Schlachtfeld Deutschland
Von Christian Stappenbeck
Das Manöver »Freibrief« (»Carte Blanche«) war das erste Manöver der NATO nach dem Beitritt der Bundesrepublik. Es fand im Juni 1955 statt, als größte Militärübung des Jahrzehnts. Das Planspiel simulierte einen Krieg zwischen dem bösen Nordland und dem Südland. Die Planer hatten sich tatsächlich einen Freibrief für den Nuklearkrieg ausgestellt. Von 335 fiktiven »taktischen« Atombomben, die auf Freund und Feind abgeworfen wurden, trafen 268 deutsches Territorium. Deutschland war das Schlachtfeld. Dabei hatte der westdeutsche Kanzler Konrad Adenauer noch vor dem Beitritt im Bundestag vollmundig erklärt: »Solange wir nicht zur NATO gehören, sind wir im Fall eines Krieges zwischen Sowjetrussland und den Vereinigten Staaten das Schlachtfeld, und wenn wir in der Atlantikpakt-Organisation sind, dann sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr.«
Die Bonner Kabinettsprotokolle vermerkten in Auswertung von »Carte Blanche«, das Ganze sei militärisch ein »großer Erfolg« gewesen. Bonner Amtsstellen drängten aber die NATO, Details über die errechneten zivilen Opfer in den beiden deutschen Staaten (1,7 Millionen Tote) besser geheimzuhalten.
Der Autor Jonas Tögel hat in seinem jüngsten Buch dieses und andere Szenarien für einen Krieg gegen die Sowjetunion bzw. Russland von 1945 bis 2024 untersucht, angefangen bei Winston Churchills Operation »Unthinkable«: Der Plan für einen Angriff auf die Rote Armee in Mitteleuropa im Sommer 1945, für den auch deutsche Truppen eingesetzt werden sollten. Die Existenz dieses Plans wurde erst 1998 offiziell eingeräumt.
Tögel leitet sein Buch mit einem Verweis auf die Theorie vom »Herzland« Eurasiens – gemeint ist das europäische Russland samt Ukraine mit Westsibirien und Mittelasien – ein. Nach jener nicht ganz einleuchtenden Theorie ist diese Region geopolitisch von entscheidender Bedeutung. Der Autor meint, dass die Herzlandtheorie bis heute die USA-Politik bestimmt. Sie liefere »ein Kontextverständnis für die Szenarien« der behandelten Manöver.
Alle Planspiele der NATO seit 1949 setzten eine Konstellation stillschweigend voraus (was im Buch so nicht steht): Russland greift »den Westen« an, weil es erobern will. Zutreffend war diese Annahme nie. Erinnert sei nur an die sogenannte Stalinnote von 1952, die die Chance eines neutralen Staatengürtels von Finnland über Schweden, die Schweiz, Österreich bis Jugoslawien mit einem blockfreien Deutschland in der Mitte eröffnete. Sehr zum Ärger Adenauers. Damals schon verfasste ein konservativer Diplomat alter Schule eine Denkschrift: Die militärische Bedrohung durch Russland sei »Propaganda des Westens«, wohlüberlegt entfacht und zweckdienlich gesteuert. Die Politik Moskaus sei »vornehmlich defensiv«, schrieb er. Richard Meyer von Achenbach entwarf zudem ein Sicherheitskonzept für Europa. Vergeblich – über drei Jahrzehnte lag seine Denkschrift im Tresor. Die »Atlantiker« erreichten mit der Bedrohungslegende die endgültige NATO-Bindung Westdeutschlands.
Erst in den 80er Jahren hielt eine gewisse Flexibilität Einzug. Tögel erinnert daran, dass 1989 am achten Tag der Übung »Wintex-Cimex« Bundeskanzler Helmut Kohl eingriff, als der deutsche Vertreter, Staatssekretär Willy Wimmer, den nuklearen Angriffsbefehl gegen Potsdam und Dresden geben sollte (»mit meiner Zustimmung passiert das nicht«). Minuten nach Wimmers Anruf beorderte der Kanzler die deutsche Delegation zurück. Anfragen zum möglichen »Abwerfen von US-Atomwaffen in Deutschland« zur »Verteidigung des Bündnisgebiets« werden allerdings bis heute nicht beantwortet. Aus »Sicherheitsgründen«.
Im Schlussteil des schmalen Buches behandelt Tögel die »kognitive Kriegführung« (NATO-Vokabel) bzw. »reflexive Kontrolle« (russisches Pendant), wofür früher die Wörter Propaganda und psychologische Kriegführung standen. Eine zentrale Beobachtung des Autors ist, dass die »Falken« den russischen Invasionshunger als maximal groß darstellen, die Gefahr eines Nuklearkriegs jedoch paradoxerweise als ganz gering. Über die Folge einer atomaren Konfrontation, nämlich die gänzliche Zerstörung Deutschlands, wird öffentlich lieber nicht gesprochen.
Jonas Tögel: Kriegsspiele. Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren. Westend, Neu-Isenburg 2025, 112 Seiten, 15,50 Euro
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (25. Mai 2025 um 21:32 Uhr)»Über (…) die gänzliche Zerstörung Deutschlands, wird öffentlich lieber nicht gesprochen.« Heute nicht mehr. In den Achtzigern aber auf jeder Antistationierungsdemo schon: »Besuchen Sie Europa (solange es noch steht)«, nicht nur von Geier Sturzflug: »Vor dem alten Kölner Dom steigt ein Atompilz in die Luft – Und der Himmel ist erfüllt von Neutronenwaffelduft – Wenn in Paris der Eiffelturm zum letzten Gruß sich westwärts neigt - Und in der Nähe von Big Ben sich zartes Alpenglühen zeigt«. Also, Leute, in die Hände gespuckt und steigert das rüstungskeynesianische Bruttsozialprodukt!
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