Ausbeutung ohne Grenzen
Von Theo Wentzke
Wenn es etwas gibt, worin Deutschland sich zu Beginn des Jahres 2025 einig ist, dann ist es das: Deutschland hat ein Migrationsproblem. In verschiedener Weise definiert, reden die Parteien, die Öffentlichkeit, das Internet davon, dass Deutschland »die Kontrolle über die Migration zurückgewinnen muss«, »die Kommunen überlastet sind«, eine »Einwanderung in die Sozialsysteme« beendet werden müsse, das deutsche Volk »vor ausländischen Gewalttätern zu schützen« sei usw.
Im Dienst der Akkumulation
In jeder Beschwerde über die »unkontrollierte Masseneinwanderung«, in jeder Bekräftigung, Deutschland müsse die »irreguläre Migration in den Griff kriegen«, ist der Normalfall einer Migration unterstellt, die Deutschland als Subjekt betreibt, kontrolliert und fest im Griff hat: die reguläre, mit der sich die Bundesrepublik seit Adenauer zum Einwanderungsland gemacht hat. Gemessen an ihrem Anspruch an den nationalen Kapitalismus befinden die deutschen Regierungen ihr Volk nämlich regelmäßig für zu klein. Als das deutsche Kapital schon wenige Jahre nach der Neugründung dieser Republik die einheimische Bevölkerung so erfolgreich für seine Akkumulation einspannte, dass diese Zeit als »Wirtschaftswunder« gilt, sollte für dessen Fortsetzung das Kapital in der ansässigen Mannschaft auf keinen Fall eine Schranke seines Wachstums vorfinden. Dementsprechend hat sich die Politik vorausschauend darum gekümmert, dass für jedweden kapitalistischen Arbeitskräftebedarf nicht nur ausreichend Anwärter vorhanden sind, damit jede potentielle Geschäftsgelegenheit realisiert werden und einen Beitrag zum nationalen Reichtum liefern kann, sondern das auch gleich in einer Anzahl, die sicherstellen sollte, dass eine steigende Beschäftigungsrate nicht für steigende Löhne sorgt, die wiederum das Wachstum bremsen könnten.
Die Lösung für diese beiden Seiten des Arbeitskräftebedarfs lag in der – zum Teil wunderbar jungen und armen – Bevölkerung anderer Staaten als Angebot zum Zugreifen bereit. Und Deutschland griff zu: Es verständigte sich in Anwerbeabkommen mit Italien, Griechenland, der Türkei, Marokko bis hin zu Jugoslawien darüber, dass diese Länder ihm Teile ihres Volks zur Benutzung überließen.¹ Die »ausländischen Arbeitnehmer« hießen zwar in Abgrenzung zum Dritten Reich nicht mehr »Fremdarbeiter«. Sie wurden aber zunächst als genau das behandelt, untergebracht und von der Restgesellschaft ferngehalten. Das hatte den schönen Nebeneffekt, dass sie besonders erpressbar waren, also auch besonders billig und für jede Belastung einsetzbar, was zu ihrer Stellenbeschreibung gut passte.
Daran ändert sich im Prinzip auch dann nichts, wenn heutzutage qualifizierte »Fachkräfte« mit nachweisbaren Deutschkenntnissen selbst eine Wohnung suchen müssen, statt in der Sammelunterkunft verstaut zu werden. Wenn der Arbeitsminister herumreist und Abkommen zur »fairen Einwanderung« abschließt, kümmert er sich ganz in der Tradition seiner Vorgänger prophylaktisch darum, dass deutschen Arbeitgebern stets überreichlich Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, damit sich jedenfalls die »demografische Lücke am Arbeitsmarkt« nicht als Delle in der deutschen Konjunktur geltend macht. Auch an der aktuellen Definition eines »Mangelberufs«, für den erleichterte Einreisebedingungen gelten, lässt sich ablesen, wofür Leute nach wie vor aus dem Ausland geholt werden: Wenn es gemäß der angestellten »Engpassanalyse« etwa zu wenig Arbeitslose pro offener Stelle gibt oder die Löhne im Berufsfeld zu stark ansteigen, wird es nach staatlicher Rechnung nötig, die Anzahl der Arbeitswilligen um Dazugekommene zu erweitern, damit für eine wohltuende Anpassung des Lohnniveaus gesorgt ist.
Der »Fachkräftemangel«
Der Bedarf an ausländischen Kräften betrifft indes nicht nur die Jobs am unteren Ende der Berufshierarchie, auch wenn unqualifizierte Tätigkeiten in der Gebäudereinigung, dem Bau-, Gast- und Hotelgewerbe usw. nach wie vor einen bedeutenden Anteil des »Fachkräftemangels« ausmachen. Den entdeckt die Politik auch in ganz anderen Sphären: Handwerker, Lehrer, Hochschullehrer, Ärzte, Physiotherapeuten, Pflegekräfte, Wissenschaftler, Führungskräfte usw. Wenn das deutsche Volk mal wieder zu klein ist für das, was der Staat von ihm will: die Bestückung eines nach seinen Maßstäben funktionierenden Bildungs- und Gesundheitswesens sowie deutscher Unternehmen, die sich in der globalen Konkurrenz um Innovation und Besetzung von Märkten durchsetzen – dann kümmert er sich darum, die entsprechend qualifizierten Massen wie die Spitzenkräfte mit der Superqualifikation, bereits internationalen Erfolg zu verkörpern, aus dem Ausland zu besorgen. Unternehmen, die sich weltweit nach Managern und Experten umschauen, kriegen es da ziemlich leicht gemacht: Für Führungskräfte gibt es ohnehin einen eigenen Paragraphen bezüglich einer Arbeitserlaubnis. Die Arbeitnehmerelite eine Etage darunter liegt in aller Regel auch über dem Mindestgehalt, das der Staat zur Bedingung für eine unkomplizierte Herholung und Anstellung erhebt.
Stammen die Bewerber aus der EU, fallen sie wie alle EU-Bürger sowieso unter deren Personenfreizügigkeit – dank der in Deutschland seit Jahrzehnten kein Unternehmer bei der Befriedigung seines Arbeitskräftebedarfs eine Grenze an der Grenze hat. Deutschland hat es nämlich nicht nur geschafft, seine Marktbasis auf fast einen ganzen Kontinent auszudehnen, sondern eben auch seinen Zugriff auf das Arbeitskräftepotential vom Ingenieur bis zum Erntehelfer. Dessen Nutzen für Deutschland sichert die Politik stetig durch begleitende Maßnahmen, damit zum Beispiel dank der »Entsenderichtlinie« die erwünschte, wachstumsförderliche Wirkung des Lohndrückens nicht in ein »Lohndumping« umschlägt, welches dann vorliegt, wenn einheimische Betriebe die Benutzung ihrer Arbeitskräfte zu den ortsüblichen Bedingungen nicht mehr lohnend finden, weil auswärtige Konkurrenten sie unterbieten.
Den Besitzstand eines europäischen Arbeitsmarktes halten die deutschen Machthaber inzwischen für so selbstverständlich, dass sie ihn in einem Atemzug mit dem innerdeutschen Arbeitsmarkt nennen. In diesem Sinne gilt er ihnen allerdings gleichermaßen als zu beschränkt für die Deckung ihres Bedarfs nach gesicherter Verfügung über ein wachstumsdienliches Arbeitskräftereservoir. Mit dem 2023 verabschiedeten »Fachkräfteeinwanderungsgesetz« richtet sich der Blick auf die ganze Welt: Die Einreise von mit einem Berufs- oder Hochschulabschluss qualifizierten Bürgern aus Drittstaaten außerhalb der EU in deutsche Arbeitsverhältnisse wurde erleichtert, diverse Überprüfungspflichten abgeschafft und Fristen verkürzt, insbesondere für Mangelberufe, aber auch für alle anderen. Eine »Chancenkarte«, die für eine Mindestpunktzahl – Punkte gibt es unter anderem für berufliche Qualifikation, Sprachkenntnisse, junges Alter – vergeben wird und zur Arbeitsplatzsuche in Deutschland berechtigt, bietet den deutschen Bedarf als Gunst an, sich um den Dienst an ihm zu bewerben. Die »Westbalkanregelung« erlaubt ein jährliches Kontingent an Arbeitserlaubnissen ohne Qualifikationsprüfung für Bürger Albaniens und der Nicht-EU-Staaten des ehemaligen Jugoslawien – und sollte zugleich die massenhaften Asylanträge ohne Erfolgsaussichten aus diesen Ländern beenden, indem den Reisewilligen das Angebot gemacht wird, sich auf Zeit für Deutschland nützlich zu machen.
Isolation und Integration
Die Anwerbeabkommen der Fünfziger und Sechziger waren einerseits gleich so gestrickt, dass die Ausländer als pure Arbeitskraft hergeholt wurden und aus ihnen auch nichts anderes werden sollte. Dazu sahen die Abkommen explizit eine »Rotation« vor: Deutschlands »Gäste« sollten nach maximal zwei Jahren zurückgeschickt und durch frische ausländische Kräfte ersetzt werden, damit sie hier gar nicht erst Fuß fassten. Sprachkenntnisse waren weder verlangt noch war ihre Vermittlung vorgesehen, und den doch arg fremden Türken wurde anfangs nicht erlaubt, ihre Familie mitzunehmen oder nachzuholen. Auch wenn die Rotation Geschichte ist – den Anspruch, an den Ausländern möglichst alles abzutrennen, was nicht unmittelbar zum verlangten Dienst an ihrem jeweiligen Arbeitgeber gehört, also auch auszuschließen, dass sie zu einer ökonomischen bzw. sozialen Belastung werden können, praktiziert die Politik auch heute: Für einen Großteil der Aufenthaltsstatus ist der Nachweis eines Mindestgehalts und ggf. der Nachweis einer Altersvorsorge verlangt; Visumtypen wie die »Chancenkarte« oder die »Einreise zur Anerkennung der Berufsqualifikation« erfordern ein Sperrkonto, auf dem der Migrant im Voraus einen Mindestbetrag für die Absicherung seines Lebensunterhalts in Deutschland hinterlegen muss, auf welchen er dann nur nach und nach Zugriff erhält; die »Westbalkanregelung« schließt aus, was sonst gilt: dass nach zwei Jahren durchgehender sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in Deutschland jede Arbeit ohne Zustimmung einer Behörde angenommen werden darf; viele Arbeitserlaubnisse verlangen eine Vorrangprüfung, die verhindern soll, dass Stellen mit Ausländern statt vorhandenen deutschen bzw. EU-Bewerbern besetzt werden usw.
Zugleich war schon in den ersten Anwerbeabkommen festgelegt, dass die ausländischen Arbeitskräfte zumindest formell den deutschen Lohnarbeitern gleichgestellt sein sollten, was Lohn und Arbeitsbedingungen anging. Sie erhielten einen ordentlichen Arbeitsvertrag in zwei Sprachen und vom Betriebsrat meistens gleich ein Beitrittsformular der Gewerkschaft danebengelegt. Wenn sie in Deutschland waren, sorgten zwar die befristete Beschäftigungserlaubnis, die Massenunterbringung, die Sprachhürde und ihre Absicht, ganz viel Geld zu sparen, um es im Heimatland in ein Haus oder eine selbstständige Einkommensquelle zu stecken, für eine ziemlich weitgehende Isolation vom Rest der Gesellschaft, aber sie zahlten Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge, durften prinzipiell auch eine Wohnung mieten usw. Und weil die Arbeitgeber es unzumutbar fanden, alle zwei Jahre neue Arbeiter anlernen lassen zu müssen, wurde das Rotationsprinzip bald aufgegeben und dann sogar den Türken der Familiennachzug erlaubt. Damit standen lauter weitere Regelungen mit den Herkunftsländern darüber an, welche Sozialversicherungsansprüche wo geltend gemacht, welche Rechtsvorschrift jeweils angewandt, welche Zuständigkeit jeweils festgelegt werden sollte.
Dass Deutschland die Ausländer nicht bloß als Ergänzung seines Proletariats ins Land holt, sondern sie nach und nach auch in dieses integriert, zeigt sich schlagend, wenn Migranten den Job verlieren, dessentwegen sie hier sind. Zu einem Berufsleben in ziemlich vielen Abteilungen der deutschen Arbeitswelt gehören ja quasi natürlich, jedenfalls für Arbeitsmarktpolitiker selbstverständlich, Zeiten der Arbeitslosigkeit, ebenso wie niedrige Löhne, von denen Familien nicht leben können. Wo das allgemein gilt, da gilt es für die Migranten erst recht: Immerhin wurde und wird die Mehrheit von ihnen für die »Umschichtung des Arbeitsmarkts« geholt, also in den untersten Lohngruppen beschäftigt und bei Beschäftigungsrückgang als Erste wieder aussortiert. Ihre Arbeitslosigkeit, inklusive Bezug von Arbeitslosen- oder Bürgergeld, macht der Staat für manche von ihnen zwar zum Grund, ihren Aufenthalt nicht zu verlängern; den größten Teil der Betroffenen definiert er jedoch, abhängig unter anderem von der Dauer der vorhergegangenen Beschäftigung und der Art der Aufenthaltserlaubnis, ganz praktisch als Teil seiner arbeitenden Klasse, die er insgesamt als permanenten hoheitlichen Betreuungsfall kennt und behandelt: Er muss mittels Zwangskassen dafür sorgen, dass der Lohn, der einzeln die Wechselfälle einer Lohnarbeiterkarriere – Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit und das Ende des Erwerbslebens, das über das Erwerbsende hinausreicht – überhaupt nicht abdeckt, durch seine Umverteilung als alternativloses Lebensmittel der gesamten Klasse dauerhaft funktionieren kann.
Wenn die ausländischen Arbeitskräfte in diese Errungenschaft auf Dauer eingemeindet sind, sind sie schon lange keine »Gäste« mehr. In ihrer Behandlung als umfassend sozialversicherte Arbeitskräfte, denen die gleichen Rechte und Pflichten zukommen wie dem restlichen deutschen Proletariat, erschöpft sich ihre Integration allerdings längst nicht. Dem gesamten Umfeld nicht nur der Arbeit, sondern des Lebens von Erwerbsbürgernaturen insgesamt trägt der Staat – nach und nach – entsprechend Rechnung, wenn er sich um den familiären Umkreis, die Bildung, die kulturelle Einbindung usw. kümmert. In der Weisheit »Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen« ging die Moral dem Recht in dieser Frage noch voraus; sie drückte als Gebot des Humanismus aus, was die Politik an ihren ausländischen Objekten qua Recht anerkannt und nachvollzogen hat, besser: wozu sie sich – als Resultat ständigen politischen Streits – nach und nach praktisch durchgerungen hat: die hergeholten Arbeitskräfte als Teil der Bevölkerung zu behandeln – Vorbehalte gab und gibt es jedenfalls mehr als genug.
Je mehr der deutsche Staat die ausländischen Bürger als Arbeitskräfte rechtlich integriert, um so mehr behandelt er sie also als insgesamt anzuerkennenden Teil seiner Bevölkerung. Wer sich über längere Zeit nicht nur auf dem Arbeitsmarkt bewährt, sondern sich auch abseits davon nichts zuschulden kommen lässt, erhält nach den Aufenthaltserlaubnissen schließlich eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Sollte er sich dann nicht nur als stets gesetzestreu erweisen, sondern auch noch den staatlichen Loyalitätsanforderungen genügen, erhält er sogar die Perspektive einer deutschen Staatsbürgerschaft. Mit der kommt er auf der höchsten Stufe der Integration an, auf der ihn rechtlich nichts mehr vom eingeborenen deutschen Volk unterscheidet.
Ungewollte Einwanderung
Die Erfolgsgeschichte hat für die BRD eine kleine Nebenwirkung. Gerade als das Zentrum kapitalistischen Wachstums, zu dem es Deutschland nicht zuletzt mit und durch seinen ausgreifenden Zugriff auf die »Human Resources« der Welt gebracht hat, zieht es das Interesse auch anderer migrationswilliger Massen auf sich. Solcher nämlich, die ihrerseits ihre Gründe dafür haben, aus der Heimat abzuhauen und ihr Glück anderswo zu versuchen, dazu allerdings nicht durch eine offizielle Einladung im Rahmen irgendeiner Verschickung oder Anwerbung ermuntert werden. Auch sie wissen um die Gelegenheiten des Geldverdienens, die sich hierzulande auch für fremdländische Zeitgenossen auftun, so dass einige von ihnen beschließen, die Gefahren in Kauf zu nehmen, die eine eigenmächtige Zuwanderung über zumeist irreguläre »Routen« für sie bedeutet; und einmal angekommen berufen sie sich auf Rechtstitel, von denen sie sich gewisse Bleibeperspektiven versprechen können, auch wenn die für derartige Berechnungen überhaupt nicht gedacht waren.
Das Grundrecht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), welche die juristische Basis für die eigenmächtige Zuwanderung nach Deutschland bilden, stammen aus Zeiten, in denen von einer massenhaft mobil gemachten Weltbevölkerung noch nicht die Rede sein konnte. Die 1951 verabschiedete GFK leistete ihren Beitrag zur Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, indem Millionen Kriegsflüchtlinge, die inmitten neu gezogener Staatsgrenzen für ein Ordnungsproblem sorgten, in geordnete Aufenthaltsstatus überführt wurden.² Und das 1949 im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf Asyl hatte eine eindeutige politische Schlagrichtung gegen den realsozialistischen Systemfeind – es erstreckte sich in seiner praktischen Anwendung lange auf die sehr überschaubare Anzahl von »politisch Verfolgten« aus dem Ostblock, die es vermochten, hierzulande einen entsprechenden Antrag gemäß Art. 16 GG zu stellen.
Beide Rechtstitel beschwören eine allgemeine Zuständigkeit Deutschlands in der Staatenwelt, und diese imperialistische Dimension dieser Rechte war und ist ihr politischer Sinn und Zweck: Deutschland behält sich vor, darüber zu richten, ob eine andere Herrschaft ihre Bürger korrekt behandelt oder politisch verfolgt, sich also als zu respektierende Schutzmacht, wie Deutschland eine ist, diskreditiert. Ebenso erklärt es sich für prinzipiell (mit)zuständig für die humanitären Nebenfragen der Weltordnung in Sachen Umgang mit Kriegsflüchtlingen und sozial, ethnisch bzw. religiös Verfolgten.
Diese grundsätzlichen Vorbehalte und Einspruchstitel gegen andere Mächte in ihrem Umgang mit ihren eigenen wie mit fremden Völkern haben die praktische Nebenwirkung einer Relativierung des prinzipiellen Ausschlusses fremder Menschen vom hiesigen Territorium; sie durchlöchern die rechtliche Unüberwindbarkeit des grundlegenden Ein- und Auschlusskriteriums, nach welchem hierzulande nur derjenige anwesend sein darf, den Deutschland aus seinen Kalkulationen ins Land lässt. Denn mit dem Asylrecht nimmt der gepflegte Vorbehalt gegenüber anderen Mächten die Form eines allen auf deutschen Boden gelangten ausländischen Staatsbürgern zu gewährenden individuellen Grundrechts an. Sie können die Prüfung ihrer Schutzwürdigkeit in Anspruch nehmen, was ein juristisches Verfahren anstößt, das damit einhergeht, dass dem Antragsteller – mindestens – der zeitlich befristete Verbleib bis zur Klärung seines Schutzbedarfs bzw. seiner Schutzwürdigkeit ermöglicht wird.
Nur der Staat soll entscheiden
Auch wenn keineswegs »die ganze Welt« danach strebt, nach Deutschland zu ziehen: Schon der sehr geringe Prozentsatz unter den mobilisierten Armen und Elenden, die es tatsächlich bis ins Herz von Europa schaffen, bewirkt, dass mittlerweile viel mehr und ganz andere Figuren das deutsche Asylverfahren durchlaufen als jene, für die es ursprünglich geschaffen wurde. Aus der sich daraus ergebenden Konsequenz, dass eine nicht bestellte Masseneinwanderung mit rechtlichen Einzelfallprüfungen auf individuelle Schutzansprüche abgewickelt wird, ziehen deutsche Politiker nicht erst seit ein paar Jahren den Schluss, dass ein derartiger Gebrauch des Asylrechts dessen massenhafter Missbrauch ist. Die Anwärter verletzten mit ihrer unerhörten Inanspruchnahme dieses ihnen von der edlen Hoheit verliehenen Rechts den herrschaftlichen Anspruch, dass der deutsche Staat das alleinig entscheidende Subjekt über Zuwanderung in sein Staatsgebiet zu sein hat. Das wird ihnen als ihre Eigenschaft vorgeworfen: Sie sind »irregulär«.
Die offizielle Unzufriedenheit mit dieser Inanspruchnahme des Asylrechts hat bislang allerdings keineswegs zu dessen Abschaffung geführt: Es soll ja gar nicht davon abgelassen werden, an davongelaufenem Volk über fremde Herrschaften und deren Affären zu richten. Nur soll der dafür eingerichtete Rechtstitel eben darin auch irgendwie das Maß seines Gebrauchs finden, anstatt irgendwelchen Gestalten als Hebel für deren eigenmächtige Einreise zwecks langfristigen Verbleibs zu dienen. Schon lange – und immer wieder – hat sich für deutsche Politiker aus diesem beklagten Missverhältnis der Bedarf nach Asylrechtsreformen ergeben, welche die Masse der hier zu bescheidenden Antragsteller und ihre Erfolgsaussichten möglichst reduzieren sollten.
Die bedeutendste Anpassung stellt die Grundgesetzänderung aus dem Jahre 1993 dar: Seither gibt es eine – stets bedarfsgemäß erweiterte – Liste an »sicheren Herkunftsländern«, bei denen die Bundesrepublik qua Parlamentsbeschluss keinen Zweifel daran lässt, dass die Berufung aus diesen Ländern kommender Antragsteller auf Verfolgung »offensichtlich unbegründet« sein muss. Außerdem wurde der Standpunkt ins Recht eingeführt, dass eine Einreise nach Deutschland wegen der auf dem Landweg unvermeidlichen Durchreise durch lauter »sichere Drittstaaten« die Zuständigkeit Deutschlands für eine Asylbewerbung eigentlich per definitionem ausschließt.
Anmerkungen
1 Das erste Abkommen, das mit Italien, wurde von Sonderminister Strauß explizit damit begründet, dass man die deutschen Gewerkschaften in ihren Forderungen nach Lohnerhöhungen bremsen wollte. Wirtschaftsminister Erhard war das Abkommen nicht weniger wichtig: Er fürchtete um den Erhalt Italiens als Abnehmer der immer reichlicheren Produkte des deutschen Wunders und sah in der Beschäftigung von italienischen Arbeitern eine Möglichkeit dafür, dass Italien seine Zahlungsbilanz gegenüber der BRD so weit würde ausgleichen können, dass es als Versilberer deutscher Profite nicht ausfallen würde. Nicht umsonst wurde den Gastarbeitern die Überweisung ihres Lohns bis zur vollen Höhe ins Heimatland erlaubt.
2 Die Genfer Flüchtlingskonvention war zunächst auf den Schutz der europäischen Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg beschränkt. Erst im Lichte der Dekolonisierung und als Beitrag zur Eingemeindung der neu gegründeten afrikanischen und asiatischen Staaten in die westliche Weltordnung wurde diese Beschränkung 1967 aufgehoben – zu einer Zeit, in der noch keine nennenswerte Massenmigration von Flüchtlingen in die kapitalistischen Zentren zu verzeichnen war.
Mehr zum Thema Migration im Heft 1-25 der Zeitschrift Gegenstandpunkt und auf der Webseite: gegenstandpunkt.com
Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. Februar 2025 über die einzigartige Sozialpartnerschaft zwischen Volkswagen und IG Metall: »Sinnlose Verzichtsbereitschaft«.
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