung und Vertretung bei Arbeitsrechtsstreitigkeiten. Das ist das Ergebnis der Anpassung der Gewerkschaften an die politischen und ökonomischen Verhältnisse. Dagegen sah das Münchner DGB-Grundsatzprogramm, das 1949 beschlossen wurde, noch eine grundsätzliche Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft samt Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum vor.
Werner Fritz Winkler ist Diplomgesellschaftswissenschaftler und war von 1980 bis 1990 Sekretär des FDGB-Bezirksvorstandes Leipzig, unter anderem zuständig für Jugend und Sport sowie Sozialpolitik, Sozialversicherung und Feriendienst. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 26. März 2025 über Bordelle in Arbeitslagern der Nazis: »Werkzeuge für den Krieg«.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Florian O. aus Berlin (11. Juni 2025 um 12:35 Uhr)Vielen Dank für diesen überaus interessanten Artikel. Es ist sehr schade, dass solche Aspekte aus dem Wissen über die DDR weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden sind. Oft habe ich mich (als Westberliner) gefragt, wie z. B. Tourismus in der DDR funktionierte, jetzt bin ich schlauer. Gerne würde ich in der jW ähnliche Hintergründe lesen, etwa zu den erwähnten »Eingaben« oder wie berufliche Selbständigkeit (z. B. Handwerker, Kleingewerbe …) bzgl. Preisbildung, Steuern, Sozialversicherung etc. organisiert war.
- Antworten
Ähnliche:
- picture-alliance / dpa21.06.2023
Alter Hirsch im Blauhemd
- Martin Storz/imago images/imagebroker24.02.2022
Die große Wettbewerbslüge
- picture-alliance / dpa23.08.2021
Ungeliebte Extradienste
Mehr aus: Thema
-
Killing Machines from Germany
vom 10.06.2025