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Aus: Ausgabe vom 07.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Klimawandel

Gefahr für die Täler

Die Hänge verlieren an Halt: Erderwärmung destabilisiert Gletscher, Berghänge und Geröllhalden
Von Wolfgang Pomrehn
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Durch den Abbruch des Birkengletschers wurde das Dorf Blatten im Talboden verschüttet (5.6.2025)

Es war ein außerordentlicher Zufall. Rund zehn Jahre hatte der peruanische Kleinbauer und Bergführer Saúl Luciano Lliuya mit Hilfe von hiesigen Umweltschutzorganisationen gegen den deutschen Energiekonzern RWE geklagt. Das Unternehmen solle aufhören, weiter zum Klimawandel beizutragen, der sein Haus hoch droben in den Anden Südamerikas bedrohe. Dieses könne zerstört werden, wenn talaufwärts ein Gletschersee durch größere Abbrüche von Gestein und Eis destabilisiert würde. Die Klage wurde am Mittwoch vergangener Woche vom Oberlandesgericht in Hamm abgewiesen, während sich am selben Tag in den Schweizer Alpen ein eben solcher Bergsturz ereignete, vor dem Lliuya gewarnt hatte.

Im Lötschental im Kanton Wallis ging eine gewaltige Lawine aus zirka drei Millionen Tonnen Gestein und Eis ab und begrub das auf über 1.000 Metern gelegene Dorf Blatten unter sich. Rund 130 Gebäude samt Dorfkirche wurden zerstört. Die etwa 300 Einwohner waren zuvor zum Glück aufgrund präziser Warnungen evakuiert worden. Der bisher durchs Dorf fließende Fluss, die Lonza, staute sich zunächst hinter dem Wall aus Eis und Schutt auf. Das unmittelbare Ergebnis: Auch die wenigen von der Lawine verschonten, höher gelegenen Häuser wurden nun überflutet und zerstört.

Zum Glück fand das Wasser schnell seinen Weg durch den Schutt. Eine befürchtete weitere Katastrophe blieb aus. Der prekäre Gerölldamm hätte sich nämlich auch schlagartig auflösen können, mit dem Ergebnis, dass sich eine Schlammlawine ins Tal ergossen und die tiefer gelegenen Dörfer zerstört hätte. Immerhin besteht vermutlich ein Drittel des jetzt das Tal versperrenden Schuttbergs aus Eis. Daher sind auch noch nicht alle Gefahren gebannt. Beginnt nämlich das Eis im und unter dem Geröll zu tauen, wird sich dieses wieder in Bewegung setzen.

Inwieweit konkret der Klimawandel für das Unglück verantwortlich gemacht werden kann, ist noch ungewiss, wie unter anderem die Glaziologin Mylène Jacquemart von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich gegenüber der ARD erklärte. Allerdings wird rund um den Globus beobachtet, wie die Erwärmung – 2024 war das bisher wärmste Jahr seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen – die Gebirge destabilisiert. Meist werden steile Geröllhalden und Berghänge vom dauerhaft gefrorenen Boden zusammengehalten, dem sogenannten Permafrost. Wird es in den Bergen milder, taut der Boden auf, die Hänge verlieren an Halt, und Lawinen aus Geröll und Schlamm häufen sich.

Ebenso schrumpfen die Gletscher zunehmend. In den Jahren 2022 und 2023 verloren Schweizer Gletscher zehn Prozent ihrer Masse – so viel wie zwischen 1960 und 1990. Auch in den anderen Alpenländern schwinden die Gletscher. Der Österreichische Alpenverein beobachtete 90 von ihnen regelmäßig und stellte fest, dass 87 im Messjahr 2023/24 geschrumpft sind. Nur drei zeigten keine Veränderungen. Im Durchschnitt lag das Gletscherende 24,1 Meter weiter bergaufwärts. Im Falle des Sexegertenferners in den Ötztaler Alpen hatte es sich binnen Jahresfrist sogar um 227,5 Meter zurückgezogen. Und heuer könnte es in diesem Rekordtempo weitergehen. In den österreichischen Alpen ist nach Angaben des Senders ORF noch nie so wenig Schnee gefallen wie im zurückliegenden Winter. Die weiße, in diesem Jahr besonders dünne Decken jungen Schnees stellt für die Gletscher einen gewissen Schutz dar, weil sie das Sonnenlicht weitgehend reflektiert. Liegt das dunklere, eventuell gar von Geröll und Staub bedeckte Eis bloß, so wird dieses von der Strahlung viel stärker erwärmt und kann rasch tauen.

Gletscher speisen viele Flüsse. Zunächst bedeutet ihr Abschmelzen also mehr Wasser in den großen Strömen wie Rhein, Indus, Brahmaputra oder Mekong. Schwinden die Eismassen jedoch gänzlich, so wird dies zum Problem für die Wasserversorgung und Flussschiffahrt. Bisher ist das Eis der Berge nämlich Garant für stetigen Zufluss, während Niederschläge erheblich schwanken können. Fällt es weg, dann ist der Wasserstand der Flüsse nur noch vom Schneefall des letzten Winters und dem Regen der letzten Monate abhängig, wird also unzuverlässiger und stärker variieren.

Der Gletscherschwund kann aber auch akute Gefahren mit sich bringen. Manchmal staut sich das Schmelzwasser nämlich hinter unzuverlässigen Geröllwällen, wie zunächst im Schweizer Lötschental. Diese Seen können sich dann schlagartig in die Täler ergießen und dort große Verwüstungen anrichten, wenn die Dämme brechen oder auch größere Lawinen in die Seen stürzen. So geschehen zum Beispiel am 4. Oktober 2023 im indischen Bundesstaat Sikkim, der zwischen Nepal und Bhutan eingeklemmt am Südhang des Himalaja liegt. Dort war der seit langem als gefährlich bekannte Lhonak-Gletschersee nach starken Regenfällen schlagartig ausgelaufen. Die Flutwelle ergoss sich in einen talwärts gelegenen, erst wenige Jahre alten Stausee, zerstörte die Staumauer und vergrößerte damit noch die Katastrophe. Die Staumauer war seinerzeit trotz dringender Warnungen von Umweltschützern und Wissenschaftlern errichtet worden. Nach unterschiedlichen Angaben fanden zwischen 43 und über 90 Menschen den Tod.

Die indische Zeitung Greater Kashmir schrieb seinerzeit, dass es allein im oberen Ende des Indusbeckens 5.300 ähnliche Gletscherseen und Tausende von steilen Berghängen gibt, die nur der Permafrost zusammenhält. Drei Millionen Inder leben in Tälern, in die sich jederzeit ein Gletschersee ergießen könnte.

Hintergrund: Wissenschaft tut not

Dass in den Schweizer Alpen bis auf vermutlich einen Schäfer niemand zu Schaden kam und ein 300-Einwohner-Dorf rechtzeitig evakuiert werden konnte, war das Ergebnis eines beispielhaften Zusammenspiels von Behörden und Wissenschaft. Die Gefahren in den Gebirgen sind seit langem bekannt. Doch nur, wenn die Gletscher und Berghänge minutiös beobachtet werden, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler akribisch Daten und Erfahrungen sammeln, lange Zeitreihen anlegen können, die Vergleiche erlauben, können die Anzeichen akuter Gefahren erkannt und Warnungen ausgesprochen werden. Und nur wenn die Behörden diese ernst nehmen, kommunizieren und Notfallpläne vorbereitet haben, können Menschenleben gerettet werden. Leider ist all das heute keine Selbstverständlichkeit mehr. In den USA werden die Mittel für Klimaforschung und Wetterdienst zusammengestrichen, unverzichtbare Datensammlungen geraten in Gefahr; hierzulande wird die Zusammenarbeit mit russischen Forscherinnen und Forschern eingestellt, so dass die großen Lücken in unserer Kenntnis über die für das globale Klima wichtigen Vorgänge in der Arktis nicht geschlossen werden können, und selbst simple und rechtzeitige Warnungen der Wetterdienste vor katastrophalen Niederschlägen werden ignoriert, wie zum Beispiel im Juli 2021 im Ahrtal und in Teilen Nordrhein-Westfalens. Die meisten der über 180 Todesopfer hätten seinerzeit vermieden werden können, wären die Behörden besser vorbereitet und RWEs Kiesgruben ausreichend geschützt gewesen, wären die Menschen in den gefährdeten Regionen rechtzeitig informiert worden und hätte man in Sinzig an der Ahr nicht an den Nachtwachen in einem Heim für Menschen mit geistigen Einschränkungen gespart. Wissenschaften können heute oft genaue Gefahrenanalysen bieten und entsprechende Warnungen aussprechen. Doch das ist nicht umsonst zu haben und ersetzt keine Katastrophenpläne und -übungen. (wop)

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