Der Schattenpremier tritt ab
Von Gerrit Hoekman
Mit Radikalen kann man nicht regieren.« Das stellte der niederländische Oppositionsführer Frans Timmermans am Dienstag gegenüber der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenagentur NOS fest. Timmermans ist der Vorsitzende der Fraktion von Groenlinks und der Partij van de Arbeid, die bei der letzten Wahl mit einer gemeinsamen Liste hinter der Wilders-Partei für die Freiheit (PVV) auf Platz zwei gelandet waren. Seine Aussage bezog sich auf den Bruch der Viererkoalition kurz zuvor, herbeigeführt durch den Ausstieg von Geert Wilders am Dienstag morgen. Am Nachmittag dann war das Kabinett von Ministerpräsident Dick Schoof geschlossen zurückgetreten. Das bedeutet Neuwahlen, die nach Ansicht des Wahlrats frühestens am 29. Oktober stattfinden können. Bis dahin bleibt die Regierung kommissarisch im Amt – mit Ausnahme der Ministerinnen und Minister der PVV. Sie haben das Kabinett am Dienstag verlassen und werden von den verbleibenden Parteien ersetzt.
Die Erkenntnis den Oppositionsführer aus den Haag sollten sich auch in Deutschland alle hinter die Ohren schreiben, die insgeheim hoffen, sie könnten Rechte zähmen, wenn sie mit ihnen in einer Koalition sitzen. Geert Wilders, eine der Ikonen der europäischen Rechten, hat eindrucksvoll das Gegenteil bewiesen. Die PVV war aus den Wahlen im November 2023 zwar als überraschend klare Siegerin hervorgegangen, benötigte jedoch Koalitionspartner. Nur die rechtsliberale VVD, der gerade erst gegründete christlich-konservative Nieuw Sociaal Contract (NSC) und die Boer Burger Beweging (BBB) waren bereit, Verhandlungen zu beginnen – unter der Bedingung, dass Wahlsieger Wilders nicht Ministerpräsident wird. Es dauerte über ein halbes Jahr, bis im Juli 2024 das Kabinett endlich stand. Regierungschef wurde der parteilose Dick Schoof, der überhaupt nicht an den Koalitionsverhandlungen beteiligt war. Er war von Beginn an nur ein Frühstücksdirektor ohne Macht.
Zähneknirschend arrangierten sich Wilders Fraktionsvorsitzender für die PVV wie auch die Anführerinnen und Anführer der drei anderen Parteien. Eine unglückliche Konstellation. Wilders machte schnell deutlich, wer der eigentliche Chef im Ring ist. Im Parlament schulmeisterte er nicht nur Schoof, sondern nahm auch permanent die Minister auf Korn. Bald machte in den Medien der Begriff »Schattenpremier« die Runde. Das Auseinanderbrechen der Koalition war nur eine Frage der Zeit.
Die Opposition kann nun feixen, dass endlich Schluss ist mit dem Schmierentheater. »Die Niederlande sind aus der politischen Geiselhaft der rechten Streitparteien befreit, die nichts auf die Reihe kriegen«, freute sich Jimmy Dijk, der Fraktionsvorsitzende der Socialistische Partij am Mittwoch in der ersten Parlamentsdebatte nach dem beleidigten Abgang von Wilders. Kein einziges Problem habe das Kabinett gelöst. »Das einzige, was in den letzten anderthalb Jahren passiert ist, war eine einzige große Geert-Wilders-Show.«
Die Debatte machte einmal mehr deutlich, dass die PVV nur ein einziges Thema kennt: die Asylpolitk. »Wir wollen einen sofortigen, vollständigen Asylstopp. Wir wollen jeden Asylsuchenden an der Grenze zurückschicken. Wir wollen die Familienzusammenführung sofort stoppen. Wir wollen Asylzentren schließen und verurteilte Straftäter sofort abschieben. Denn die Niederlande schreien nach einer härteren Asylpolitik«, fasste Wilders das Programm seiner Einmannpartei zusammen.
»Dieses Kabinett hat wesentlich zur Polarisierung der Gesellschaft beigetragen«, erklärte die Flüchtlingsorganisation Vluchtelingenwerk (VWN) am Dienstag gegenüber der Nachrichtenagentur ANP. Flüchtlinge seien zum Sündenbock gemacht worden. »Die Niederlande und die Flüchtlinge in den Niederlanden haben etwas Besseres verdient.« Wil Eikelboom vom Verband der Asylanwälte und -juristen (VAJN) zeigte sich froh, dass Marjolein Faber, die PVV-Ministerin für Migration, nun nicht mehr im Amt ist. »Sie war eine sehr unfähige Ministerin. Sie hat die Menschen hauptsächlich gegeneinander aufgehetzt und Gesetze erlassen, die sich als undurchsetzbar erwiesen haben«, sagte er laut NOS. Wilders kündigte allerdings bereits an, der nur noch geschäftsführenden Regierung zu einer Mehrheit zu verhelfen, falls sie beabsichtige, die Asylpolitik weiterhin zu verschärfen. Warum hat Wilders die Koalition dann überhaupt verlassen? Die Antwort ist einfach: In den Umfragen sackt seine PVV allmählich ab.
»Er setzt nicht die Niederlande auf Platz eins, sondern Geert Wilders«, schimpfte eine wütende Caroline van der Plas am Dienstag gegenüber den Medien. Sie ist die Fraktionschefin der BBB und eine Stimme der Landwirte. »Er will der Bokito auf dem Affenfelsen sein.« Ein hübscher Vergleich: Bokito war ein imposanter Silberrücken, der vor zwei Jahren im Rotterdamer Zoo starb. Vielleicht fühlte sich Wilders tatsächlich besonders provoziert, weil er es am Ende nur mit Frauen an der Spitze der drei anderen Parteien zu tun hatte, die sich von einem wild auf die eigene Brust trommelnden Gorilla wie Wilders nicht ins Bockshorn jagen lassen: Dilan Yeşilgöz für die rechtsliberale VVD, Nicolien van Vroonhoven (NSC) und eben Caroline van der Plas.
Die Bauernverbände bedauerten das Ende der Rechtsregierung. »Nach Jahren der Antibauernpolitik gab es endlich ein Kabinett, das mit einer realistischen Politik für den Agrarsektor begonnen hat«, so der Interessenverband Agractie Nederland auf X. »Der Sturz der Regierung ist für die Bauern dramatisch.« Agractie ist treibende Kraft hinter dem Protest der Landwirte gegen die von der EU geforderten Reduzierung des extrem hohen Viehbestands in den Niederlanden.
Hintergrund: Die Reaktion der Gewerkschaften
»Der Sturz dieses Kabinetts, das wirklich nichts erreicht hat, ist eine gute Nachricht für die Niederlande. Wir benötigen ein Kabinett, das die Menschen verbindet und nicht gegeneinander aufhetzt«, kommentierte die FNV, die größte Gewerkschaft in den Niederlanden, am Dienstag zum Ende der Koalition. Und weiter: »Die Menschen brauchen ein verlässliches Kabinett mit einem deutlich sozialeren Gesicht, das die Interessen der arbeitenden Bevölkerung in den Niederlanden in den Vordergrund stellt.« Auch müsse die künftige Regierung Beschäftigten, Senioren und jungen Menschen mehr Aufmerksamkeit schenken als die aktuelle.
Die christliche Gewerkschaft CNV bezeichnet den Sturz des Kabinetts als traurig, aber unvermeidlich. »Gerade jetzt, wo die Gesellschaft am Rande der Krise steht und die Spannungen größer denn je sind, ist ein einigendes Kabinett erforderlich. Leider konnte das Kabinett diese Anforderung nicht erfüllen«, zitierte die Nachrichtenagentur ANP Gewerkschaftsboss Piet Fortuin. Der CNV fordert, dass eine zukünftige Regierung auf die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds und die Erhöhung der Kraftstoffsteuer verzichtet.
Auch Unternehmerverbände äußerten sich. »Die Niederlande benötigen dringend eine längerfristige Regierung unter der Führung eines schlagkräftigen und stabilen Kabinetts, das Entscheidungen für die Zukunft unseres Landes treffen kann«, so der Verband VNO-NCW auf seiner Internetseite. »Dies ist insbesondere in Zeiten großer geopolitischer Spannungen und der dringenden sozialen Herausforderungen, die nach Lösungen verlangen, unerlässlich.« (gh)
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