Gegründet 1947 Sa. / So., 07. / 8. Juni 2025, Nr. 130
Die junge Welt wird von 3011 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 07.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Die kleinen Gesten

Zum Tod des kenianischen Schriftstellers Ngugi wa Thiong’o
Von Patrick Hönig
10.jpg
Eine literarische Naturgewalt: Ngũgĩ wa Thiong’o

Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden, aber wissenschaftlich fundiert sind Behauptungen über die Bewältigung eines Traumas durch Zeitablauf nicht. Krieg und Gewalt, aber auch die politischen und sozioökonomischen Strukturen, in die sie eingebettet sind, haben das Leben und Wirken des 1938 geborenen kenianischen Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Ngũgĩ wa Thiong’o geprägt. Für die Menschen zu schreiben, mit denen er sein Leben teilte, in der Sprache, die sie im Umgang miteinander pflegen, verlieh seiner Person früh eine Strahlkraft, die man ihm auch außerhalb des Kulturbetriebs neidete. Der Konflikt mit den autokratischen Machthabern seines Landes war programmiert. Man sperrte ihn ein und setzte seine Werke auf den Index. Je härter aber die Regierungen unter den Präsidenten Jomo Kenyatta und Daniel arap Moi gegen den unbequemen jungen Autor vorgingen, desto heller leuchtete sein Stern.

Nach der Aufdeckung eines Anschlagskomplotts beantragte Ngũgĩ wa Thiong’o 1982 in Großbritannien Asyl, später setzte er seine Lehrtätigkeit in den USA fort. An seiner Leidenschaft für Afrika und seine Menschen änderte das Leben in der Diaspora nichts. Die einzige Konzession, die er machte, betraf die Verbreitung seines Werkes. Er übertrug seine auf Kikuyu geschriebenen Texte fortan auch ins Englische. Seiner Heimat blieb er durch die Geschichten verbunden, die er in seinen Romanen erzählte, durch Theaterstücke, die er schrieb und zur Aufführung brachte, und durch politische Analysen. Im Zentrum seiner literarischen und politischen Beschäftigung stand das Leid, das Menschen im Krieg zugefügt wird. Er beschrieb die Ursachen der Gewalt und stellte klar, was er von Deutungen hielt, nach denen Konflikte in Afrika auf »Stammesdenken« zurückzuführen seien. Wenn Afrika geteilt sei, dann nicht in Stämme, sondern in Klassen, »die Besitzenden und die Habenichtse«. Und entlang willkürlich gezogener kolonialer Grenzen, die Gemeinschaften spalteten.

Wie hellsichtig seine Kritik war, zeigte sich, als das vermeintlich stabile Kenia nach den Wahlen im Dezember 2007 in eine politisch orchestrierte Gewalt versank, die das demokratische Selbstverständnis vieler Menschen im Land erschütterte. In seinen Erinnerungen »Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben« (deutsch 2013) erzählte der 2019 verstorbene kenianische Schriftsteller Binyavanga Wainaina, wie er den Wahlabend mit Freunden vor dem Fernseher verbrachte. Dass sich jemand an den Wahlurnen zu schaffen macht, will man erst nicht glauben. Als sich die Anzeichen einer Manipulation aber verdichten und die Wahlkommission unter fragwürdigen Umständen einen Sieger ausruft, wird es still im Zimmer. »In ganz Kenia wird es still.« Keine Nachrichten mehr, nur noch Musik. Und dann beginnt das Gemetzel, begleitet von den Schreien der Menschen, »die die Hügel herab und die Täler hinauf stürmten, um zu töten«. Ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen führende Politiker des Landes wird eingestellt, als die Zeugen der Anklage einer nach dem anderen umfallen. Angeblich kann sich niemand mehr erinnern, was passiert ist.

Ngũgĩ wa Thiong’o sparte nicht mit Kritik an den Mächtigen, die das koloniale System auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten hatten, und Lizenzen erteilten, die eine Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ermöglichten, ohne dass die Menschen im Land etwas davon hatten. Er nahm aber auch die ausländischen Konzerne in die Verantwortung und die Gesellschaften, die von einer Weltordnung profitieren, in der souveräne Gleichheit nur auf dem Papier steht.

Wie groß sein Einfluss auf die nächste Autorengeneration gewesen ist, zeigen literaturwissenschaftliche Studien. Oder auch ein Blick auf deren Werke. In ihrem Debüt »Der Ort, an dem die Reise endet« knüpft die kenianische Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor an »Weep Not, Child« (1964) an, Ngũgĩ wa Thiong’os ersten international gefeierten Erfolg. Sie erzählt die Geschichte einer Familie, die von der Vergangenheit eingeholt wird, weil es den Eltern nicht gelingt, mit den Erinnerungen an die blutige Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstands im Kenia der 1950er Jahre fertig zu werden. Für die Protagonisten ihres Buchs, soviel sei verraten, geht das Kalkül des Totschweigens nicht auf. Das Blut, das die britische Kolonialmacht in Kenia vergießt, tränkt den Boden, auf dem der Nationalstaat Kenia sich gründet. Ihre Eltern hätten sie vor dem Wahnsinn schützen wollen, der im Wesen der Nation liegt, sagte mir die Autorin in einem Gespräch, das wir 2016 kurz nach Veröffentlichung der deutschen Übersetzung des Romans in Nairobi führten. Sie hätten viel verschwiegen und gedacht, das werde ihnen helfen, den Begriff der Nation intakt zu halten. Heute müsse sie sich eingestehen, dass man sich nicht selbst belügen kann. Sie habe den Glauben verloren, das Festhalten an Nationen könne irgend etwas Gutes bewirken.

Ngũgĩ wa Thiong’o war eine moralische Instanz und eine Inspiration für alle, die glauben, dass es möglich ist, die Welt anders einzurichten, als sie jetzt ist. Man nahm ihm ab, dass er war, was er vorgab zu sein, Sohn eines Bauern aus dem Hochland, Kikuyu, Bürger Kenias, Bewohner Afrikas, vor allem aber ein politisch denkender Mensch, der sich den Mund nicht verbieten lässt. Gegen die Dämonen seiner Kindheit schrieb er beharrlich an, das Niederbrennen seines Dorfes durch die britische Kolonialregierung, die epistemische Ungerechtigkeit, der sich Menschen in Afrika ausgesetzt sehen, wenn sie sich von Überzeugungen leiten lassen, die im Einklang mit ihrer Kosmologie stehen. Er kämpfte für eine freiheitliche, aber solidarische Gesellschaft, für Gleichheit, Teilhabe und Fairness, lange auch gegen den Krebs und andere gesundheitliche Komplikationen, die ihm in den letzten Jahren seines Lebens zunehmend zu schaffen machten. Über sechs Jahrzehnte nahm er die Rolle eines öffentlichen Intellektuellen ein, der seine moralische Autorität einzusetzen weiß, aber auch die Grenzen kennt, die literarischem Schaffen gesetzt sind.

Ohnehin waren es die kleinen Gesten, die ihn groß erscheinen ließen. Als sein Kollege Wainaina starb, zu früh, wie sich alle einig sind, nannte er ihn in einem Nachruf eine »literarische Naturgewalt«. Das war er selbst, aber zu bescheiden und zu ehrlich, um sich in Stellung zu bringen für die größte mögliche Auszeichnung, den Literaturnobelpreis. Ngũgĩ wa Thiong’o hinterlässt ein intellektuelles Vermächtnis, das Hoffnung gibt für den politischen Kampf um eine gerechtere Welt. Sein Beispiel zeigt auch, wie man mutig sein kann und doch zutiefst menschlich. Er verstarb 87jährig am 28. Mai in Buford, Georgia.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Macht nirgends eine gute Figur: Deutschlands Wirtschaftsminister...
    09.12.2024

    Wenig Interesse an BRD-Kapital

    Wirtschaftsgipfel in Kenia: Deutsche Konzerne suchen Rohstoffe, Fachkräfte und Energieträger. Die Gastgeber suchen Investoren
  • Marxistische Identitätspolitik: Die Wiederaneignung afrikanische...
    03.02.2018

    Vom Schärfen der Augengläser

    Wie der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o das Denken dekolonisieren will

Regio:

Mehr aus: Feuilleton

                                                                   junge Welt stärken: 1.000 Abos jetzt!