Gegen Dogmen anschreiben
Von Peter Kremer
Im Jahre 1972 veröffentlichte der Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums«. Die wissenschaftlich formulierten Zweifel am herrschenden Wachstumsmodell brachten zum Ausdruck, dass die ökologische Tragfähigkeit der Erde an ihre Grenzen gelangt ist. Zudem hatte der Ölpreisschock von 1973 gezeigt, wie anfällig unser Wirtschaftsmodell ist. In der BRD wurde damals vor allem befürchtet, dass es aufgrund der natürlichen Grenzen wirtschaftlichen Wachstums auch mit dem Wohlstand bald vorbei sein könnte. Bereits mit dem Beginn des Zechensterbens in den späten fünfziger Jahren kamen Zweifel am Fortbestand des westdeutschen Wirtschaftswunders auf. Spätestens mit der ersten spürbaren Nachkriegsrezession von 1966/67 wurden die Befürchtungen zur Realität. Der Ordoliberalismus des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard mit dem Credo »Wohlstand für alle« und dem »zahnlosen« Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (»Kartellgesetz«) von 1957 war am Ende.
Es folgte die kurze Blüte der keynesianisch inspirierten Globalsteuerung des sozialdemokratischen Wirtschaftsministers Karl Schiller (1966–1972), der ab 1971 zusätzlich das Finanzministerium erhielt und kurzfristig ein »Superministerium« innehatte. Er hat wesentlich am Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft des Jahres 1967 mitgewirkt. Er wurde 1972 vom späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt abgelöst. In den folgenden Jahrzehnten gelang es selbst in Wachstumsperioden nicht mehr, Vollbeschäftigung herzustellen, Verarmungstendenzen zu vermeiden und den Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften zu verhindern. Angesichts der Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung galt die Formel »Wirtschaftliches Wachstum = Wohlstand für alle« eigentlich noch nie so richtig. Aber spätestens mit der schweren zyklischen Wirtschaftskrise von 1973 bis 1975 war diese Formel praktisch widerlegt und das »goldene Zeitalter« an seinem Ende angelangt.
In der Wirtschaftswissenschaft hatte Mitte der 1970er Jahre die »keynesianische Revolution« ihren Zenit bereits überschritten und sah sich einer »monetaristischen Konterrevolution« gegenüber. Ihr prominenter Vertreter, Milton Friedman – unter anderem als Berater der chilenischen Militärjunta tätig –, erhielt 1976 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft, nachdem bereits 1974 Friedrich August von Hayek diese Ehre zuteil geworden war. Das waren für mich und viele andere linksorientierte Studierende damals entmutigende Signale. Dabei waren wir von der keynesianischen Globalsteuerung mit ihren indirekten Impulsen auch nicht gerade begeistert. Uns erschienen im Sinne der grundgesetzlichen Sozialbindung des Eigentums direkte Preiskontrollen bei marktbeherrschenden Unternehmen und eine imperative Investitionslenkung deutlich sinnvoller. Aber im offiziellen Studienbetrieb des wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichs meiner Gesamthochschule kamen wirkliche Alternativen zur Kapitallogik kaum bis gar nicht vor. Es herrschte der Markt und es diente der Staat.
Vom Grundgesetz abgedeckt
Mit dem am 4. November 1975 in Bonn vorgelegten Memorandum »Für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik«¹ stand etwas Neues zur Verfügung. Der auch »Memorandum-Gruppe« genannte Zusammenschluss von Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zur »Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik« formulierte darin eine nicht kapitalorientierte Alternative zu den Veröffentlichungen der etablierten Sachverständigen (vor allem des mittlerweile sehr einseitigen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, populär auch als die »Fünf Wirtschaftsweisen« bezeichnet) und der herrschenden Wirtschaftswissenschaft. In den folgenden Jahren etablierte sich für die Memoranden daher auch der Begriff »Gegengutachten«.
Vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit, Inflation und Sozialabbau wurde die Geschäftsgrundlage in diesem ersten Memorandum wie folgt formuliert: »Innerhalb der Wirtschafts- und Rechtsordnung der Bundesrepublik sind wirksame und soziale Alternativen zur praktizierten Wirtschaftspolitik gangbar, sobald das Dogma der unternehmerischen Dispositionsautonomie und das daraus abgeleitete Gebot der Beschränkung staatlicher Wirtschaftspolitik auf Globalsteuerung und indirekte Lenkung zurückgewiesen wird. Statt dessen hat eine präzisere Zweckbindung wirtschaftspolitischer Maßnahmen auch gegenüber den privaten Unternehmen stattzufinden. Gerade die gegenwärtig sich verschlechternde materielle Situation für weite Bevölkerungskreise erfordert, dass die Regierung verstärkt auf der verfassungsrechtlich gebotenen Sozialbindung des Privateigentums an Produktionsmitteln insistiert und Maßnahmen zur Realisierung dieser Sozialbindung ergreift.«
Bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte 1954 festgestellt, »dass das Grundgesetz weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde, soziale Marktwirtschaft garantiere«. Darüber hinaus wurde 1971 im Mitbestimmungsurteil des BVerfG konstatiert, dass das Grundgesetz »keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung« enthalte.
Mitbestimmung, Demokratisierung der Wirtschaft und staatliche Eingriffe in die ökonomischen Prozesse – wie sie das Memorandum vorsieht – sind vom Grundgesetz eindeutig abgedeckt. Hier ist die relative Offenheit der ökonomischen und politischen Perspektive Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkrieges noch erkennbar; selbst das Ahlener Programm der CDU von 1947 atmete diesen Geist. Die reale Geschichte ist jedoch die der Restauration der politökonomischen Grundlagen des Kapitalismus.
Die Geschäftsgrundlage des Memorandums umfasst jedoch noch einen anderen Aspekt: »Kurzfristig realisierbare Alternativen einer wirksamen und sozialen Politik zur Bekämpfung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise bestehen weder in der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln noch in einer Aufhebung des Marktes als Steuerungs- und Koordinationsmechanismus der wirtschaftlichen Aktivität.« Das Instrument der Vergesellschaftung wird nicht grundsätzlich abgelehnt, aber als ultima ratio betrachtet. Der Kerninhalt des Memorandums von 1975 und aller folgenden Memoranden lässt sich wie folgt umreißen:
1. Zentrales Thema war und ist die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Eine staatliche Wirtschaftspolitik der Profitanreize hilft hier nicht. Rationalisierung und Finanzspekulation widerlegen die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt 1974 popularisierte These, derzufolge die Gewinne von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen seien. Vielmehr kommt der Verkürzung der Arbeitszeit eine herausragende Bedeutung zu.
2. Auch den Einkommen der abhängig Beschäftigten gilt ein Hauptaugenmerk: Die »Gegengutachten« betrachten diese als wesentlichen Faktor kaufkräftiger Nachfrage und somit als stützenden Faktor wirtschaftlicher Entwicklung und nicht einseitig als einen die Unternehmensprofite belastenden Kostenfaktor. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Profite erst sinken, wenn die Lohnsteigerungen die Summe aus Inflationsrate und Produktivitätsfortschritt überschreiten. Liegt die Lohnentwicklung darunter, kommt es zu weiterer Umverteilung zugunsten der Unternehmensgewinne.
3. Angesichts der extrem ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung, einer enormen Kapital- und Machtkonzentration in der Wirtschaft sowie wachsender Ungleichheit und Spaltung der Gesellschaft wird immer wieder die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit gestellt und eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und großer Vermögen gefordert.
4. Weitere Finanzierungsquellen einer wirksamen und sozialen Wirtschaftspolitik werden in einer durch militärische Abrüstung möglichen Senkung der Rüstungsausgaben sowie in der Abschaffung bzw. Reform der »Schuldenbremse« gesehen. Bei der staatlichen Kreditaufnahme komme es darauf an, wofür der Kredit verwendet wird, zu welchen Bedingungen er aufgenommen wird und welches öffentliche Vermögen den staatlichen Verbindlichkeiten gegenübersteht. Nichts spricht gemäß der »Goldenen Regel« der Finanzpolitik gegen eine staatliche Kreditaufnahme zur Finanzierung von Investitionen in die öffentliche Infrastruktur.
5. Die Alternative, die von der Memorandum-Gruppe präsentiert wird, besteht in einem öffentlichen Ausgaben- und Investitionsprogramm zur Beseitigung konjunktureller und struktureller Defizite sowie zur Entwicklung wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Zukunftsfelder. Dieses Programm wurde im Laufe der Jahre immer differenzierter und umfangreicher. Das Ziel dieses Programms wurde zunächst mit der Kategorie des qualitativen Wachstums umschrieben.
Mehrfachkrise der Gegenwart
»Mehr Demokratie – Weniger Kapitalmacht«, so lautet das Motto des aktuell vorgelegten Memorandums der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.² Ein einleitender Rückblick spannt den Bogen von der neoliberalen Wende der zweiten Hälfte der 1970er Jahre über den Zusammenbruch der realsozialistischen Länder, der »Agenda 2010« sowie der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 bis zur Gegenwart der Mehrfachkrisen. Mit der Coronapandemie, dem Ukraine-Krieg, der Inflation, der Umweltkrise, dem Erstarken der politischen Rechten und der wirtschaftlichen Stagnation werden die wesentlichen Elemente der seit einigen Jahren herrschenden Mehrfachkrise benannt.
Die Forderungen der »Gegengutachten« bestehen in ihrem Kern immer in dem »Dreiklang aus einem Ausbau (bzw. mindestens einem Erhalt) der sozialen Sicherungssysteme einschließlich verbesserter Regulierungen vor allem des Arbeitsmarktes, Arbeitszeitverkürzungen und einem Ausgaben- und Investitionsprogramm«. Die Frage nach dem Ertrag dieser Arbeit muss nüchtern konstatieren, dass insbesondere in bezug auf die Systeme der sozialen Sicherung immer wieder die gleichen falschen und kritikwürdigen Argumente in der medialen Öffentlichkeit dominieren, »aber das seit 50 Jahren beharrliche Eintreten der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik für eine Politik weg von der rein profitorientierten Wirtschaft hat die gesellschaftliche Entwicklung zweifelsohne positiv beeinflusst«. In den Debatten etwa um öffentliche Investitionsprogramme, um die »Schuldenbremse« sowie um die Vermögensverteilung und -besteuerung haben sich bemerkenswerte Verschiebungen ergeben. Selbst der Sachverständigenrat rückte in den letzten Jahren von seinem strikt neoliberalen Kurs zunehmend ab. Ein Indikator für diese Verschiebungen mag auch die gemeinsame Studie des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung und unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft zu den Erfordernissen eines Infrastrukturprogramms sein.³
Im Memorandum 2025 wird die Frage gestellt, ob wir am Beginn einer neuen ökonomischen Ära stehen. »Was sich (…) klar abzeichnet ist, dass die Überwindung des neoliberalen Weges nicht in eine solidarische und sozialere Gesellschaft der ökonomischen Vernunft führt, die sich nicht nur dem Profit von wenigen verpflichtet fühlt.« Mit Blick auf die USA wird formuliert: »Augenfällig ist das Bild eines nationalistischen und staatsinterventionistischen Oligarchenkapitalismus zu erkennen.« Mehr Demokratie und weniger Kapitalmacht erscheinen vor diesem Hintergrund mehr als wünschenswert. Interessanterweise verwendet der jüngste Bericht von Oxfam Deutschland aus Januar 2025 mit »Milliardärsmacht beschränken, Demokratie schützen« ein ähnliches programmatisches Motto wie die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.
Der zweite Teil des Memorandums 2025 formuliert auf der Grundlage einer ernüchternden Analyse Anforderungen an die Bundesregierung. Die wichtigsten Eckdaten: Seit 2019 ist das Bruttoinlandsprodukt hierzulande um magere 0,3 Prozent gewachsen. Der Wachstumsmotor Export funktioniert nicht mehr. Die Arbeitsproduktivität ist seit 2023 rückläufig. Es existiert in vielen Wirtschaftsbereichen ein erheblicher Fachkräftemangel. Die industriellen Investitionen entwickeln sich rückläufig. Die Verbraucherpreise werden im Zeitraum von 2021 bis 2025 um schätzungsweise 22 Prozent angestiegen sein. Aufgrund der Reallohn- und Kaufkraftverluste ist eine schwache Entwicklung des privaten Konsums zu verzeichnen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich diese Entwicklungen auch negativ in den Arbeitsmarktdaten niederschlagen. Die Höhenflüge des Dax müssen völlig losgelöst von der realen Wirtschaftslage des Standortes Deutschland betrachtet werden.
Aus dieser Lageeinschätzung ergeben sich für das Memorandum 2025 folgende Anforderungen an die Bundesregierung: öffentliche Infrastruktur sanieren, ökologische Katastrophe aufhalten, Fachkräftemangel begegnen, Digitalisierung vorantreiben, Bekämpfung der Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen, Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme sowie eine wirksame demokratische Mitwirkung in der Wirtschaft.
Ökologischer Umbau
Noch am 18. März 2025 hat der Deutsche Bundestag in alter Besetzung folgende Änderungen des Grundgesetzes beschlossen: Für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur wird ein auf zwölf Jahre angelegtes Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro gebildet. Hiervon sind jeweils 100 Milliarden Euro für die Bundesländer insgesamt sowie den Klimaschutz reserviert. Darüber hinaus dürfen die Bundesländer zukünftig wieder Kredite zur Finanzierung von Investitionen und konsumtiven Ausgaben aufnehmen. Diese sind allerdings auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Länder insgesamt begrenzt.
Es bleibt abzuwarten, ob es der neuen Bundesregierung gelingt, die marode Infrastruktur zu sanieren und das angestrebte Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. Angesichts des tagespolitischen Opportunismus ist zu vermuten, dass die Mittel nicht immer einer sachgerechten Verwendung zugeführt werden. Um die wirtschaftliche Stagnation zu überwinden, sieht der Koalitionsvertrag Erleichterungen für die Unternehmen vor: zusätzliche Abschreibungsmöglichkeiten, Senkung der Körperschaftsteuer, günstigere Energiepreise und Abbau von »Bürokratie«. Mit Blick auf eine gerechte Steuerpolitik heißt es in der Presseerklärung zum aktuellen Memorandum: »Was im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung völlig fehlt, sind Maßnahmen für ein gerechtes und aufkommensstarkes Steuersystem, mit dem z. B. die dringend benötigten Bildungsinvestitionen und Investitionen in die Daseinsvorsorge finanziert werden. Dazu gehört unbedingt eine Steuer auf leistungsloses Vermögen.«⁴
Der dritte Teil des Memorandum 2025 präsentiert sein Modell des ökologischen Umbaus. Dabei wird betont, dass sich ökologischer Umbau nicht in industrieller Transformation erschöpft. Hier wird Bezug auf das aktuelle Konzept von »Earth4All Deutschland«⁵ genommen. In dem 2022 erschienenen Bericht an den Club of Rome »Earth For All. Ein Survivalguide für unseren Planeten« bildet die Beendigung der globalen Armut, die Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, die Geschlechtergerechtigkeit, der Aufbau eines gesunden Nahrungsmittelsystems und der Übergang zum Einsatz sauberer Energie den Kanon der »fünf außerordentlichen Kehrtwenden für globale Gerechtigkeit auf einem gesunden Planeten«, die 50 Jahre nach den »Grenzen des Wachstums« im Mittelpunkt dieser Studie stehen. Die auf diesem Bericht aufbauende Initiative »Earth4All Deutschland« fügt diesen fünf Kehrtwenden mit der »Ressourcen- und Systemwende« bzw. »gleicher Zugang zu natürlichen Ressourcen« eine sechste hinzu.
Der vierte und abschließende Teil des Memorandums 2025 verweist auf die Aktualität der im Laufe der Jahre entwickelten und ausdifferenzierten Forderungen der Arbeitsgruppe. Im Vorjahr wurde die Mission alternativer Wirtschaftspolitik folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Aufgabe alternativer Wirtschaftspolitik ist es, Bedingungen aufzuzeigen, wie ökonomisch die Versorgung aller Menschen mit den Grundbedürfnissen Wohnraum, gute Ernährung, Kleidung, aber auch mit Bildung und Ausbildung, Mobilität und Teilhabe an Kultur in ausreichendem Maße sichergestellt werden kann. Dazu gehört auch ein Leben in sozialer Sicherheit, ohne Angst vor Arbeitslosigkeit, Armut, sozialer Ausgrenzung oder sozialem Abstieg.«⁶
Lücke in der Analyse
Angesichts des gigantischen militärischen Aufrüstungsprogramms der Bundesregierung muss es allerdings mehr als überraschen, dass es hierzu keine Aussagen in der Kurzfassung des aktuellen Memorandums gibt. Eine Analyse und Kritik der staatlichen Militärausgaben, der Entwicklung der deutschen Waffenexporte, der aktuellen Tendenzen zur Konversion ziviler in militärische Produktion, des Erstarkens des militärisch-industriellen Komplexes sowie der Konsequenzen für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik wären hier durchaus angezeigt gewesen. Statt dessen gibt es lediglich einen Verweis auf den »Rüstungs-Keynesianismus« der Reagan-Ära und den Hinweis, dass das »Bekenntnis zu weiterer Aufrüstung« die knappen Staatsfinanzen zusätzlich belaste. Ergänzend heißt es in der Presseerklärung zum aktuellen Memorandum: »Die Aufhebung der Schuldenbremse für Militär- und Sicherheitsausgaben über ein Prozent der aus dem Haushalt finanzierten Mittel hinaus zeigt, dass insgesamt den Rüstungsausgaben gegenüber etwa der Bildung und der Sicherung des Sozialsystems höchste Priorität eingeräumt wird. Kritisiert wird auch eine über die notwendige Verteidigung hinausgehende aggressive Rüstungspolitik, die vor allem der Expansion von Rüstungsexporten dient.«⁷
Von den Befürwortern militärischer Aufrüstung wird behauptet, dass es sich hierbei um eine Zukunftsinvestition in mehr Sicherheit handele. Die Produktion von Rüstungsgütern stellt – rein wirtschaftlich betrachtet – jedoch einen Wohlstandsverlust dar. Und ihr Einsatz zerstört – neben Menschenleben und Natur – den von Menschen geschaffenen Reichtum und ihre Produktionsmöglichkeiten. Rüstung ist nicht produktiv, geschweige denn nachhaltig.
Der sozialökonomische Kern des Wettrüstens besteht darin, dem Gegner so viel Rüstungsproduktion aufzuzwingen, dass er wirtschaftlich geschwächt wird. Die Gefahr besteht jedoch, selbst Opfer dieser Strategie zu werden. So schreibt schon der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul A. Samuelson: »Wenn man bereit ist, auf etwas Butter zu verzichten, kann man die Anzahl der produzierten Kanonen etwas erhöhen; wenn man auf noch mehr Butter verzichtet, kann man noch mehr Kanonen haben.«⁸ Dieser Satz steht in dem erfolgreichsten Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre. Dass dieser Vergleich auf Joseph Goebbels Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 zurückgeht, scheint Samuelson bei seiner Suche nach einem »originellen« Beispiel nicht weiter gestört zu haben.
Die europaweite Dimension, die der militärische Aufrüstungskurs mittlerweile angenommen hat, ist nicht nur Ausdruck der ans Hysterische grenzenden Absicht, den »Russischen Bären« nun doch noch erlegen oder zumindest in die Knie zu zwingen, sondern auch Grundlage des Irrglaubens an einen rüstungsinduzierten nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung. Dieser »Rüstungs-Keynesianismus« geht einher mit demokratischen Substanzverlusten und kann sich zudem auf den »Meister« selbst berufen. »Obschon ich sie (die Theorie der Produktion als Ganzes, P. K.) also mit Blick auf die in den angelsächsischen Ländern geltenden Verhältnisse ausgearbeitet habe (…), bleibt sie dennoch auf Zustände anwendbar, in denen die staatliche Führung ausgeprägter ist«, meint John Maynard Keynes im Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe der »Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes« aus dem Jahre 1936.⁹ Und noch unverblümter heißt es an selber Stelle, es könne »die Theorie der Produktion als Ganzes (…) viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepaßt werden«.
Der Zusammenhang von Aufrüstung, Sozialabbau und Entdemokratisierung hätte im Memorandum 2025 ein paar Zeilen verdient, zumal das diesjährige Motto »Mehr Demokratie – Weniger Kapitalmacht« geradezu dazu einlädt.
Dennoch gilt: Das Memorandum ist im Laufe der Jahrzehnte zu einer »Marke« geworden, mit gleichbleibend hoher Qualität, stetiger Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der inhaltlichen Positionen sowie einer hervorragenden Anschlussfähigkeit für politische und soziale Bewegungen. Dies gilt insbesondere für die Gewerkschaften. Es ist nicht zu bestreiten, dass das Memorandum den politökonomischen Diskurs qualitativ erweitert sowie Einfluss auf die Entwicklung von inhaltlichen Positionen zu einer wirksamen und sozialen Wirtschaftspolitik innerhalb und außerhalb des Parlamentes ausgeübt hat.
Anmerkungen
1 Memorandum von Wirtschaftswissenschaftlern »Für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik«, siehe: https://www.alternative-wirtschaftspolitik.de/de/article/387.memorandum-75.html. Dieses erste Memorandum umfasste vier Seiten und wurde von 41 Persönlichkeiten aus der Wirtschaftswissenschaft und aus dem Gewerkschaftsbereich unterzeichnet. Ab 1978 waren die Memoranden Bücher, jeweils zum 1. Mai wurden Kurzfassungen herausgegeben
2 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2025 »Mehr Demokratie – Weniger Kapitalmacht!«, Köln 2025. Ich beziehe mich hierbei auf die von rund 650 Persönlichkeiten durch Unterschrift unterstützte Kurzfassung des Memorandums im ersten Teil des Buches
4 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Presseerklärung zum Memorandum 2025 vom 28.4.2025
5 Earth4All Deutschland: Aufbruch in eine Zukunft für Alle. Wie wir soziale Gerechtigkeit und Klimakrise überzeugend lösen und Wohlstand erhalten, hg. vom Club of Rome und Wuppertaler Institut. München 2024; Sandrine Dixson-Declève u. a.: Earth For All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome. München 2022
6 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2024 »Schuldenbremse lösen: Auftakt zu gerechtem Klimaschutz«, Köln 2024, S. 49f.
7 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Presseerklärung zum Memorandum 2025 vom 28.4.2025
8 Paul A. Samuelson: Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung. 5., vollst. neu bearb. Aufl., Bd. I. Köln 1972, S. 40
9 John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Berlin 1936, S. IX
Zum 50jährigen Bestehen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und zur Vorlage des Memorandums 2025 wird am 28. Juni 2025 in Berlin eine Konferenz stattfinden
.Peter Kremer ist Diplom-Ökonom. Langjährige Tätigkeit in Weiterbildung, Kulturverwaltung und Organisationsentwicklung, nachberuflich gewerkschaftspolitisch aktiv und freiberuflich tätig.
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