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Aus: Ausgabe vom 02.06.2025, Seite 12 / Thema
Geschichtsschreibung

Von unten betrachtet

Zwei Kriege, vier Systeme. Ein Arbeiterleben oder: Familiengeschichte als Sozialgeschichte
Von Christine Wittrock
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Was idyllisch aussieht, war schiere Plackerei – Heuernte im Spreewald (1910er Jahre)

Als mein Großvater seine erste Frau heiratete, war die Welt bereits aus den Fugen: Das Deutsche Kaiserreich, durch Kriege und Raubfrieden gegen Dänemark, Österreich und Frankreich von Bismarck zusammengeschweißt, schickte sich an, neue Eroberungsfeldzüge vorzubereiten. Die aus Frankreich herausgepressten Milliarden Goldfranken Kriegskontribution hatten in den 1870er Jahren eine deutsche »Gründerzeit« bewirkt, eine kurzfristige prosperierende Epoche, in der viele große Unternehmen entstehen und expandieren konnten. Das Volk hatte davon wenig. Das bis 1918 in Preußen gültige Dreiklassenwahlrecht sorgte dafür, dass die besitzenden Klassen den Kurs der Politik bestimmten. Die Stimmen der Wohlhabenden hatten ein wesentlich größeres Gewicht als die Stimmen der Armen. Darüber hinaus waren Frauen, Jugendliche bis zum 25. Lebensjahr und Armenunterstützungsempfänger von der Wahl ausgeschlossen. Das war indes keine deutsche Besonderheit: In anderen europäischen Ländern sah es kaum besser aus.

Mit dem Sozialistengesetz, dem »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«, hatte Bismarck versucht, das für den Bestand der Monarchie gefährliche Potential demokratischer Kräfte niederzuhalten, hatte Gewerkschaften, Arbeiterbildungsvereine und alles, was politisch verdächtig war, verboten, verfolgt und aus dem Land gejagt. Dennoch hat dieses Vorgehen der preußischen Militärdiktatur, die sich seit 1871 Kaiserreich nannte, auf Dauer nichts genützt.

Als das Sozialistengesetz 1890 fiel, war mein Großvater Franz 14 Jahre alt. Wann mag er den Plan gefasst haben, aus seinem heimatlichen schlesischen Dorf wegzugehen? Oder bedurfte es gar keiner besonderen Überlegung? Ging nicht alles, was damals jung und arm, aber gesund und arbeitsfähig war – Männer wie Frauen – zur Erntezeit auf die großen Güter westlich der Elbe und verdingte sich als Saisonarbeiter?

Unter der Knute

Den ländlichen Unterschichten ging es schlechter als den städtischen; denn die soziale Einbindung auf dem Land sorgte für ein unangetastetes Verhältnis zwischen Herren und Knechten. Die bis 1918 geltende Gesindeordnung war beredter Ausdruck dieser befohlenen Zurichtung zum Untertanen: »Ohne Vorwissen und Genehmigung der Herrschaft darf es (das Gesinde, C. W.) sich auch in eigenen Angelegenheiten vom Hause nicht entfernen. (…) Die Befehle der Herrschaft und ihre Verweise muss das Gesinde mit Ehrerbietung und Bescheidenheit annehmen. (…) Reizt das Gesinde die Herrschaft durch ungebührliches Betragen zum Zorn und wird in selbigem von ihr mit Scheltworten oder geringen Tätlichkeiten behandelt, so kann es dafür keine gerichtliche Genugtuung fordern.«

Die Landbevölkerung stimmte mit den Füßen ab. Sie wanderte ab in die Städte. Darüber hinaus führte die Ausdehnung des Zuckerrübenanbaus auf den lehmigen Böden des Leinetals zu Arbeitskräftemangel, der durch Erntearbeiter aus Schlesien und Polen halbwegs behoben werden konnte. Kein Wunder, dass nicht nur mein schlesischer Großvater, sondern auch seine Geschwister sich hier verdingten.

Die damaligen Diskussionen über die »Leutenot« bezeichnete nicht etwa die Not der »Leute«, also der Landarbeiterinnen und -arbeiter, sondern die Not der Gutsbesitzer. Natürlich wurde die Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte von der ländlichen Oberschicht mit Missfallen beobachtet: Landflucht war fast so etwas wie Fahnenflucht, und man räsonierte gern über das »vergnügungssüchtige Gesinde« und dessen Hang zur »Zügellosigkeit«.

Die Saisonarbeiterinnen und -arbeiter aus dem Osten waren das unterste Glied in der ländlichen Hierarchie. Überproportional hoch war der Frauenanteil unter ihnen, die billigsten landwirtschaftlichen Arbeitskräfte. Im Sommer 1908 arbeiteten 6.948 Saisonarbeiter im Regierungsbezirk Hildesheim, davon kam etwa ein Viertel aus Schlesien und Ostpreußen, die große Mehrheit aus Polen.

Ein Redakteur des Hannoverschen Volkswillen begleitete 1901 einen aus Wagen der dritten und vierten Klasse sowie Viehwaggons bestehenden Reisezug, der die Saisonarbeiterinnen und -arbeiter in die südniedersächsischen Zuckerrübenanbaugebiete brachte. Mit Arbeitskleidung und wenigen persönlichen Dingen in einem Karton verschnürt traten sie ihren Weg nach Westen an. »Viehwagen ohne Fenster, mit einer in der Mitte angebrachten verschiebbaren Türe, die geöffnet, die kalten Schnee- und Regenschauer des launischen April in das Wageninnere peitschen lässt, und die, geschlossen, auch am Tage den Wagen in ein undurchdringliches Dunkel hüllt! Diese Viehwagen, ein Dutzend an der Zahl, sind vollgepfropft mit Menschen, mit Polen, mit Galiziern und so weiter! In überfülltem Wagen haben die Leute, zusammengepfercht, bereits Tagereisen überstanden. (…) Musternd schauen wir sie an, die vielen Jungen und Mädchen – es sind ausgemergelte, saft- und kraftlose, mangelhaft ernährte Gestalten.«

Bis in die Dunkelheit

Die Saisonarbeit war von staatlicher Seite stark reglementiert. Eine Ansiedlung von osteuropäischen Ausländern sollte unbedingt vermieden werden. An- und Abreise war vorgeschrieben, die Anwerbung der Arbeitskräfte geschah durch private Stellenvermittler, später auch durch die Landwirtschaftskammer Hannover. Die Saisonarbeiter hatten genügsam zu sein: Untergebracht in »Schnitterkasernen«, oft zwei in einem Bett, unter schlechten hygienischen Verhältnissen, betrug die tägliche Arbeitszeit 13 Stunden und mehr, vielfach über Sonnenuntergang hinaus. Die Löhne waren dürftig.

Dennoch zogen jedes Frühjahr Tausende in die westelbischen Gebiete, insbesondere auf die Rübenfelder der großen Güter im Raum Südhannover und Braunschweig. Man nannte sie Schwalben, weil sie sich einfanden wie die Zugvögel. Sie kamen aus Landgemeinden wie dem Dorf meines Großvaters Alt Budkowitz im Kreis Oppeln (heute: Stare Budkowice in der Wojewodschaft Opole) – Landschaften ohne nennenswerte Industrie, flach und sandig der Boden, viel Wald, die Bevölkerung kinderreich und fromm. Wer etwas hell im Kopf war, wollte weg, zumindest im Sommer sein eigenes Geld verdienen, der Fuchtel der Familie entzogen. Im Westen war man fortschrittlicher, freier.

»Die Leute werden frech, trotzig, patzig, hochfahrend und tragen durch ihr Beispiel immer wieder zur Lockerung des patriarchalischen Verhältnisses bei«, hieß es 1890 in einer Untersuchung des preußischen Landwirtschaftsministeriums. Auch würden die Frauen unter den Saisonarbeitern häufig genug dem männlichen Geschlecht gegenüber »ein gewisses freches Wesen annehmen«.

Die allmähliche Auflösung patriarchalischer Strukturen ließ sich nicht aufhalten, wenngleich mancher ostelbische Junker gern die Freizügigkeit, also die Reisefreiheit, zugunsten seines eigenen Interesses an billigen Arbeitskräften beschnitten hätte. Der entwickelte Kapitalismus bedurfte eines großen Reservoirs an mobilen Arbeitern; die Reisefreiheit wurde daher nicht angetastet.

Wie viele Sommer mag mein schlesischer Großvater mit seinen Geschwistern nach Westen gefahren sein? Irgendwann ließen sie sich in dem kleinen Landstädtchen Einbeck nieder. Vielleicht fanden sie dauerhaft Arbeit in einer Fabrik. Die Schwester Franziska verheiratete sich mit einem Einheimischen und gab ihre katholische Religion auf. »Stadtluft macht frei«, hieß es schon im Mittelalter. Der Fabrikalltag in der Stadt war zwar auch entbehrungsreich, aber das Arbeitsverhältnis war doch versachlicht. Der Fabrikherr regierte nicht mehr – wie noch der Gutsherr – in alle persönlichen Lebensbereiche hinein. Der Lohn war besser, eine Entlohnung in Naturalien gab es nur im Ausnahmefall.

Auch mein Großvater blieb in Einbeck. Er lernte ein Mädchen aus der Region kennen: die Dienstmagd Johanne, Tochter eines Salzsieders. Als Johanne bereits im siebenten Monat schwanger war, heirateten sie christlich in der evangelischen Einbecker Münsterkirche, obwohl mein Großvater von Haus aus katholisch war und die Pfaffen bis aufs Blut hasste, weil sie ihm schon als Kind den Rücken blau geprügelt hatten. Johanne brachte ihr nicht eheliches Kind mit in die Ehe: den kleinen Albert, der damals zweieinhalb Jahre alt war. 35 Jahre später wurde er als Kommunist von den Nazis ins KZ verschleppt.

Antiwilhelminische Gegenwelt

Einbeck hatte sich Ende des 19. Jahrhundert zu einer aufstrebenden Industriestadt entwickelt. Mit den Fabriken kam auch die Sozialdemokratie, die bald zum Staatsfeind Nummer 1 wurde. Den sozialdemokratischen Kräften war es gelungen zu einer Massenbewegung anzuwachsen. Das verdankte sich unaufhörlicher Agitation und einer schlagkräftigen Organisation. Zwischen 1890 und 1900 hatte sich die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder mehr als verdreifacht. 1914 hatten die freien Gewerkschaften bereits über zwei Millionen Mitglieder. Geschenkt wurde ihnen nichts: Jede kleine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Löhne, des Jugend- und Mutterschutzes musste mühsam erkämpft werden, – gegen Regierungen, Polizei, Unternehmer, Kirchen und die herrschende Meinung.

Alles, was in der wilhelminischen Gesellschaft mit dem proletarischen Wohnküchengeruch behaftet war, wurde ausgegrenzt. Aber die Arbeiterklasse entfaltete ihre eigene Kultur. Neben einer Zunahme der gewerkschaftlichen Organisationen entstanden zahlreiche Vereine innerhalb des proletarischen Lebenszusammenhangs. In Einbeck wurde ein Turnverein, ein Radfahrerverein, ein Theaterverein, ein Konsum-Verein und ein Frauenbildungsverein ins Leben gerufen. Wenn in jenen Jahren von der Sozialdemokratie oder von sozialdemokratischen Umtrieben die Rede war, so ist stets dieses ganze Spektrum der antiwilhelminischen Gegenwelt gemeint. Eine Arbeiterfamilie, die in jener Zeit etwas auf sich hielt, war im Konsum, im Turnclub Eintracht, in der jeweiligen Gewerkschaft, in der SPD, später vielleicht noch im Feuerbestattungsverein oder im Freidenkerverband. Diese Gegenwelt machte die soziale Misere erträglich, milderte manche Not und führte vor, dass mit Zusammenschluss und Solidarität Schritt für Schritt auch im Kaiserreich einiges zu erreichen war.

Die örtlichen Pfarrer, die regelmäßig Berichte an ihre vorgesetzte Kirchenbehörde zu schreiben hatten, sahen die Verhältnisse in der arbeitenden Bevölkerung allerdings äußerst kritisch: »Die Kindererziehung ist namentlich in der Arbeiterschaft meist schlecht. Die Leute heiraten in einem Alter, wo sie selbst noch der Erziehung bedürfen. Die Mütter gehen in die Fabrik und die Kinder liegen auf der Straße.« Zwar wetterten die Pfarrer gegen die voreheliche Sexualität, gegen die vielen nicht ehelichen Geburten, gegen »wilde Ehen« und die Vermieter, die solche Verhältnisse duldeten. Trotz allen Gezeters um den Niedergang der Sittlichkeit hatte das expandierende wilhelminische Kaiserreich aber ein immenses Interesse an einer steigenden Geburtenrate. »Volkreichtum«, das hieß billige Arbeitskräfte und Soldaten – für den deutschen Imperialismus ein unverzichtbares Ziel der Innenpolitik.

Tod durch Abtreibung

Kenntnisse über die Verhütung von Schwangerschaften waren dem Volk gründlich aus dem Gedächtnis getilgt worden. Selbstverständlich fielen Informationen zur Empfängnisverhütung unter das verbotene Schrifttum. Reihenweise wurden Menschen verurteilt, die Schriften zur Geburtenkontrolle unters Volk gebracht hatten, – so ein Göttinger Zigarrenhändler, der in seinem Laden Broschüren mit dem Titel »Wie schütze ich mich vor starkem Familienzuwachs?« verkauft oder ein Redakteur, weil er ein Buch über Mittel zur Schwangerschaftsverhütung wohlwollend besprochen hatte. Der wilhelminische Staat reagierte gereizt auf alles, was im Verdacht stand, zu einem Sinken der Geburtenrate beitragen zu können. Der Justizminister wies in einem Rundschreiben an seine Oberstaatsanwälte 1913 ausdrücklich darauf hin, dass gegen den Vertrieb empfängnisverhütender Mittel mit größtem Nachdruck einzuschreiten sei. »Volkreichtum«, das bedeutete für die Unterschichten, einen unaufhörlichen Kinder-»Segen«. Die besitzenden Klassen kannten Mittel und Wege, ihre Kinderschar kleinzuhalten.

Auch die junge Familie meines schlesischen Großvaters wuchs allzu schnell. Der kleine Albert, den seine Frau Johanne bereits mit in die Ehe gebracht hatte, war noch keine drei Jahre alt, da wurde Auguste geboren; kaum zwei Jahre später kam Alma zur Welt, die dann bereits im Kindesalter starb; im Oktober 1909 wurde Elisabeth geboren und im September 1910 Sohn Karl, der in einem der nächsten großen Kriege 32jährig sein Leben für das Vaterland lassen durfte.

Als Johanne aufs Neue schwanger wurde, nahm sie im Dezember 1913 Zuflucht zu einer Abtreiberin – in dieser Zeit die wohl einzige Möglichkeit für proletarische Frauen, dem Kinderreichtum und damit der fortschreitenden Verelendung entgegenzusteuern. Nach dem damaligen Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches war Abtreibung ein Verbrechen, das schwer bestraft wurde: mit Zuchthausstrafen. Dennoch wurden jährlich Hunderttausende von Abtreibungen vorgenommen, nach vorsichtigen Schätzungen 500.000. Unter blumigen Formulierungen finden sich karge Hinweise in den zeitgenössischen Zeitungen, wenn eine Frau wieder einmal wegen des »Verbrechens gegen das keimende Leben« verurteilt wurde. Die über sie zu Gericht Sitzenden waren stets Männer. Das Schwurgericht bestand aus wohlhabenden, saturierten Bürgern: Fabrikbesitzern, Offizieren, Gutsbesitzern, Professoren.

Die Frau meines Großvaters überlebte den Eingriff nicht: Johanne starb am 6. Dezember 1913, kurz vor ihrem 33. Geburtstag in der Göttinger Universitätsklinik, wohin man sie über holprige Straßen mit dem Pferdefuhrwerk gebracht hatte. Im Einbecker Lokalblättchen stand es allerdings ganz anders: »Beim Holztragen aus dem Walde stürzte während des Ausruhens der Ehefrau des Arbeiters Franz Bieniek die beladene Kiepe so unglücklich kopfüber, dass die Frau beim Fallen innere Verletzungen erlitt und schon nach einigen Tagen in der Klinik zu Göttingen starb.« Das war der Stil der Zeit, mit Tabus umzugehen: Nur nicht an den zum Himmel schreienden Verhältnissen rütteln.

Die Sache hatte noch ein gerichtliches Nachspiel. Die Einbeckerin, die den Eingriff vorgenommen hatte, soll verurteilt worden sein. Aber darüber war in den Archiven nichts mehr zu finden. Prozessakten dieser Art, an Hand derer man große Teile der Sozialgeschichte würde aufrollen können, galten den Archivaren wohl als bedeutungslos.

Der Krieg kommt

Da stand er nun da, mein verwitweter Großvater, 37 Jahre alt, mit vier halbwüchsigen Kindern. In der Todesanzeige für seine junge Frau dankte er besonders den »Arbeitskollegen und -kolleginnen«, nicht etwa einem Pfarrer, ohne den eine Beerdigung zur damaligen Zeit in der Provinz wohl kaum möglich war. Fürs erste halfen vermutlich Nachbarn und Verwandte.

Indes hatte sich in der Sozialdemokratie allmählich ein Wandel vollzogen. Friedrich Ebert, der 1905 Sekretär des Parteivorstandes wurde und als junger Mann noch die Illegalität seiner Partei unter dem Sozialistengesetz erlebt hatte, verkörperte einen neuen Typus innerhalb der Partei: Er war fest entschlossen, nie mehr die gesetzliche Existenz der Sozialdemokratie zu gefährden, nichts mehr im Geheimen zu betreiben, kurz, die Zeit der revolutionären Verschwörung zu beenden und nur noch parlamentarisch-demokratische Ziele mit ebensolchen Mitteln anzustreben. Damit einher ging die Vorstellung von einem friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus, die früheren Theoretikern des Sozialismus wie Marx, Engels oder Bebel widersprach.

Und mein Großvater? Vermutlich hatte er andere Sorgen mit seinen vier mutterlosen Kindern, als sich um Politik zu kümmern. Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war er nicht, obwohl er Gewerkschaftsmitglied war und – soweit ich weiß – immer sozialdemokratisch gewählt hat. Aber 1914 wird wohl sein vorrangiges Problem gewesen sein, wieder eine Frau ins Haus zu bekommen.

Und tatsächlich, vier Monate nach dem tragischen Tod seiner ersten Frau, war er wieder verheiratet.

Wie diese Ehe zustande gekommen ist, ist mir nur bruchstückhaft bekannt. Seine zweite Frau, Marie Helene, meine Großmutter, war bei ihrer Heirat bereits 27 Jahre alt, für damalige Verhältnisse also ein sogenanntes spätes Mädchen und brachte ihre eigene Tragik mit. Sie soll als junges Mädchen mit einem Offizier verlobt gewesen sein, der an der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China teilgenommen hatte. Aus dieser Ära existierte in unserer Familie noch lange Zeit ein rot-violetter Schal aus chinesischer Seide. Aus der Hochzeit aber wurde nichts, weil der Verlobte aus familiären Rücksichten seine Kusine heiratete. So jedenfalls wurde es kolportiert. Marie Helene soll aus Wut und Verzweiflung darüber ihr schon fertig gestelltes Brautkleid mit der Schere zerschnitten haben. Dann ehelichte sie 1914 kurzerhand den verwitweten Arbeiter Franz Bieniek mit seinen vier heranwachsenden Kindern, das älteste zwölf, das jüngste drei Jahre alt.

Wenige Monate später war Krieg. Auch mein Großvater wurde Soldat. In Einbeck kam das sozialdemokratische Leben zum Erliegen. Die meisten Männer waren als Soldaten im Krieg, das Vereinsleben ruhte.

Die Sozialdemokratische Partei hatte sich Jahrzehnte lang den Kriegsgelüsten des Deutschen Reiches unter der Losung »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen« verweigert. Aber 1914 stimmte sie im Reichstag für des Kaisers Kriegskredite. Auch wenn in sozialdemokratischen Zeitungen nichts von Kriegsbegeisterung zu lesen war, so hieß es doch bei der Mehrzahl der Sozialdemokraten: Wir dürfen das Vaterland, wenn es in Not ist, nicht im Stich lassen.

1918 war es mit dem Imperialen Gehabe des Kaiserreiches vorbei. Endlich empörten sich die Volksmassen, es kam zur Revolution. In den Novembertagen des Jahres 1918 sahen die meisten Menschen wohl voll Erwartung und Hoffnung in die Zukunft. Immerhin war der Krieg beendet. Aber war es wirklich ein Umsturz, der sich da vollzog?

Kein Fürstenvermögen wurde angetastet, der Großgrundbesitz nicht enteignet, Kriegsgewinnler nicht zur Rechenschaft gezogen, Banken nicht verstaatlicht, kein kaiserlicher General musste sich wegen Menschenschinderei verantworten. Und: Die gesamte Verwaltung des wilhelminischen Obrigkeitsstaates blieb erhalten.

Und mein schlesischer Großvater? Die Kinder Albert, Auguste, Elisabeth und Karl waren inzwischen fast erwachsen. Mit seiner zweiten Frau kam 1919 nochmals ein Kind zur Welt: meine Mutter Henriette. Damit hatte der Kindersegen ein Ende. Die Zeiten waren schlecht. Man war froh, wenn man nicht so viele Mäuler zu stopfen hatte.

Franz Bieniek verstand mit Pferden umzugehen. Er verdiente sein Geld als Kutscher und Kohlenträger bei einer Kohlenhandlung. Körperliche Schwerarbeit und karge Lebensumstände war er gewohnt. Ab und zu stopfte er sich ein Pfeifchen und war wohl soweit ganz zufrieden mit seinem Leben. Die Standesunterschiede waren für ihn unangetastet; ich wüsste nicht, dass er sich jemals dagegen empört hätte. Ein Fest war es, wenn er vor Weihnachten zu vornehmen Einbecker Familien Kohlen brachte und vom Hausherrn die übers ganze Jahr gesammelten Zigarrenabschnitte für die Pfeife geschenkt bekam.

Das älteste der Kinder, Albert, hatte nach der Volksschule eine Lehre als Kaufmannsgehilfe gemacht, verließ früh das Elternhaus und ging nach Kolberg. Auguste und Elisabeth wurden als junge Mädchen in den 1920er Jahren zu Verwandten in die Magdeburger Gegend gegeben und arbeiteten in einer Schuhfabrik. Karl, der Jüngste, machte ebenfalls eine kaufmännische Lehre und ging später nach Braunschweig. So war nur noch die jüngste Tochter im Haus, was die gravierende Armut der Familie wohl milderte. Irgendwie schafften es meine Großeltern sogar, sich in der neu entstehenden Siedlung im Norden der Stadt, Ende der 1920er Jahre, unter erheblicher Selbsthilfe ein Haus zu bauen; die Tatkraft meiner energischen Großmutter war da wohl kaum zu unterschätzen.

Die Siedlung am Rand

Ein Zimmermann und SPD-Bürgervorsteher hatte 1921 mit Kollegen die Siedlungsgenossenschaft Eigenheim gegründet. Die Stadt unterstützte das Projekt nach Kräften. Bis 1928 hatten 96 Familien mit nahezu 400 Angehörigen in dem völlig neu entstandenen Stadtviertel Doppelhäuser errichtet. Es waren kleine Häuschen mit Stallgebäude und Plumpsklo. Die Kanalisation kam erst nach 1945.

In der Siedlung wohnten fast ausschließlich Arbeiterfamilien, also Sozialdemokraten und Kommunisten. Sie wurde deshalb das Rote Dorf genannt. Die Nachbarschaft war gut; man hatte eine ähnliche Weltsicht, es galten proletarische Alltagstugenden, man half sich gegenseitig. Nur die Kirche blickte mit einer Mischung aus christlicher Sorge und Argwohn auf dieses neue Gebilde. 1930 schrieb der Einbecker Superintendent: »Besonders groß ist die Gefahr der Entfremdung von der Kirche in der außerhalb der Stadt gelegenen neuen Siedlung, deren Bewohner größtenteils unter dem geistigen Einfluss der Sozialdemokratie stehen und sich von der Kirche fast ganz fern halten. Hier hat auch die Propaganda zum Kirchenaustritt den günstigsten Boden gefunden.« Schon Anfang der 1920er Jahre tadelte ein kirchlicher Visitationsbericht, dass sich die Mehrzahl der Jugend der Sozialdemokratie gewandt habe; nun schien sich ein ganzer Stadtteil dem kirchlichen Einfluss zu entziehen.

Ein Häuschen, ein Schwein im Stall, ein Stück Land für Korn und Kartoffeln – so konnte man leben. Und wenn man sich tadelloser Lebensführung befleißigte, hatte man sein Auskommen. Für kritische Reflexionen fehlte nach einem harten Arbeitstag die Muße, die Bildung, der Abstand. Innerhalb der Familien herrschten wie fast überall in der Gesellschaft patriarchalische Gewaltverhältnisse, wie man sie vom Arbeitsplatz kannte und wie sie nicht anders vorstellbar waren. Auguste Jünemann, seit 1929 SPD-Bürgervorsteherin und in den 1960er Jahren Bürgermeisterin Einbecks, erinnerte sich im Alter, dass sie als junge Frau von ihrem Schwiegervater als SPD-Mitglied angemeldet wurde, – ohne dass sie jemals dazu gefragt worden wäre. Auch im Arbeitermilieu musste man erst mühsam lernen, weibliche Selbstbestimmungsrechte zu respektieren.

Solange aber die gesellschaftlichen Verhältnisse einem noch die bescheidenste Existenz ermöglichten, musste man nicht radikal werden. Das Leben in der Siedlung war allemal besser, denn als Berufsrevolutionär durchs Land gehetzt zu werden, – eine Rechnung, die freilich nicht aufging. Denn der Preis war hoch: zwölf Jahre Faschismus und ein weiterer Weltkrieg mit sechzig Millionen Toten. Erst aus der historischen Distanz tritt der Zusammenhang zwischen abgewürgter Revolution von 1918/19 und faschistischer Machtübergabe 1933 allzu deutlich hervor.

Mein Großvater hatte ein entbehrungsreiches Dasein, hatte das Kaiserreich, die Republik, den Faschismus und zwei Weltkriege durchlebt, vier seiner Kinder waren bereits gestorben. 1946 war er müde. Er starb noch nicht 70jährig in seinem Haus im Roten Dorf.

Die geschilderten Begebenheiten sind genauer beschrieben und mit umfangreichen Quellenverweisen versehen in: Christine Wittrock: Idylle und Abgründe. Die Geschichte der Stadt Einbeck mit dem Blick von unten 1900–1950. Pahl-Rugen­stein-Verlag, Bonn 2012

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