Wenn Eis schmilzt, wird’s gefährlich
Von Eike Andreas Seidel
Am vergangenen Mittwoch gab es für ihn kein Halten mehr: Der Birchgletscher im Schweizer Lötschental – einem alpinen Wanderparadies – konnte die zwei bis drei Millionen Kubikmeter abgebrochenen Gesteins aus dem darüberliegenden kleinen Nesthorn nicht mehr tragen. Er rutschte mit einem lauten Knall ins Tal. Mit schwerwiegenden Folgen: Die gerade noch rechtzeitig evakuierte Gemeinde Blatten existiert nicht mehr. Und damit nicht genug – das Überlaufen des dadurch aufgestauten Flusses Lonza wird erwartet. Was dies für die Gemeinden im Umkreis bedeutet, ist unklar. Hier laufen die Evakuierungsmaßnahmen in den besonders bedrohten Gebieten noch auf Hochtouren.
Es war eine Katastrophe mit Ansage. Die Berge oberhalb des Birchgletschers hatten ihren »Klebstoff« verloren – das Eis, das die Berge nicht nur der Alpen zusammenhält. Überall in den Hochgebirgen der Welt beschleunigt der Klimawandel derartige Entwicklungen. Studien zeigen einen eindeutigen Zusammenhang: 75,6 Prozent solcher Ereignisse ereignen sich auf den nur 20 Prozent der Flächen, auf denen Permafrost vermutet wird, heißt es in einem aktuellen Onlinebeitrag des Fachmagazins Berg und Steigen. Und 40 Prozent der »Sturzereignisse« ereignen sich auf den nur 4,2 Prozent der seit 1969 eisfrei gewordenen Flächen.
Der Zusammenhang ist also »statistisch signifikant«: Wo das Eis in den Bergen verschwindet, ob im Berg oder in Form von Gletschern, wird’s gefährlich. So vor zwei Jahren am Fluchthorn bei Galtür in der Silvretta. 100.000 Tonnen Gestein stürzten ins Tal und nahmen dabei sogar das Gipfelkreuz mit. Doch auch Starkregen kann die Erosion beschleunigen: So in Brienz in Graubünden, wo die Mure erst kurz vor dem Dorf zur Ruhe kam. Und am Hochvogel bei Hindelang weitet sich ein mittlerweile mehrere Meter breiter Spalt immer weiter. Etwa 140.000 Tonnen Gestein sind dort schon infolge von Klimaereignissen ins Tal gestürzt, und Experten beobachten, wann dann vermutlich 260.000 Kubikmeter Gestein ins Tal stürzen. Dass Eis der Kleber der Berge ist, hat der Doyen des Forschungsgebiets, Gerhard Abele, schon im Jahr 1974 festgestellt: »Die wichtigste externe Vorbedingung der Bergstürze ist die fluviatile (durch fließendes Wasser, jW) und glaziale (durch gefrorenes Wasser und Gletscher, jW) Erosion. Vor allem die Wirkung des Eises dürfte für die alpinen Bergstürze von entscheidender Bedeutung gewesen sein.« 2020 wurden bei Courmayeur auf der italienischen Seite des Montblanc eine Straße gesperrt und Häuser evakuiert, weil der dortige Planpincieux-Gletscher ins Rutschen kam. Ursache: die größere Menge an Schmelzwasser auf der Unterseite, die eine regelrechte Rutschbahn abgab. Der Zugang ins hintere Aostatal wurde wegen solcher Gefahren gesperrt.
Und selbst vor den Hotspots des Alpintourismus macht der Klimawandel nicht halt: An der Marmolata brach im Jahr 2022 ein großer Teil des Gletschers auf der Nordseite ab und rutschte gen Tal, es gab mehrere Tote. Infolge von Felsstürzen wurde im Jahr 2023 der Normalweg über den Hörnligrat zum Matterhorn längere Zeit gesperrt, und auch auf der Südseite waren im Juli 2023 große Felsmassen dem tauenden Permafrost zum Opfer gefallen, an der berühmten Eigernordwand ist im selben Jahr ein großer Felsturm ins Tal gestürzt, und die Kletterroute wurde gesperrt. Die Schiara in den südlichen Dolomiten und die für Touristen sehr attraktive Brenta hatten Felsstürze erlebt.
Selbst am Mount Everest ist die Temperatur des Khumbugletschers über dem Basislager am Khumbueisbruch im Sommer nur noch ein bis zwei Grad unter Null. Auch hier ist eine Katastrophe absehbar.
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vom 03.06.2025