Selbstgefällige Moralität
Von Ido Arad
Der neue Angriff auf Gaza, der nun ganz offen die brutale Kriegführung mit Plänen für eine ethnische Säuberung verknüpft, reißt israelische Liberale endlich aus ihrem Dornröschenschlaf. In diesen Kreisen ist von einer ungerechten und verbrecherischen Verlängerung eines unnötigen Krieges die Rede, die vor allem Benjamin Netanjahus innenpolitischen Intrigen dient und den extrem rechten Kräften mit ihrem Verlangen für einen rein jüdischen Staat in die Hände spielt.
Doch diese scheinbar positive Entwicklung trägt in sich ein stark revisionistisches Element. Diejenigen, die von Anfang an gegen die Zerstörung des Gazastreifens kämpften, fragen sich, worum es bei dieser neuen Empörung eigentlich geht. Tägliche Massaker, wiederkehrende Vertreibung und Binnenflucht innerhalb des Gazastreifens, die Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen, ja grundsätzlich jeder gesellschaftlichen Infrastruktur, das Auslöschen ganzer Familien – all dies war fünfzehn Monate lang die Realität der Palästinenser in Gaza, bis der Waffenstillstand eine kurze Atempause brachte. Das angeblich neue Element der ethnischen Säuberung hing schon lange wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf. Auch die immer weiter um sich greifende Hungersnot, die Israel zusehends als Druckmittel einsetzt, ist in Gaza seit langem ein vorherrschender Zustand. Die Empörung der genannten Liberalen folgt dem Zweck, die anderthalb Jahre dauernde Unterstützung und unmittelbare Beteiligung an den täglichen Kriegsverbrechen vergessen zu machen.
Kein Wunder, dass sich in Deutschland eine ähnliche Entwicklung abzeichnet. Je häufiger Israels Aktionen von deutschen Politikern und Medien kritisiert werden, desto deutlicher wird der darin liegende Hohn. Regierungspolitiker werden jetzt in Talkshows mit Bildern des völlig zerstörten Gaza konfrontiert und nach ihrer moralischen Bewertung gefragt. Doch diese Bilder sehen genauso aus wie die von vor einem Jahr. Damals waren auch schon Zehntausende palästinensische Frauen, Kinder und Männer gestorben, und Gaza war bereits einer der am meisten bombardierten Orte der jüngeren Geschichte. Die bedingungslose Unterstützung Israels durch die vorherige deutsche Regierung und vor allem die Geringschätzung palästinensischen Lebens, die hierzulande herrschte, soll nun, genau wie in Israel, im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft überschrieben werden.
Doch das Verbrechen hat nicht erst jetzt begonnen und hat auch nicht erst in letzter Zeit eine noch größere Grausamkeit erreicht. Gegen diesen Akt der Überschreibung, gegen die neu erfundene selbstgefällige Moralität, die das bröckelnde Selbstbild von einer modernen liberalen Gesellschaft ersetzen soll, steht das ununterbrochene und unermessliche Leid der Palästinenser in Gaza, das von diesem Versuch einer Umdichtung der Geschichte nicht beendet wird.
Ido Arad ist Dirigent aus Israel und Aktivist in der Palästina-Solidarität.
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