Ausgebombt und ausgebeutet
Von Reinhard Lauterbach
Anna und Serhij Tkatschenko hatten sich in Myrnohrad im Westen des Donbass gerade ein Haus gekauft, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Sogar einen kleinen Rosengarten hatten sie angelegt. Dann zerstörte eine russische Fliegerbombe den Garten, und ihnen war klar, dass der nächste Einschlag schon das Haus selbst treffen könnte. Myrnohrad ist ein Vorort der inzwischen vor der Einschließung stehenden Stadt Pokrowsk. So flohen sie vor etwa einem Jahr nach Westen. Irgendwohin hinter den Dnipro. Dort leben sie jetzt in einem Dorf im Bezirk Kirowohrad, wo ein Reporter des englischsprachigen Portals BNE Intellinews sie ausfindig machte. Wie sie ihm berichteten, sind sie dort inzwischen zum zweiten Mal umgezogen. Jedesmal mieteten sie baufällige Häuser, die seit Jahren unbewohnt gewesen waren, und renovierten sie auf eigene Kosten. Bis der Vermieter plötzlich seinen Eigenbedarf entdeckte und sie auf die Straße setzte – ohne natürlich ihren Aufwand zu ersetzen. Jetzt wissen sie nicht, wo sie hin sollen, denn ihre Ersparnisse sind durch die Renovierungen aufgebraucht.
Solche Menschen gibt es viele. Auf vier Millionen Menschen – das sind zehn Prozent der Vorkriegsbevölkerung – schätzen die UNO, das Statistische Bundesamt und kirchliche Hilfsorganisationen übereinstimmend die Zahl der Ukrainer, die als Binnenflüchtlinge ihre bisherigen Wohnorte im Osten des Landes verlassen mussten. Allein in den vergangenen sechs Monaten sind weitere 200.000 dazugekommen. Sie sind nicht die Ukrainer, die in schicken SUVs durch Berlin kreuzen. Das sind Angehörige der oberen Mittelschicht, die es sich zu Kriegsbeginn leisten konnten, ins sichere Ausland zu gehen. Die Ärmeren waren darauf angewiesen, sich in Landesteilen weit weg von der Front eine Bleibe zu suchen. Meist auf eigene Faust, denn organisierte Hilfe gibt es kaum. Und wenn, dann ist sie so konstruiert, dass der am schlimmsten betroffene Personenkreis davon oft ausgeschlossen bleibt.
Ein Beispiel: Unterstützung für Binnenflüchtlinge gibt es dann, wenn der bisherige Wohnort von der Ukraine offiziell evakuiert worden ist. Ist jemand eigenständig gegangen, bekommt er nichts. Aus finanziellen Gründen ordnet die Kiewer Regierung die Evakuierung aber oft erst im letzten Moment an.
Noch ein Beispiel: Es gibt eine App, über die man Unterstützung beantragen kann, wenn die eigene Wohnung durch Kriegseinwirkungen beschädigt wurde. Das Programm funktioniert einigermaßen, aber nur im frontfernen Hinterland. Denn es setzt voraus, dass ein Sachverständiger den Schaden aufnimmt. Wessen früherer Wohnort aber im Frontgebiet liegt oder gar inzwischen von Russland besetzt wurde, geht leer aus, weil die ukrainischen Sachverständigen dort nicht hinfahren wollen oder können.
Im übrigen schlägt der ganz gewöhnliche Kapitalismus zu. Die Tkatschenkos waren ins Gebiet Kirowohrad gezogen, weil dort vor dem Krieg Häuser billig zu haben waren. Denn die ländlichen Regionen in der Ukraine hatten den Bevölkerungsschwund schon vor dem Krieg am stärksten gespürt; junge Leute zogen weg, die ehemaligen Kolchosen sind inzwischen mechanisiert und brauchen viel weniger Personal als früher. Es gab also viel Leerstand. Jetzt kehrt sich der Trend um, und die Hausbesitzer wittern ihre Chance. Kaufpreise und Mieten selbst für eigentlich unbewohnbare Bruchbuden steigen in eine Höhe, die sich viele Menschen, zumal im Rentenalter – oft mit Einkünften unter umgerechnet 100 Euro –, nicht leisten können. In Großstädten wie Lwiw sind Wohnungen selbst für die Mittelschicht unerschwinglich geworden. Das führt auch dazu, dass die ansässige Bevölkerung über den Zuzug aus dem Osten oft nicht begeistert ist. Sprachlich-kulturelle Ressentiments gegenüber Menschen, die vielleicht nicht das fehlerfreiste Ukrainisch sprechen, überlagern sich mit der objektiven Konkurrenzsituation.
Die Weltbank schätzt, dass allein der Wiederaufbau der kriegszerstörten Wohnsubstanz mehr als 80 Milliarden US-Dollar kosten wird; durch Korruption und Misswirtschaft werden es bestimmt mehr werden. Vor allem aber: Wer macht sich an den Wiederaufbau, solange der Krieg andauert?
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