Neue Pläne fürs Primärarztsystem
Von Ralf Wurzbacher
Die Pläne der Bundesregierung zur Einführung eines »verbindlichen Primärarztsystems« werden unter Medizinern und Gesundheitsverbänden kontrovers diskutiert. Die organisierten Hausärzte begrüßen das Vorhaben rundweg, für die Kassenärzte ergibt es nur für Patienten ab 50 Jahren Sinn, wohingegen die Fachärzteschaft einen »versorgungspolitischen Super-GAU« befürchtet. Die Reform sieht vor, dass ein Facharzt nicht länger ohne vorangegangene Konsultation beim Allgemeinmediziner oder Kinderarzt aufgesucht werden darf. Man wolle den Zugang zu Spezialisten »bedarfsgerecht und strukturierter gestalten«, um so die ambulante Versorgung zu verbessern, Wartezeiten zu verringern und das Personal in den Praxen zu entlasten, heißt es dazu im Koalitionsvertrag von Union und SPD.
Wie am Montag das ZDF-»Morgenmagazin« berichtete, werden die Deutschen im Schnitt zehnmal im Jahr beim Onkel Doktor vorstellig – im internationalen Vergleich ein Höchstwert. In bestimmten Regionen habe jeder Zweite sogar zwei Hausärzte. Im Normalfall muss man sich bis zum Tag der Behandlung monatelang gedulden. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, sieht hier ein strukturelles Problem. »Wir sind das einzige Land der Erde, was es dem Patienten alleine überlässt zu entscheiden, wohin er sich mit seinen Beschwerden wendet«, sagte er im ZDF. Erforderlich wären organisatorische Eingriffe, »wann, wie, wo, wer, weshalb zum Arzt geht«. Der Umbau koste allerdings Zeit, weshalb er vor einer »Behandlungskoordination mit der Brechstange« warnte.
Der Spitzenverband der Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands (Spifa) teilt diese Sorge. Es sei angesichts der enormen Zahl der heute ohne ärztliche Überweisung in die Facharztpraxen strömenden Patienten unmöglich, »dass diese ausschließlich über Hausärztinnen und Hausärzte ihren Zugang zur ärztlichen Versorgung erlangen und gesteuert werden sollen«, heißt es einer Verbandsmitteilung. Nötig wäre deshalb weiterhin ein Direktzugang für Personengruppen mit chronischer und episodenhafter Erkrankung. Einen solchen will die Regierung dagegen lediglich noch in den Bereichen Augenheilkunde und Gynäkologie gewähren. Für schwer und dauerhaft Erkrankte werde man »geeignete Lösungen«, etwa Jahresüberweisungen, erarbeiten. Für allen anderen soll der Hausarzt Termine innerhalb eines bestimmten Zeitfensters vergeben, die dann von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) zu vermitteln wären.
Das Projekt steht im Zeichen politischer Bestrebungen für »mehr Effizienz im Gesundheitswesen«; oder im Klartext: Kosten senken auf Teufel komm raus. »Steuerung« macht auch davor nicht halt, Menschen um ihre Versorgungsansprüche zu bringen, indem ihre Fälle auf die ganz lange Bank geschoben oder bürokratische Hürden errichtet werden, die vor einer Behandlung abschrecken. Ein »Erfolgsrezept« könnte auch das Zahlen auf eigene Rechnung werden. So erklärte der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, am Wochenende via Bild: »Nehmen wir an, wir haben Menschen, die gehen nicht zum Hausarzt (…) und suchen sozusagen den Facharzt ihres persönlichen Wunsches auf, dann muss man vielleicht tatsächlich über Eigenbeteiligung nachdenken.« Ein Primärarztsystem hält Gassen indes nur für Personen ab mittlerem Alter angezeigt. »Da sind relativ viele schon mit irgendwelchen Zipperlein in ärztlicher Behandlung«, was eine »ordnende Hand« notwendig mache, um alle Befunde zusammenzuführen und gezielt zu fachärztlichen Kollegen zu überweisen.
Zuspruch erhält Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) durch den Hausärztinnen- und Hausärzteverband. Die Vorsitzende Nicola Buhlinger-Göpfarth rechnet mit zwei bis fünf zusätzlichen Patienten am Tag, wie sie gegenüber Bild erklärte. »Das ist ein Versprechen: Das machen wir.« Eine Flutung der Hausarztpraxen erwartet Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Dem müsse die Regierung entgegenwirken mit Maßnahmen in überversorgten Gebieten und einer Förderung von Ärzten im ländlichen Raum.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (3. Juni 2025 um 14:58 Uhr)Ich verstehe die Debatte nicht. Wir haben doch die elektronische Patientenakte, da steht alles über einen drin. Also kann jeder zu jedem Arzt gehen, der weiß dann auch alles über einen. Wie soll es noch zu Doppelbehandlungen kommen? Außerdem gibt es die elektronische Überweisung (»E-Zuweisung«), da rufe ich beim Hausarzt an, tippe die Zwei (E-Zuweisung) und sage, wo ich hin überwiesen werden will. Mit der Eins hat es schon funktioniert (Folgerezept). Ach, zehnmal zum Arzt? Ich habe eine Dauermedikation, dafür brauche ich dreikommafünfundsechzig Rezepte pro Jahr und und einmal Blutprobe, aufgerundet sind das schon fünf »Arztbesuche«. Wenn ich Glück habe, gibt es a) das Medikament (die Zubereitung) überhaupt noch und ist b) auch verfügbar. Wenn es das Medikament nicht mehr gibt, muss eine andere Zubereitung ausprobiert und die Dosierung überprüft werden: Weiteres Rezept, weiterer Arztbesuch, also schon sieben. Gäbe es ein Jahresrezept/eine Jahrespackung, würde ein Arztbesuch genügen. Dem Patienten und dem System hülfe auch Bildung statt Bildzeitung: Wer Fußpilz hat, sollte vielleicht nicht zuerst beim HNO vorstellig werden.
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