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Aus: Ausgabe vom 06.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
DDR

Ein abgeschlossenes Kapitel

Von der DDR wird nichts bleiben, meint Christoph Hein. Was bleibt von ihm?
Von Gerd Schumann
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Hat sich wieder eingereiht: Christoph Hein (Mitte vorn) im Oktober 1989 in der Berliner Erlöserkirche

Der Stern des Schriftstellers leuchtet wieder. Schien er in den Jahrzehnten nach dem Ende der DDR an einem anderen, nicht mehr geteilten Himmel langsam zu verblassen, drohte er Ende 2019 ganz zu erlöschen. Oder besser gesagt: zum Erlöschen gebracht zu werden. In »Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege« hatte Christoph Hein den medialen Umgang mit dem untergegangenen Sozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Staatssicherheit kritisiert. Hein war im Abspann von Florian Henckel von Donnersmarcks oscarprämiertem Film »Das Leben der Anderen« (2006) als »historischer Berater« genannt worden. Nun schrieb Hein, der Stasi-Film zeige nicht die 1980er Jahre in der DDR, sondern sei ein »Gruselmärchen, das in einem sagenhaften Land spielt, vergleichbar mit Tolkiens Mittelerde«. Das gefiel insbesondere der FAZ nicht, die den Autor schwer tadelte: »Die relativierende Pose, die der Autor in seiner Anekdote gegenüber der DDR einnimmt, ist frivol – gerade weil sie dem besseren Teil von Heins eigenem Werk widerspricht.« Er kenne »offenbar niemand anderen als sich«. (29.1.2019).

Der Spiegel nahm dem Literaten übel, dass dieser sich auch mit der Enthüllungspraxis der Bürgermedien inklusive des Spiegels in Sachen Stasi kritisch auseinandergesetzt hatte. In einer grundsätzlichen Abrechnung hieß es, Hein nehme es »mit der Wahrheit nicht genau«. Ihm sei passiert, was allen »vor der Wende noch vom Westen hofierten, im Osten von Freund und Feind akribisch gelesenen, bewunderten und gefürchteten Schriftstellerinnen und Schriftstellern« geschehen sei: »Sie waren nicht mehr wichtig.« Dieser »Bedeutungsverlust« habe beim Autor »Bitterkeit« wachsen lassen, mutmaßte Volker Weidermann in dem mehrseitigen Beitrag »Ein Schurkenstück«. Er erschien am 22. März 2019, zwei Wochen vor Heins 75. Geburtstag.

Nun ist er 81 und der Blick auf ihn wieder freundlich. Nachdem Hein mit dem Roman »Das Narrenschiff« seine eigene literarische Version der DDR-Geschichte vorgestellt hatte, wird er sogar wieder interviewt. Der Spiegel urteilte: »Spätwerk, Opus magnum, großer Wurf«. Auf 750 Seiten werde »noch mal alles über die DDR gesagt«. Das Buch ist ein Bestseller. Vom Spiegel-Interviewer gefragt, was vom sozialistischen Staat bleiben werde, antwortet Hein (Spiegel, 5.4.2025): »Zuallererst« seien »die Leute geblieben, aber die sterben gerade aus. Noch ein paar Jahre, dann ist die DDR ein völlig abgeschlossenes Kapitel, an das sich kaum noch jemand erinnern kann.« Schon zu der Zeit, als Hein auf der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 sprach, habe er keine Illusionen hinsichtlich eines erneuerten Sozialismus gehabt. »Unsinn« sei der Gedanke gewesen, man könne das Beste aus Ost und West zusammenfügen. Die DDR habe »den Kalten Krieg zwischen den Supermächten von Beginn an verloren«.

Mit wem auch hätte eine »demokratische, antifaschistische Gesellschaft« aufgebaut werden können? »Im Westen hatte Konrad Adenauer (…) keinerlei Hemmungen, die ganzen Nazis wieder in Verantwortung zu holen, um den Wiederaufbau zu organisieren.« Der gesamte Geheimdienst, auch Teile von Justiz und Verwaltung seien vorwiegend mit »alten Kräften« besetzt worden, stellt er richtig fest. Die DDR indes »machte das Gegenteil. Sie entließ alle Lehrer, die Nazis gewesen waren, brauchte dann aber die sogenannten Neulehrer.« Diese seien ihren Schülern »oft gerade mal eine Stunde voraus« gewesen. Ergebnis: »Große Teile der Funktionseliten (waren) recht ungebildet.« Hein fragt: »Was war richtig, was war falsch?«

Seine Antwort findet sich im »Narrenschiff«. In einer Art Prolog wird erzählt, wie die beste Erstklässlerin einer Schule, die nach dem Präsidenten des Landes benannt ist, in einer Feierstunde neben diesem plaziert wird. Hein vermeidet es, ihn zu nennen, doch natürlich ist es Wilhelm Pieck. Bekanntermaßen ein gelernter Tischler, vertraut dieser dem Mädchen Kathinka »ein kleines Geheimnis« an: Er sei nie Klassenbester gewesen. Das Mädchen wundert sich: »Warum sind Sie dann der Präsident geworden und nicht der Klassenbeste?« Wahrscheinlich habe sich »keiner meine Zeugnisse angesehen«, erwidert Pieck.

Zur Staatslenkung nicht qualifizierte Personen geraten an einen Job, den zu bewältigen sie nicht in der Lage sind. Zugleich agiert eine Kraft, die nicht greifbar und sichtbar ist, aber doch alles bestimmt: die Partei, die immer recht hat, auch wenn sie nicht recht hat. Das versucht Hein anhand von drei Biographien zu vermitteln, allesamt aus einer Art unterer Oberschicht der SED. Er beschreibt einen permanenten Zwang zur opportunistischen Anpassung und dessen verheerende Folgen. So nicht bereits verstorben, haben die Hauptpersonen am Ende des Romans resigniert oder Alzheimer. Sie verlassen die historische Szenerie. Kathinka aus der Eingangsszene wird zur Systemgegnerin und zerreißt das Foto, das sie mit Pieck zeigt.

Heins Theorie vom zwangsläufigen Untergang der DDR passt gut in die gegenwärtige politische Landschaft. Das tut weh. Einst war Hein im alten Osten wie im neuen Westen alles, nur nicht pflegeleicht. Von der DDR werde nichts bleiben, sagt er nun: »Sie wird vergessen werden wie die Bauernkriege.« Die bemerkenswerte Analogie zwischen zwei revolutionären Projekten beschließt das Spiegel-Gespräch. Sie passt sehr gut zu dem, was seit Jahrzehnten in den BRD-Schulen gelehrt wird.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (6. Juni 2025 um 15:08 Uhr)
    Etwas viel Text für ein abgeschlossenes Kapitel, das ist der Herr Hein doch? Wie wäre es mit einem Text über eine typische Karriere in einer westdeutschen Partei: angleichen, anpassen, abschleifen, entgraten, feintunen, glätten, gleichschalten, standardisieren, straffen, vereinfachen, vereinheitlichen = streamlining? Ich habe die eine Vorsitzende oder den anderen Vorsitzenden der Jusos im Sinn – zum Beispiel. Wie der Volksmund halt spricht: »Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer es mit 40 noch ist, hat keinen Verstand.«
  • Leserbrief von Michael Knoche aus Kelkheim (6. Juni 2025 um 09:11 Uhr)
    Ein nachdenklich machender Artikel, der vieles erklärt, aber leider keine Antwort auf die im Vorspann gestellte Frage »was bleibt von Christoph Hein?« gibt. Des Schriftstellers resignative Einschätzung, dass nichts von jener Republik bleibe, die ihm Existenzgrundlage für seine Schreibarbeit war, ist ja – angesichts der Begeisterung, die ihm aus dem bürgerlichen Feuilleton für sein jüngstes Werk zuteil wird – eher ein Indiz dafür, dass ihm an dieser Erinnerung gelegen ist. Und wer weiß, wie viele junge (und ältere) Menschen, die seine Bücher lesen, genau darin ein eigenes Interesse entdecken und sich auf eine neue Kreuzfahrt mit dem »Narrenschiff« begeben. Mehr kann Literatur nicht bewirken.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (6. Juni 2025 um 02:58 Uhr)
    »Zur Staatslenkung nicht qualifizierte Personen geraten an einen Job, den zu bewältigen sie nicht in der Lage sind (…) Er beschreibt (für die DDR) einen permanenten Zwang zur opportunistischen Anpassung und dessen verheerende Folgen«. Ist es nicht häufig auch jetzt so, dass die Posten von Ministern und Staatssekretären nach Parteibuch (denn die Partei hat immer Recht) an Personen vergeben werden, die zuvor nie in ihrem Leben mit diesem Fachgebiet vertraut waren? Aber es gibt einen gewichtigen Unterschied zur DDR. Hier werden diese Personen nach vier Jahren abgewählt oder kommen sogar in das nächste Ressort, wo sie ebenfalls keine Ahnung haben und sich erneut einarbeiten müssen. Der Mensch ist ja lernfähig, aber so ein Grundstudium der Materie dauert eben seine Zeit. Und schon wieder ist der nächste Wahltermin heran und die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der ewige Anfänger oder die ewige Anfängerin so weitermacht. In der DDR aber saß der ursprüngliche Anfänger ebenfalls mit Parteibuch dann bis zu Jahrzehnten auf seinem Posten und hatte sich während dieser Zeit dann doch allmählich eine gewisse Kompetenz angeeignet, wozu die ständigen Wechsler der Fachressorts nie in der Lage sein werden. Natürlich wird nicht jeder, der lange auf einem Posten sitzt, nur dadurch automatisch zu einem Fachmann auf dem Gebiet. Zu allen Zeiten und in allen Systemen kamen auch Personen in führende Stellungen, die dem nicht gewachsen waren. Und das wird auch immer so bleiben. Wenn Wilhelm Pieck nicht die besten Schulzeugnisse besaß, dann hatte er dies mit vielen Nobelpreisträgern, Spitzenkünstlern und Wissenschaftlern gemein. Bei einem Präsidenten Lübke, einem Kanzler Kiesinger, bei Filbinger, Oberländer, Globke und all den anderen Altnazis der BRD entschieden doch nicht die Zeugnisse vom Gymnasium, sondern einzig ihr Charakter und ihr fehlendes Gewissen. Und da gebührt an Unbescholtenheit Wilhelm Pieck ein Spitzenplatz unter allen deutschen Präsidenten seit der Weimarer Republik.

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