Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Von Martin Küpper
Müsste man eine Bibel für Architekten schreiben, so sollte sie mit den Worten beginnen: »Im Anfang war die Zeichnung, und die Zeichnung war beim Architekten, und die Zeichnung war der Architekt.« Es spielt keine Rolle, ob analog oder digital, ob auf Papier oder im Computer: Die Zeichnung ist das Medium, durch das jedes Gebäude entsteht. Sie ist, wie der Architekt, Architekturkritiker und Kurator Wolfgang Kil sagt, die »Muttersprache der Architektur«. An ihr können Werte und Vorstellungen einer Gesellschaft und ihrer räumlichen Gestalt abgelesen, analysiert und vermittelt werden.
Einen bisher unbekannten Einblick in das zeichnerische Schaffen der Architektur der DDR liefert die von Wolfgang Kil und Kai Drewes kuratierte Ausstellung »Pläne und Träume – Gezeichnet in der DDR«, die in dem von der Tchoban Foundation geführten Museum für Architekturzeichnung in Berlin zu sehen ist. Auf zwei Etagen werden etwa 140 Zeichnungen von bekannten und unbekannten Architekten präsentiert. Das spiegelt den egalitären Anspruch der Gesellschaft wider, in der dem Künstlerarchitekten, der heute als Stararchitekt figuriert, Schritt für Schritt der gesellschaftliche Boden entzogen wurde, wobei in der Ausstellung deutlich wird, dass das Künstlerische im Architekturschaffen nicht abgeschafft werden konnte.
Es geht in der Ausstellung nicht darum, die Baugeschichte der DDR zu illustrieren oder zu zeigen, wie ihre größten Bauprojekte hätten aussehen können. Zwar sind Studien zur Umgestaltung der Greifswalder Altstadtquartiere von Ulrich Hugk oder eine Ideenskizze von Ute und Peter Baumbach für das Stadtzentrum von Karl-Marx-Stadt zu sehen. Die Ausstellung ist vor allem sehenswert, weil sie neben den Entwürfen und Studien für konkrete Vorhaben auch die andere Seite des Bauzeichnens zeigt, das als Freihandzeichnen zur Grundausbildung der Architekten gehörte. Da gibt es eine Zeichnung von Gerd Wessel, die den Fernsehturm als Kettenkarussell zeigt oder Faltgrafiken von Peter Meyer, die an Hermann Glöckners Schaffen erinnern. In mehreren Bildern nähert sich Michael Kny dem biblischen Stoff des Turmbaus zu Babel und versucht ihn mit der Industrialisierung in der DDR zu verknüpfen. Auf dem Bild »Babel V« beispielsweise liegen mehrere Türme am Meer, deren Spitzen offensichtlich Schlote sind, aus denen Rauch aufsteigt. Hat der Sozialismus Gott überflüssig gemacht? Erzählen diese Zeichnungen, wie im Eingangstext angedeutet, »von ganz anderem, von Träumen, utopischen Hoffnungen, auch tröstlicher Selbstvergewisserung«? Klingen in Lutz Brandts »Balkonträumereien« wirklich vorwärtsweisende Ideen an oder sind es eher Warnungen? Auf einem Bild sind zahlreiche Solarpaneele so an einem Balkon angebracht, dass sie ihn völlig verdecken. In den dazugehörigen »Balkon-Fantasien« des Künstlers heißt es: »Hier war ein Pragmatiker tätig. Kompromisslos ist die Funktion zur gestalterischen Substanz gereift. Ungeachtet des materiellen Einsatzes folgte dieser Bürger dem Gebot der Zeit: Energieeinsparung!« Sah Brandt schon 1983 die staatssubventionierten Balkonkraftwerke von heute voraus?
Die Ausstellung selbst kommt ohne Erklärungen aus. Das setzt zwar Wissen voraus, lässt jedoch die Interpretation offen. Die einigende Klammer zwischen Zeichnung und Realität ist den Kuratoren zufolge die Spannung zwischen »Wunsch und Wirklichkeit«. Mit dem Entwurf reagiert die Architektenzunft auf das gesellschaftliche Bedürfnis, in dessen Auftrag sie baut. Die Zeichnung steht im Spannungsverhältnis zwischen Idee, Zweck und Vergegenständlichung, das von verschiedenen Widerständen gesellschaftlicher und materieller Natur geprägt ist. Bemerkenswert ist, dass sich unter der Oberfläche des durchgetakteten, industrialisierten Bauens eine Schicht erhalten hat, die freihändig Wolkenkuckucksheime zeichnete und einen Formenüberschuss produzierte. Dies lässt nur eine Antwort auf die Frage zu, ob die Architektur der DDR abgesehen von den realen Bauwerken beachtenswerte Leistungen hervorgebracht hat, wie es im Katalog zur Ausstellung heißt: Ja.
Pläne und Träume – Gezeichnet in der DDR, Tschoban Foundation, Christinenstraße 18 a, 10119 Berlin, bis 7. September 2025
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